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Der Freier

09.09.2016

07.08.20

Der V-förmige Aufschwung

Zur Einordnung der aktuellen Situation

Der V-förmige Aufschwung, an den sich das gesellschaftliche Bewusstsein klammert, der die Rückkehr zur Normalität verspricht, der das böse Jahr 2020 wie einen schlechten Traum verscheuchen soll: er wird nicht kommen. Mit jedem Monat, der vergeht, zeichnet sich deutlicher ab, dass die sogenannte Coronakrise nur die Fortsetzung der globalen Krisenbewegung ist, die 2008/9 begonnen hatte.

In der sogenannten „Finanzkrise“ 2008/9, die der nunmehrigen „Coronakrise“ vorausging, konnte die anstehende Bankrottwelle der Industrie abgehalten werden durch staatliche Milliardenkredite. Was sich als Bankenkrise auf der Oberfläche zeigte, war schon damals die Folge von schrumpfenden Wachstumszahlen, sinkenden Profiten, und steigender Verschuldung von Konzernen, Nationen und ArbeiterInnen. Kennzeichen der nach dem Beinahe-Crash 2008/9 beginnenden Dekade wurden nun die Niedrig- und Negativzinsen und die stetig wachsenden Anleihekäufe der Zentralbanken. Die Niedrigzinsen und die Käufe von Unternehmensanleihen sollten die Unternehmen anregen, sich zum Nulltarif mit Krediten zu versorgen. Diese Kredite sollten die industriellen Kapitale dann, so das Keynesianische Lehrbuch, dazu verwenden, ihre Produktion zu vergrößern, in neue Anlagen zu investieren, dadurch eine Nachfrage nach Produktionsmitteln und neue Arbeitsplätze zu generieren.

Während der erste Teil des Rezepts aufging und die Unternehmensverschuldung in den letzten zehn Jahren rapide anwuchs, blieb die Investition in neue Produktionsmittel und die Schaffung neuer Arbeitsplätze weitgehend aus. Stattdessen nutzten die Unternehmen die Billigkredite, um die Produktion zu konsolidieren und durch internationale Mega-Fusionen Konkurrenten auszuschalten. Ende 2019 hatten alle großen Börsenunternehmen, von Boeing bis Adidas, damit begonnen, die Kredite zu verwenden, um eigene Aktien zurückzukaufen und dadurch die Dividenden je verbleibende Aktie künstlich in die Höhe zu treiben.

Das Mittel, das seit der Weltwirtschaftskrise 1929 immer gegriffen hatten – Zinsratensenkung, dadurch Expansion der Produktion, dadurch die Möglichkeit, die Zinsen wieder anzuheben – versagte. Charakteristisch für die 2010er Jahre war die weltweite Stagnation mit Wachstumsraten im 1 %-Bereich. Die höheren Wachstumsraten Chinas verdankten sich nur dem Umstand, dass dort der Staat selbst als Investor in großangelegte Infrastrukturprojekte investierte und so eine künstliche Nachfrage jenseits der industriellen Investitionen schuf – mit dem Resultat der bekannten chinesischen Geisterstädte, und der steigenden Verschuldung des chinesischen Staatskapitalismus selbst, die ihm zunehmend die Hände band.

Aber selbst diese Periode staatlich verwalteter wirtschaftlicher Stabilisierung ging Ende 2019 definitiv zu Ende. Der Kapitalismus als Weltsystem kennt kein Gleichgewicht; die Ausdehnung und Akkumulation, ob im Inneren der Gesellschaften oder auf dem Globus, ist sein Gesetz. Wo diese Ausdehnung stockt, bleibt nur die Stagnation. Bestehende Produktionsanlagen können nicht mehr profitabel eingesetzt werden, weil die weltweite Überproduktion aller Waren auf die Preise und damit die Profite drückt. Abhilfe bot in der Geschichte einerseits die Eröffnung neuer Kontinente und Länder, die eine hohe Kapitalmenge erforderte, um die dortigen Produktivkräfte – Ackerböden, Erzvorkommen oder billigere Arbeiterbevölkerungen – profitabel auszubeuten; andererseits die Zerstörung durch die Weltkriege. Solange nichts dergleichen in Sicht ist, bleiben Stagnation, Überproduktion und Arbeitslosigkeit. Seit Mitte der 2010er Jahre sank die Auslastung der industriellen Anlagen weltweit. Ende 2019 wurden weltweit wieder Massenentlassungen angekündigt.

Corona hatte, so lässt sich bereits heute sagen, keinen Anteil an der wirtschaftlichen Krise. Die durch den Virus bewirkten mehrmonatigen Einnahmeausfälle beschleunigten lediglich den vorgezeichneten Gang. Ähnlich einem Stresstest für die Banken sorgte der Stopp der normalen Geldflüsse dafür, dass Unternehmen, Staaten und Individuen ihre vorhandenen Geldreserven angreifen musste; nur wenige hatten sie. Allein in den kapitalistischen Zentren gelang es bisher, den freien Fall von Wirtschaft und Gesellschaft durch ein Jahrhundert-Kreditaufnahmeprogramm kurzfristig aufzuhalten. Aber trotz großzügiger Kredite für die Kapitale, trotz Übernahme eines Teils der Lohnkosten durch Kurzarbeitergeld, trotz direkter Geldzahlungen an die Bevölkerung konnte die Entlassungs- und Bankrottwelle nicht gestoppt werden. Nach wenigen Monaten war die Wirkung aller staatlicher Maßnahmen bereits verpufft. Alle großen Kapitale, insbesondere die schrittmachende Automobil- und Flugzeugindustrie, kündigten in den vergangenen Wochen in die zehntausende gehende Massenentlassungen an. Anders als die JournalistInnen, die zur Beruhigung des Publikums schreiben, glauben die Entscheidungsgremien der großen industriellen Kapitale an keinen V-förmigen Aufschwung.

Außerhalb der Zentren, wo es keine Staatkredite, kein Kurzarbeitergeld, keine staatlichen Unterstützungszahlungen gibt, befinden sich Wirtschaft und Gesellschaft im freien Fall. Standen nach 2008/9 die halbindustrialisierten arabischen Mittelmeerländer im Fokus, so nun Südamerika. Die Bevölkerungen der ehemaligen, für den Rohstoffexport gegründeten Kolonien hatten es geschafft, in den langen anderthalb Jahrzehnten des Rohstoffbooms von 2000-2015, dem Weltmarkt ein sozial würdiges Auskommen abzutrotzen. Objektive Berichte zur tatsächlichen Lage jenseits der kapitalistischen Zentren sind immer schwerer zu bekommen; Mitte Juli berichteten zwei Reporterinnen der New York Times von einer Rundreise durch Kolumbien:

Sandra Abello wuchs in Armut auf, musste die Schule im Alter von elf Jahren verlassen, und verbrachte ihre Jugend damit, als Haushälterin bei reichen Familien zu wohnen und dort den Fußboden zu schrubben. Aber dieses Jahr hatte sich alles geändert.

Frau Abello, inzwischen 39, konnte endlich in eine Wohnung in einem ordentlichen Stadtviertel ziehen. Eine ihrer Töchter, Karol, war gerade dabei, das Gymnasium abzuschließen. Eine andere, Nicol, wurde 15, und sie hatten eine Feier mit vielen Gästen geplant. Sie sparten auf eine Waschmaschine. Frau Abello war stolz auf das, was sie geschafft hatte.

Dann kam die Pandemie, und Frau Abello verlor ihren Putzjob. Im Mai wurde sie aus ihrer Wohnung geworfen. Zusammen mit ihren Kindern wohnte sie nun in einer Wellblechhütte in einem illegalen Slum hoch über der Stadt. Nachts wurde es bitter kalt. Der Einsatz eines ganzen Menschenlebens war innerhalb von ein paar Wochen dahin.

Der Bericht setzt fort mit dem Erdbeerbauer, der sein über Jahrzehnte erspartes kleines Feld nicht mehr bewirtschaften kann, und mit der Gemeindeschule, „die aus Kindern, deren Eltern barfuß zur Schule gelaufen waren, FlugzeugbegleiterInnen und ApothekerInnen gemacht hatte“, und die nun ihre LehrerInnen nicht mehr zahlen kann und verfällt. Nichts davon wird „V-förmig“ zurückkehren; das Kapital, was hierfür in anderthalb Jahrzehnten angespart wurde, ist in wenigen Monaten zerstört wurden.

Solange Corona, Ausgangssperre und Impfstoffsuche noch die Schlagzeilen dominieren, bleibt in den Kernländern des Kapitalismus der Abgrund, der sich auftut, noch versteckt. Corona bindet den Regierenden die Hände. Ist es weg, wird der brutale Konkurrenzkampf der kapitalistischen Nationen durchbrechen. Bereits heute spielen die Regierungen Amerikas und Europas offen mit dem Gedanken an einen großen Krieg, um die wirtschaftliche Konkurrenz aus China auszuschalten; allein die Verflechtung der Automobilindustrie hindert Deutschland noch, in den Reigen einzustimmen. Sozialismus oder Barbarei, das war kein pathetischer Slogan, sondern es war nie mehr als das dürre Aussprechen der Realität an der Grenze der kapitalistischen Gesellschaft. Nutzung der Produktivkräfte durch eine sich selbst verwaltende Menschheit, oder bewusstloser Gang in die irrsinnige gegenseitige Vernichtung.

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