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Der Freier

09.09.2016

28.06.20

Kapitalistische Fortschritte im Schatten der Pandemie

Griechenland: Neustrukturierung von Schulsystem, Presse, Gesundheitswesen und Umweltschutz unter der Deckung von Covid 19

„Die Lehrergewerkschaft OLME hat die Frechheit für morgen einen Streik anzusetzen. Nach der Pandemie (in der einige sich geweigert haben auch nur einen Tag zu arbeiten) und nach den Pfingstfeiertagen. Das Wort „Schande“ ist zu wenig für die Führung der OLME aber auch für alle, die sich entschieden haben, am Streik teilzunehmen“.

Warum streiken die Lehrer?

Afroditi Latinopoulou, eine Rechtanwältin, frühere Tennisspielerin und Parlamentskandidatin der Nea Dimokratia regierte mit diesen Worten auf einen Streik der Lehrergewerkschaft. Sie fand es unpassend, dass die Lehrer es nach Wochen der Schulschließung wagten, zu streiken. Dass dies auch noch direkt nach Feiertagen geschah, betonte sie ebenfalls als unpassend.

Was Latinopoulou verschwieg, war der Grund des Streiks. Es geht um eine Bildungsreform, die von der Regierung Mitsotakis gegen den Widerstand aller Oppositionsparteien durchs Parlament gepeitscht wurde. Der Streik und die Protestdemonstrationen fanden zeitgleich mit der Diskussion und der Verabschiedung der umstrittenen Bildungsreform im Parlament statt.

Das Gesetzespaket hat nach Ansicht seiner Gegner zahlreiche Schwächen. Lehrer, Schulen und Schüler sollen beurteilt werden. Abhängig vom Erfolg der Schule sind dann die staatlichen Zuwendungen. Es ist ein Rezept, um Schulen in sozial schwachen Wohngebieten weiter abzuhängen. Schulen mir guten Ergebnissen im Sinn des Gesetzgebers, bekommen den Status von Förderschulen samt der erforderlichen Finanzierung.

Lehrer, die es wagen, mit Eingaben ans Ministerium Kritik an Lehrplänen zu üben, bekommen ebenso eine schlechtere Beurteilung wie Lehrer, deren Schüler gegen den Staat aufbegehren. Für die Schüler gibt es die Wiedereinführung der Kopfnoten. Das Urteil über Betragen wird wieder in die Zeugnisse, auch in die Abschlusszeugnisse der Sekundarstufe II eingetragen.

Die Reform ändert auch den Inhalt der Unterrichtsfächer. Im Geschichtsunterricht geht es künftig nicht mehr um die Beschreibung historischer soziologischer Prozesse, sondern um die „Pflege des nationalen Bewusstseins“. Bei den zentralen Abiturprüfungen fällt für zukünftige GeisteswissenschaftlerInnen das Prüfungsfach Soziologie weg und wird wieder durch Latein ersetzt. Die Vermittlung von Kenntnissen über die Literatur wird ebenfalls eingeschränkt.

Schließlich bleibt als Vorwurf der Politikerin an die Lehrer noch die Weigerung „auch nur einen Tag zu arbeiten“. Einem Faktencheck hält er nicht stand. Viele Lehrer konnten während der Zeit des Lockdowns nicht arbeiten. Zwar sollten sie auch in dieser Zeit ihre Schüler per Videochat unterrichten, allerdings fehlten an vielen Orten im Land die Voraussetzungen hinsichtlich der Infrastruktur. Es gab in einigen Klassen schlicht zu wenig Schüler mit einem Zugang zum Internet. Schließlich fehlen nach der Wiedereröffnung jene Lehrer, deren gesundheitlicher Zustand sie zur Risikogruppe macht. Der wegen der Finanzkrise verhängte Einstellungsstopp hat den Lehrkörper überaltern lassen.

Die Lehrer haben noch einen weiteren Grund zum Protest gegen die Regierung. Ihre persönlichen Daten wurden ohne jegliche Rückfrage seitens des Dienstherrn und ohne Information an ein privates Unternehmen weitergeleitet. Dies geschah, weil der Staat eine Live-Schaltung für die Übertragung der Unterrichtsstunden an Schüler, die wegen CoVid19 zuhause bleiben müssen, organisiert hat.

Im Zusammenhang mit der Datenschutz-Grundverordnung gelten auch in Griechenland die EU-weit bindenden Vorschriften. Die Regierung will diese aber wegen der Pandemie nicht beachten.

Ziel: Reformpakete gegen jeden Widerstand durchsetzen

Mitsotakis möchte für 2020 auf eine Sommerpause im Parlament verzichten. Insgesamt sechsundzwanzig Gesetzespakete sollen bis Ende Juli verabschiedet werden. Dabei findet keine ausführliche Aussprache im Plenum statt. Denn wegen der „Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung des Pandemie des neuen Coronavirus“ tagt das Parlament nur mit einer Rumpfbesetzung. Die meisten der Abgeordneten, die abstimmen, schicken ihre Voten per Fax.

Der parlamentarische Dialog, die Behandlung von Einwänden gegen Novellen, das alles wurde auf ein pro forma Maß beschränkt. Zwischen den einzelnen Redebeiträgen im Parlament werden Pausen eingehalten, damit die Parlamentsbediensteten das Rednerpult und die wegen der Pandemie um dieses herum aufgestellten Plexiglasscheiben reinigen. Auch dies kostet Redezeit.

Die Sitzungen des Plenums werden vom Parlamentsfernsehen übertragen. Theoretisch könnten die Bürger diese verfolgen, und beobachten, dass Parlamentarier kaum zu Wort kommen. Denn die ohnehin knappe Redezeit wird überwiegend von den Ministern und Staatsministern der Regierung beansprucht.

Es wäre die Aufgabe der Medien, die Politik kritisch zu beobachten und die Bürger zu informieren. Tatsächlich aber stimmen die Rundfunksender im Land ebenso wie die meisten übrigen Medien lieber ein Loblied auf die Regierung an.

Geldspritzen für regierungstreue Medien

Die Presse wird indirekt gegängelt. Fragen bei den Pressekonferenzen zur Pandemie konnten nur schriftlich gestellt werden. Theoretisch konnte jedes Medium zum Zug kommen. Allerdings wurden zumindest in einem Fall die Fragen nicht komplett vorgelesen. Dies geschah nachweislich bei einer Frage von Journalisten der Parteizeitung der Kommunistischen Partei, Rizospastis.

Die Regierung hat während der Pandemie die Medien mit Werbeaufträgen über zwanzig Millionen Euro gestützt. Beworben wurden die Maßnahmen zum Schutz vor der Ausbreitung der Pandemie. So liest es sich in offizieller Schreibweise. Das, was offiziell nicht bekannt ist, sind die Summen, die an einzelne Medien gezahlt wurden. Denn diese möchte die Regierung ebenso wenig bekannt werden lassen, wie eine Begründung für die Tatsache, dass es auch Werbegelder an nicht existente oder kaum bekannte Medien gab. Zudem wurden oppositionelle Medien von der Geldverteilung mit dem unbelegten Vorwurf, sie würden „Fake News“ verbreiten, ausgeschlossen. Dass auch Geld an Corona-Leugner gezahlt wurde, geht aus der ohne Summen veröffentlichten Liste des für die Presse verantwortlichen Ministers und Regierungssprechers Stelios Petsas hervor. Die entsprechenden Medien sind allerdings streng nationalistisch und konservativ.

Das lässt vermuten, dass sich der Vorwurf der „Fake News“ nicht auf CoVid19, sondern vielmehr auf die ideologische Ausrichtung der Medien bezieht.

Während der Pandemie wurde der Zugang von Journalisten zu staatlichen Stellen stark beschränkt. Es sollte kein Gedränge von Pressefotografen und Journalisten geben. Diese Maßnahme erscheint durchaus sinnvoll. Wenig einleuchtend ist dagegen, warum diese Praxis auch nach weitgehender Öffnung des öffentlichen Lebens beibehalten wird, und warum die Politiker sich trotz des Vorhandenseins großer Räume, kleine Büros für Pressestatements aussuchen. Denn mit der Begründung, dass das Büro für viele Pressevertreter zu klein sei, werden immer mehr Journalisten effektiv an der Ausübung ihres Berufes gehindert.

Ein Zusammenhang zwischen einer regierungsfreundlichen Berichterstattung und einem dafür gewährten Zugang zu exklusiven Nachrichten und Reportagen kann aus nachvollziehbaren Gründen nicht zweifelsfrei und gerichtsfest bewiesen werden. Die Vermutung, dass solch eine Art Belohnungssystem besteht, liegt jedoch nahe. So berichtete die BILD Anfang Juni mit wärmsten Worten über die Öffnung Griechenlands für den Tourismus aus Deutschland. Sie bekam ein Exklusivinterview mit Premierminister Kyriakos Mitsotakis. Der eigens dafür angereiste Reporter konnte einen Tag nach seiner Ankunft – ohne Quarantäne – direkt zum Premier. Einen Tag nach dem Interview berichtete er per Video aus dem Flüchtlingslager Moria auf Lesbos.

Für gewöhnliche Sterbliche galt zur gleichen Zeit, dass sie sich bei Ankunft in Griechenland zunächst in ein abgeschottetes Hotel begeben mussten. Erst nach negativem CoVid19-Testergebnis durften sie an ihren Zielort weitereisen und mussten dort für mehrere Tage, und mit der Verpflichtung zur Einhaltung strenger Abstandsregeln zum Beispiel zu Familienmitgliedern, in häusliche Quarantäne.

Harte Maßnahmen gegen Flüchtlinge

Die Insassen von Moria dürfen auch heute noch, trotz geöffneter Grenzen für den Tourismus nicht aus dem Lager heraus. Das gleiche gilt für die Insassen aller Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln. Sie dürfen nicht einmal ihren Anwalt im Lager empfangen. Sie dürfen auch bei den Anhörungen für ihren Asylantrag keinen Anwalt mitnehmen. Denn dies würde die geltenden Schutzregeln für die Corona-Pandemie brechen.

Eine eilig durchs Parlament gepeitschte Reform des Asylrechts setzt Asylbewerber und anerkannte Flüchtlinge zusätzlich unter Zeitdruck. Gegen in erster Instanz abgelehnte Entscheide muss innerhalb von zehn Tagen Einspruch eingelegt werden. Die Entscheide selbst werden pauschal, allein mit dem Kriterium des Herkunftslandes und nicht anhand der persönlichen Verfolgungslage des Antragstellers entschieden.

Anerkannte Asylanträge führen wiederum dazu, dass die nun offiziell Flüchtlingsstatus genießenden Personen Lager oder vom UNHCR und anderen Hilfsorganisationen Wohnungen verlassen müssen. Kurz, seit dem 1. Juni sind rund 11.000 Personen mit anerkanntem Flüchtlingsstatus offiziell obdachlos. Ihnen bleibt nun nur die Suche nach einem Arbeitsplatz und einer Wohnung.

Viele von ihnen können mangels Integrationsprogramm kein Griechisch. Bislang wurden, so verkündete Immigrationsminister Notis Mitarakis, rund 2000 Menschen buchstäblich auf die Straße gesetzt. Er schätzte, dass die übrigen bis Ende Juli die Unterkünfte verlassen werden. “Wir können denjenigen, die internationalen Schutz erhalten haben, nicht ewig Unterkunft und Rente anbieten. Sie haben Zugang zu einem Programm namens Helios”, sagte er.

Bilder vom zentralen Victoria-Platz in Athen, auf dem knapp 60 Obdachlose anerkannte Flüchtlinge campieren, kommentierte Mitarakis zynisch mit einem Verweis auf die persönliche Verantwortung der Menschen.

Was der Minister nicht sagt, ist dass das Programm Helios die Steuernummer eines griechischen Finanzamts voraussetzt. Diese wiederum kann nur jemand erhalten, der einen festen Wohnsitz vorweisen kann. In der Regel muss wegen der gesetzlichen Bestimmungen für die Anmietung einer Wohnung beim Finanzamt ein Mietvertrag vorgelegt werden. Auf diesem muss dann die Steuernummer des Mieters eingetragen werden. Ein Teufelskreis für die Flüchtlinge. Sie werden so zum leichten Opfer für findige Geschäftsleute, die ihnen überteuert Wohnraum anbieten.

Umweltschutz und Arbeitsrecht – eine Definitionssache

Die Regierung steht auf dem Standpunkt, dass in der Krise alle Opfer bringen müssen. Sie propagiert daher den Verzicht der Arbeitnehmer auf Rechte und Gehälter zum Schutz der Unternehmer. Dies wird in zahlreichen neuen Gesetzen geregelt.

Ein weiteres Highlight in der langen Liste der als Reformen bezeichneten Umsetzung konservativer, neoliberaler Politik ist die Novelle im Umweltschutzrecht. Künftig ist die Förderung fossiler Energiequellen auch in Umweltschutzgebieten gestattet. Für die Nutzung der Windenergie dürfen Unternehmer Land requirieren, also Bürger enteignen lassen, unter Naturschutz stehende Wälder abholzen, geschützte Biotope zerstören und Fördergelder kassieren. Der Staat gibt dafür zudem Kontrolle der Einhaltung der ohnehin bereits entschärften Umweltschutzbestimmungen in private Hand.

Schließlich bleibt noch die Gesundheitspolitik, das Thema, in dessen Windschatten Mitsotakis Kabinett ihre Agenda durchzieht. Das offizielle Narrativ der Regierung besagt, dass während des Lockdowns das „staatliche Gesundheitssystem ESY gestärkt und gerüstet wurde“. Tatsächlich aber wird auch in diesem Ressort das Hauptziel der regierenden Partei durchgesetzt. Die Regierung unterschrieb Kooperationsverträge mit privaten Anbietern von Gesundheitsdiensten. Das einzige Herzzentrum für Kinder in Griechenland, Agia Sofia in Athen, hat dagegen kein Personal für die Versorgung der Kinder von Versicherten. Diese müssen stattdessen Privatkliniken aufsuchen.

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