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09.09.2016

27.03.23

Das ukrainische Dilemma

Warum gibt Selenskyj Bachmut nicht auf?

Nach einem Jahr von Berichten über einen nahenden ukrainischen Sieg mehren sich in den letzten Wochen nachdenkliche Berichte, dass es der Ukraine nur noch unter enormen Opfern an Menschenleben und Material gelingt, die seit Herbst letzten Jahres unveränderte Frontlinie im Osten zu halten. So schrieb die liberale Neue Zürcher Zeitung am 08.03.2023, dass die Ukraine in Bachmut jeden Tag „Hunderte von Soldaten“ verliert, inzwischen Rekruten mit nur fünftägiger Ausbildungszeit an die Front geschickt würden. Die Bild-Zeitung hatte bereits zwei Tage vorher über einen Streit zwischen Selenskyj und dem Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte, Saluschniy, berichtet, in dem letzterer einen Rückzug aus Bachmut gefordert hatte. Am 18.03.2023 schrieb der Tagesspiegel unter der Überschrift „Wir haben weder Leute noch Waffen“:

Diese Entwicklungen führe zu wachsendem Pessimismus in den Reihen der Ukrainer, wie ein Bericht der „Washington Post“ von Mitte März beschreibt. […] Ein Kommandeur beschreibt die Lage gegenüber der Zeitung so: „Es gibt nur wenige Soldaten mit Kampferfahrung. Leider sind die anderen schon tot oder verwundet.“ Allein in seiner Einheit seien von etwa 500 Soldaten etwa 100 getötet und weitere 400 verwundet worden, sagt der Kommandeur der „Washington Post“. […] Drei Tage nach dem Interview wurde der Kommandeur von seines Postens enthoben, schreibt die „Washington Post“.

Um den Mythos, dass die Ukraine den Krieg gewinne, weiter aufrechtzuerhalten, gibt die liberale Presse inzwischen zwar die hohen ukrainischen Verluste zu, aber erklärt zynisch, dass diese Mittel wären, dem Gegner noch höhere Verluste zuzufügen („Die Zeit“, 08.03.2023):

Oleksij Danilow, Chef des ukrainischen Sicherheitsrats, sagte kürzlich, für jeden Ukrainer fielen in Bachmut sieben Russen. Das ist vermutlich übertrieben. Nicht allzu weit davon entfernt ist die Ratio, die ein anonymer Nato-Geheimdienstler bei CNN suggerierte: Sie liege bei „mindestens“ eins zu fünf.

Aber selbst solche, angesichts der von allen Seiten bestätigten russischen Artillerieübermacht sowieso kaum glaubwürdigen Rationalisierungen können nicht verdecken, dass die Ukraine heute keinerlei Perspektive mehr auf ihre angestrebten Kriegsziele, die Rückeroberung der inzwischen ökonomisch und administrativ fest mit Russland verzahnten Ostprovinzen, gar die Rückeroberung der Krim-Halbinsel hat. Die täglich neu eintreffenden ukrainischen Rekruten, in nächtlichen Militärkonvois an die Front geschafft, die zu hunderten von russischen Artilleriegeschossen in Stücke gerissen, zerfleischt, lebenslang verkrüppelt werden, sterben für die Aufrechterhaltung einer Illusion, wenigstens für ein paar weitere Tage.

Warum gibt Selenskyj Bachmut nicht auf? Warum versucht er keinen Waffenstillstand? Jetzt, wo die Front noch hält, wäre doch der Zeitpunkt für Verhandlungen, um nicht den letzten Rest der ukrainischen Jugend durch Zwangsrekrutierung dem bestialischen Morden zu opfern.

Aber Selenskyj sitzt in der Zwickmühle. Um die Situation der Ukraine zu verstehen, müssen wir in der Zeit zurückgehen, nochmal zum bedrückenden Jahr 2014, als die ukrainische Regierung die folgenreiche Entscheidung zum Assoziierungsabkommen mit der EU traf. Dass die Ukraine überhaupt gezwungen war, nach langem Lavieren und Hinhalten, zwischen der EU-Assoziation und dem von Russland eingeforderten Beitritt zur Eurasischen Wirtschaftsunion zu wählen, hatte seinen Grund in der 2014 drohenden Zahlungsunfähigkeit der Ukraine; beide Seiten, Russland wie die EU, hatten der Ukraine Kredite angeboten, beide verknüpft mit politischen Forderungen. Das unterzeichnete Assoziierungsabkommen erlegte der Ukraine dann weitreichende Reformen auf, um dem EU-Kapital Rechtssicherheit, gleiche Konkurrenzbedingungen wie dem einheimischen Kapital, und schließlich Zugriff auf alle Anlagesphären des Landes zu sichern. Im Zentrum stand dabei die Bodenreform: seit 2001 verbietet in der Ukraine ein Moratorium den Verkauf von Boden. Dieses, das europäische Kapital von der wichtigsten Anlagesphäre ausschließende Gesetz, das hunderttausenden, vielleicht Millionen UkrainerInnen ein Auskommen in der Landwirtschaft sicherte, war dem EU-Kapital natürlich ein Dorn im Auge, sollten doch die ukrainischen Schwarzerdeböden nicht nur für die Getreide-, sondern auch für die Energieproduktion mittels Windkraft, Solarenergie und Biosprit eine bedeutende Rolle in den Plänen zur europäischen „Energiewende“ spielen.

Einen Versuch zur Kippung des Gesetzes hatte Selenskyj im Jahre 2000, „im Schatten der Coronakrise“ (mdr.de), unternommen, damals ein Jahr im Amt. Während vor dem Parlament tausende demonstrierten und es im Parlament zu Handgreiflichkeiten kam, musste Selenskyj selbst den Widerstand großer Teile seiner eigenen Partei hinnehmen, die gegen die Kippung des Verkaufsmoratoriums stimmten. Erst nach zähem Ringen gelang eine eingeschränkte Überwindung des Moratoriums: ukrainische Bürger sollen ab 2021 1.000 Hektor, ab 2024 dann 10.000 Hektar Land kaufen dürfen. Ausländer und Banken sind nach wie vor ausgenommen. Ein besseres Ergebnis ließ sich nicht erzielen.

Angesichts dieses langsamen Fortschritts wurde das EU-Kapital zunehmend ungeduldig. Die der deutschen Bundesregierung nahestehende „Stiftung Wissenschaft und Politik“ warnte die im Herbst 2021 neu gewählte deutsche Regierung: „Nach knapp zweieinhalb Jahren, in denen Wolodymyr Selenskyj als Präsident der Ukraine amtiert, scheinen Reformen in Schlüsselbereichen zu stocken.“ Selenskyj schien sich immer noch in der Illusion zu wägen, aus der EU-Assoziierung, auf die er sich für den Milliardenkredit eingelassen hatte, einseitige Vorteile für die Ukraine ziehen zu können. Andererseits beklagte die Ukraine, dass sie anders als alle früheren Beitrittskandidaten kaum direkte finanzielle Unterstützungszahlungen von der EU bekam. Selenskyj versuchte, in Tradition der Vorgängerregierungen, auf Zeit zu spielen.

Die Strategie, die Selenskyj hierfür wählte, war „im innen- wie außenpolitischen Diskurs mehr denn je auf Sicherheitsthemen“ zu setzen (ebenda). Die Ukraine hatte gegenüber der EU einen Faustpfand, aber nur einen einzigen: die EU brauchte die Ukraine im Abwehrkrieg gegen den russischen Zugriff im Osten, der natürlich auch die europäischen Interessen in der Ukraine bedrohte. Solange Selenskyj diese Karte spielen konnte, saß er nicht als Bittsteller und Schuldner, der er ökonomisch war, sondern als Kommandeur an der bedrohten EU-Außengrenze am Tisch, der den EU-Staatschefs und ihren Parlamenten Waffenlisten und Sanktionsforderungen diktieren konnte. „Die klare Präferenz des ukrainischen Prä­sidenten für eine Beschäftigung mit Sicher­heitsthemen signalisiert sowohl nach innen wie nach außen, dass Reformen in der heu­tigen Ukraine einen relativ niedrigen Stel­len­wert haben.“ (ebenda) Selenskyj musste nur dafür sorgen, den Krieg auf niedriger Flamme fortzusetzen.

Der russische Überfall, den Selenskyj nicht gewollt hatte, schien dieser Strategie tatsächlich erstmal zur Hilfe zu kommen. Vergessen waren plötzlich Korruption, politisch unerwünschte Subventionen und mangelnde kapitalistische Anlagefreiheit. Im Januar 2023, auf dem Höhepunkt von Selenskyjs Einfluss, reichte ein negatives Wort aus Kiew über eine angeblich mangelnde militärische Unterstützungsbereitschaft, um die deutsche Regierung, bei den Forderungen nach wirtschaftlichen und politischen Reformen bisher an erster Stelle, im eigenen Land wie international unter Druck zu setzen.

Aber wie in einem schaurigen Märchen frisst das Werkzeug, dessen sich der Held zur Umkehrung des realen Kräfteverhältnisses bediente, diesen schlussendlich selbst auf. Was sich als Stärke ausnahm, die Abhängigkeit des Westens von der ukrainischen Armee, wird zur Schwäche, weil die gesamte Verhandlungsposition der Ukraine gegenüber ihren Kreditgebern nun von Erfolgen auf dem Schlachtfeld abhängig ist. Fernab von Selenskyjs militärischen Problemen und seinen Forderungen nach Kampfpanzern und Jagdflugzeugen heckte das europäische und insbesondere deutsche Kapital bereits nach wenigen Monaten Krieg schon Pläne aus, wie es sich den sogenannten Wiederaufbau der Ukraine vorstellt. Dafür hat es den Namen eines neuen „Marshallplans“ gefunden, weil es entdeckt hat, dass der historische Marshallplan schon alle Hilfsgelder unter die Kontrolle einer externen Behörde gestellt hatte. Wer an dieser Stelle den Namen Troika erwähnt, wird von Google bald nicht mehr aufgefunden:

Ähnlich wie beim Marshall-Plan sollte die EU auch für die Ukraine eine neue und eigenständige Behörde schaffen, welche die Hilfs- und Aufbauarbeit koordiniert.

[…]

Die Hilfen sollten durch die neue, eigenständige Wiederaufbau-Behörde koordiniert werden. Diese Behörde werde von der EU autorisiert und handle unabhängig von einzelnen Staaten. Die Agentur müsse sich eng mit der ukrainischen Regierung abstimmen. Die Regierung in Kiew wiederum müsse die Anforderungen und Interessen aus den einzelnen Regionen bewerten und einbringen: Es sei enorm wichtig, dass die Ukraine sich mit den Projekten des Programms identifiziere. (Manager-Magazin.de, 09.03.2022)

Die Ukraine unterm europäischen „Wiederaufbaufonds“, ein riesiges Griechenland, diesmal aber ohne jedes Mitspracherecht in der seine Knechtung organisierenden Staatengemeinschaft. Selenskyj, mit geknebeltem Mund am Tisch sitzend, Reformgesetze im Dutzend unterzeichnend. Milliarden an Hilfsgeldern, die direkt nach Deutschland und in die EU zurückfließen, wenn nämlich deutsche Unternehmen im Auftrag der deutschen Regierung Solar- und Windparks auf ukrainischem Boden – in deutscher Hand – errichten, um den deutschen Staat unabhängig von russischen Energieimporten zu machen.

Ist es ein Wunder, dass Selenskyj die Fortsetzung des Krieges wählt?

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