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Der Freier

09.09.2016

03.01.23

Von der Stagnation in den Krieg

Jahresrückblick 2022

Zum Jahresbeginn 2023 mag es so scheinen, als ob der Kapitalismus in eine seinem eigenen Wesen zuwiderlaufende Epoche eingetreten wäre. Legt man das Kapitalismusbild des Kommunistischen Manifests zugrunde, so war die historische Mission des Kapitals die Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte: das fortschreitende Verständnis der Natur und die Umsetzung dieses Verständnisses in immer größere technische Aggregate, die den Einsatz menschlicher Arbeitskraft im Produktionsprozess zunehmend überflüssig machen. Der Fortschritt der Produktivkräfte, der vom Kapital aggressiv betrieben wird, unterminiert aber dessen eigene Existenzbedingungen, ablesbar an den zunehmenden Wirtschaftskrisen:

In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion. … Die Produktivkräfte, die ihr (der bürgerlichen Gesellschaft) zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums. Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen.

Aus Sicht des Kommunistischen Manifests, das thematisch alle Kristentheorie im späteren Marxschen Werk vorweggreift, zeigt sich die Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Gesellschaft in der Überproduktion, die alle Produzenten zwingt, ihre Waren unter dem Wert zu verkaufen, bis die nicht mehr profitable Produktion schließlich stillgesetzt werden muss. Eine Situation nicht der Überproduktion sondern des Mangels, in der die Produktion eingestellt werden muss, nicht weil zu viel produziert wurde, sondern weil es dem Kapital an den notwendigen Vorprodukten, Rohstoffen, selbst Arbeitskräften mangelt, ist in den Marxschen Werken an keiner Stelle antizipiert.

Aus Sicht des Kapitals bedeuten stofflicher Mangel und steigende Preise keine Krise, sondern neue Anlagemöglichkeiten. Der Angebots- und Nachfragemechanismus bewirkt, dass vermehrt Kapital in Sektoren mit gestiegenen Preisen investiert wird, bis aufgrund der gestiegenen Produktion die Preise und daher die erzielbaren Profite wieder auf ihr Normalniveau zurückkehren. Legt man diese optimistische Ansicht zugrunde, so müssten der Mangel und die steigenden Preise für Energieträger, Nahrungsmittel, Bauststoffe, Computerchips und Kriegsgerät dazu führen, dass mehr Kapital in diese unterproduzierenden Sektoren fließt. Wir stünden nicht in einer Krise, sondern am Anfang einer neuen kapitalistischen Prosperitätsperiode.

Aber so ist es nicht. Überschüssiges, händeringend nach profitablen Anlagemöglichkeiten suchendes Geldkapital ist reichlich vorhanden, ablesbar an den seit 2009 niedrigen, zwischenzeitlich negativen Zinsen. Aber eine Neuinvestition von Kapital findet nicht statt, trotz steigender Preise, und wo sie stattfindet, verdankt sie sich staatlicher Planung und Finanzierung statt privatwirtschaftlichem Marktkalkül. Die bürgerliche Ökonomie bezeichnet diesen Zustand, in dem trotz steigender Preise keine Neuinvestition von Kapital stattfindet, als Stagflation. Während eine Nachfrage grundsätzlich vorhanden ist, kann keine Produktionserweiterung stattfinden, weil diese für das Kapital nicht profitabel wäre.

Der Grund für diese paradoxe Situation liegt darin, dass der gegenwärtige Mangel selbst gesellschaftliches Produkt ist. Er resultiert aus dem Zerfall der globalen Arbeitsteilung, der nicht erst durch die Reaktionen auf die Pandemie und den Ukrainekrieg begann, sondern seinen tatsächlichen Ausgangspunkt in der 2018 unter Trump begonnenen Abwendung der Weltführungsmacht USA vom Freihandel besitzt. Angesichts dessen, dass der Mangel und die künstliche Verteuerung sofort verschwinden würde, wenn der Welthandel wieder hergestellt würde, ist es für die Kapitale unsinnig, in zusätzliche, tatsächlich rückschrittliche – weil die Potenziale der internationalen Arbeitsteilung nicht ausnutzende – Produktionskapazitäten zu investieren.

Dass das Kapital weitere Investitionen trotz Mangel und Preissteigerung scheut, erklärt sich auch daraus, dass die dem Protektionismus, der Pandemie und dem Ukrainekrieg vorausgehende Periode von 2015 bis 2020 bereits alle Zeichen einer neuen weltweiten Überproduktionskrise hatte. Der Trumpsche Protektionismus, die Wirtschaftssanktionen und Zölle gegen China, z.T. auch gegen die EU, verbunden mit den begonnenen Truppenabzügen aus dem Irak und Afghanistan, war kein bloß populistisches Manöver, sondern motiviert durch die zunehmenden ökonomischen Schwierigkeiten des amerikanischen Kapitals auf dem Weltmarkt. Diese Schwierigkeiten waren aber keine besonderen des amerikanischen Kapitals, sondern drückten eine weltweite Überproduktion und Stagnation aus. Die Wachstumsraten der chinesischen Volkswirtschaft waren von den üblichen Werten um die 10 % während der 2000er-Jahre stetig auf den historischen Tiefstand von 6 % im Jahr 2019 gefallen. Im Herbst 2019, ein Vierteljahr vor der Coronapandemie, war das deutsche BIP-Wachstum auf exakt 0,0 % gesunken, eine Rezession für 2020 vorausgesagt, und Meldungen über anstehende Massenentlassungen in der Automobilindustrie erschienen im Wochenrhythmus. Die Reaktionen der Staaten auf die Coronapandemie standen bereits unter dem Vorzeichen des Protektionismus: Grenzschließungen, Einreiseverbote und nationale Rettungsprogramme anstelle der kapitalistisch prinzipiell ebenso rationalen Option, den Warenverkehr durch gemeinschaftliche Eindämmung an den internationalen Hotspots aufrecht zu erhalten. Am härtesten aber traf die beginnende Wirtschaftskrise die rohstoffproduzierenden Länder: zwischen 2011 und 2018 waren die Preise etwa für Eisenerz von 170 auf 70 US-Dollar je Tonne, für Rohöl von 100 auf 70 US-Dollar je Barrel. Staaten wie Russland, deren ökonomisches Überleben auf hohen Rohstoffpreisen beruhte, standen bereits vor Ausbruch der Coronapandemie mit dem Rücken zur Wand.

Die politischen Reaktionen auf die Krise waren überall ähnlich: gigantische staatliche Investitionsprojekte, mit denen der Preis der eigenen Waren auf dem Weltmarkt weiter gesenkt werden sollte. Die EU versuchte mittels ihres Projekts der sogenannten Energiewende, der Versorgung von Industrie und Haushalten mittels lokal aus regenerativen Quellen produzierter verbilligter Energie, dem EU-Kapital einen Standortvorteil zu verschaffen. China versuchte die Produktionskosten auf ähnliche Weise zu senken mit dem Projekt der Neuen Seidenstraße, die die Rohstoffe ganz Asiens durch ein Netz aus Schienen, Häfen und Pipelines in die chinesischen Industriestädte transferieren und die produzierten Waren auf dem umgekehrten Weg nach Europa expedieren sollte Beide Projekte sind notwendig imperialistisch, da sie zu ihrem Gelingen die wirtschaftliche und politische Kontrolle über eine Vielzahl von Erzeuger- und Transitländer voraussetzen. Russland schließlich, mit seiner auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähigen Industrieproduktion, versuchte mit der Eurasischen Wirtschaftsunion ein von ihm dominiertes Bündnis von Staaten an seiner Peripherie zu schaffen, um seinem durch Öl- und Gasverkäufe in den vergangenen Jahrzehnten angehäuften Kapital exklusive Absatzmärkte und Anlagesphären zu sichern.

Die Ukrainekrise war der Punkt, an dem die Krisenlösungsstrategien der kapitalistischen Staaten erstmals kollidierten. Russland brauchte die Ukraine, weil ohne sie das Projekt der Eurasischen Wirtschaftsunion bedeutungslos geworden wäre. Neben Belarus war die Ukraine der einzige der anvisierten Mitgliedsstaaten mit nennenswerter Industrieproduktion, vom Gesamtwirtschaftsvolumen hätte die Ukraine auf Platz drei hinter Russland und dem Erdölexporteuer Kasachstan gelegen. Die EU brauchte die Ukraine, weil ihre Agrarflächen zentraler Bestandteil für die anvisierte Energieautarkie bilden sollten. Unter anderem sollte die Ukraine als wichtigster Produzent ein Viertel des für die europäische Industrie als Erdgasersatz benötigten grünen Wasserstoffs liefern. Der russische Angriff im Februar 2022 war der letzte Versuch Russlands, die Ukraine von der fortschreitenden Assoziierung mit der EU loszureißen und in den russischen Kosmos zurückzuziehen. Die USA und Großbritannien stiegen auf diesen Krieg opportunistisch ein, um die EU, die trotz des ökonomischen Konflikts mit Russland einen Verhandlungsfrieden favorisierte, von ihrer billigen Energieversorgung aus Russland zu trennen und dadurch im Großkonflikt mit China an das amerikanische Kapital zu ketten. Die ukrainische Staatsführung schließlich entwickelte ein eigenes Interesse an der Fortsetzung des Krieges, da sie sich darüber im Klaren war, dass der von der EU vorbereitete Wiederaufbau mit dem Ausverkauf des ukrainischen Bodens und der ukrainischen Industrie einhergehen würde, und ihr Mitspracherecht nur solange existierte, wie die EU auf die ukrainische Armee zur Wahrung ihrer militärischen Interessen angewiesen war. Die bekannten Einordnungen des Konflikts, etwa als Systemkampf zwischen Diktatur und Demokratie, oder als Verteidigung der geostrategischen Souveränität Russlands und des russischen Volkes gegen die westliche Einkreisung, sind moralische Versuche, um das Publikum für die eigene Sache zu gewinnen, wo es um Anlagemöglichkeiten für das jeweilige nationale Kapital geht. Mangel und Inflation, die Kennzeichen der gegenwärtigen Epoche, sind Folge des staatlichen Handelns, das in Reaktion auf die Überproduktion und Stagnation seit 2015 auf die bewusste Zersetzung der globalen Arbeitsteilung zielte. Der Ukrainekrieg markiert den ersten der unvermeidbaren imperialistischen Großkonflikte in dieser neuen Epoche.

Im Rückblick zeigt sich, dass es naiv war anzunehmen, die Prognose der Marxschen Krisentheorie wäre eine rein ökonomische, als ob die Überproduktion bruchlos in einen ökonomischen Zusammenbruch übergehen würde. Keine Gesellschaftsordnung tritt ab, bevor sie nicht alle ihre Mittel ausgeschöpft hat, und hierzu zählt als wichtigstes die Gewalt der kapitalistischen Staaten nach innen und außen. Natürlich würden die bedrohten nationalen Kapitale, mit dem eigenen Untergang konfrontiert, die Macht des Staates anrufen um mittels riesiger Investitionsprogramme und militärischer Gewalt ihr eigenes Überleben zu sichern. Mangel, Inflation und Krieg laufen nicht der Überproduktionskrise zuwider, sondern sind deren nächste Kettenglieder, sobald die wirtschaftliche Stagnation in politische Gewalt kippt.

Vor unserem Auge vollzieht sich die Prognose des Kommunistischen Manifests, dass die kapitalistische Gesellschaft, durch die von ihr selbst entwickelten Produktivkräften in die ökonomische Krise getrieben, als letzten Ausweg die Zerstörung ebendieser Produktivkräfte anstrebt.

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