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Der Freier

09.09.2016

14.05.20

Corona-Streit in Griechenland

Staatliches Schulterklopfen, Gerangel der Profiteure, und die Frage nach der Position der Linken

Verrückte Welt?

In Griechenland sind viele Sachen anders. Dies betrifft auch die Haltung der Bevölkerung zur Corona-Pandemie. Auf den ersten Blick schaut es so aus, als würden sich die Linken und Anarchisten in Griechenland eine Argumentationsweise aneignen, wie es in Deutschland ein vollkommen diametral entgegengesetztes Lager macht. Ebenso könnten dieses Thema von vielen als Beleg für die zweifelhafte Hufeisentheorie herangezogen werden. Dies geschieht bereits in Griechenland.

Es ist in der Tat durchaus nicht einfach, über dieses Thema zu schreiben. Die Details verwirren und es besteht immer die Gefahr, bei der Suche nach Motiven, missverstanden zu werden. Es darf daher kein Zweifel daran bestehen, dass die bewusste Gefährdung von Mitmenschen durch provokative Missachtung des Pandemieschutzes zu verurteilen ist.

Eine Erfolgsgeschichte mit vielen Unbekannten

Der bisherige Verlauf der Corona-Pandemie in Griechenland war relativ gut. Es gab wenig gemeldete Infektionen. Dazu kam mit 156 Toten (Stand 14. Mai 2020) eine Sterbefallrate, die eher an die Grippeepidemien der vergangenen Jahre, denn an die tödliche CoVid-19-Pandemie erinnert. Bei solch einer Betrachtungsweise werden die Dramen, welche sich in Italien, Spanien, Brasilien, den USA, dem Vereinigten Königreich und in anderen Ländern abspielen, ignoriert. Eine solche, auf Griechenland konzentrierte Sichtweise der Dinge ist allerdings unter den Hellenen weit verbreitet.

Ebenso üblich ist, dass sich regierende Politiker gern für ihre tatsächlichen oder vermeintlichen Erfolge feiern lassen. Dies gilt insbesondere für die Vertreter der regierenden Nea Dimokratia. Die Regierung schaltet Werbespots, in denen sie sich für ihr bisheriges Vorgehen feiern lässt. In den Spots ist von Helden die Rede, von Erfolgen historischen Ausmaßes. Der größte Teil der Presse stimmt den Jubelarien bei. Ein Umstand, der umso verständlicher erscheint, wenn man die von der Regierung selektiv an die Verleger gezahlten 20 Millionen Euro Hilfe plus die den Rundfunkbetreibern erlassenen Lizenzgebühren in Betracht zieht. Oppositionelle Medien wurden von der Regierung nicht mit den als Pandemiehilfe bezeichneten finanziellen Gaben bedacht, was zu parlamentarischen Anfragen der Opposition führte.

Die Pandemie ist jedoch noch längst nicht vorbei. Zudem fehlen für eine differenzierte Analyse die Zahlen. Denn in Griechenland wird kaum auf Infektionen getestet. Die griechische Regierung wurde von den medizinischen Experten unter dem Schock der hohen Todeszahlen aus dem benachbarten Italien davon überzeugt, dass ein schneller, drastischer Lockdown des gesamten öffentlichen Lebens notwendig war.

Diese Maßnahme wirkte. Gleichzeitig sollte, so verkündete die Regierung, das staatliche Gesundheitssystem für eine weitere, mögliche Pandemiewelle ausgebaut, und damit vorbereitet werden. Dies ist nicht in dem immer wieder im Fernsehen verkündeten Maß geschehen. Dies zumindest prangern Krankenhausmediziner und oppositionelle Parteien an.

Hinter den Kulissen

Die triumphalen Botschaften über „das sichere Griechenland“ und den „Erfolg der Regierung“ haben nicht nur politische Motive. Vielmehr geht es auch darum, die Tourismusbranche, und damit dreißig Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu retten.

Dazu ist es nach Ansicht der Regierung offenbar erforderlich, die Wiedereröffnung nach dem Lockdown so schnell wie möglich durchzuführen. Vieles, darunter auch die Schulöffnungen, wird planlos überstürzt. Dabei werden Bürgerechte, auch die von Kindern, wie das Recht auf den Datenschutz, unter dem Aspekt der Pandemiebekämpfung beiseitegeschoben. Der Schulunterricht samt Schülern soll live übertragen werden, damit unter Quarantäne stehende Schüler, oder solche die wegen gesundheitlichen Problemen dem Unterricht fernbleiben, virtuell am Betrieb in den Klassen teilnehmen können.

Gleichzeitig wird eine Reihe von Gesetzespaketen durch das Parlament gepeitscht. Das Parlament tagt indes nur mit einer Rumpfbesetzung. Trotzdem findet Premier Kyriakos Mitsotakis, dass genau dies die richtige Zeit ist, um zwanzig teilweise tief einschneidende Novellen bestehenden Rechts verabschieden zu lassen. Darunter befinden sich die Aufweichung der Arbeitnehmerrechte zugunsten der Arbeitgeber, die Aufweichung des Umweltschutzes zugunsten von Investoren und die Aufweichung des Asylrechts zur Befriedigung der rechtspopulistischen Wählerschaft.

Im Parlament, der Vouli der Hellenen, kommen aus den Reihen der größten Oppositionspartei, SYRIZA, kaum effektive Gegenmaßnahmen. In der Vouli steht die gesamte Opposition wegen Mitsotakis komfortabler Mehrheit ohnehin auf verlorenem Posten. Die als KinAll, Bewegung der Wende, firmierende frühere PASOK, SYRIZA und Varoufakis Partei MeRA25 kämpfen darum, wer von ihnen rhetorisch und programmatisch die sozialdemokratische Linke repräsentiert. Die rechtspopulistische „Griechische Lösung“ favorisiert Gesetze, die ihrem Weltbild entspricht und opponiert populistisch gegen jeden Schutz liberaler und humanitärer Werte. Die kommunistische Partei, die KKE, vertritt beharrlich ihre Positionen. Linke Positionen, fern der KKE, sind de facto nur außerparlamentarisch vertreten.

Eine imposante Demonstration, dass es in Griechenland eine starke Gegenstimme gegen die Regierungspolitik gibt, gelang am 1. Mai ausgerechnet der KKE. Unter Beachtung sämtlicher Hygieneschutzmaßnahmen füllten Gewerkschaftler der parteinahen PAME den Syntagma-Platz vor dem Parlament. Die verbotene, bis ins letzte Detail geplante Demonstration, verstieß nominell gegen das geltende Ausgangsverbot. Selbst bei strengster Betrachtung konnten Politiker und Journalisten jedoch keinen Verstoß gegen die Abstands- und Hygieneregeln erkennen. Die Darbietung der PAME-Gewerkschaftler war so eindrucksvoll, dass in sozialen Netzwerken selbst erklärte Anhänger der Nea Dimokratia diese mit dem Ausdruck „Respekt“ kommentierten.

Dieses fast allseits verkündete Lob für die unter dem Motto „auch mit Masken geschützte Arbeitnehmer haben eine Stimme“ abgehaltene Mai-Demo triggerte die übrigen Parteien des linken Spektrums und die Anarchisten. Ausgerechtet aus dieser Ecke kamen kritische Stimmen, welche die Demonstration mit Nordkorea und der Zeit des Warschauer Pakts in Zeiten des kalten Krieges verglichen. Es ist bemerkenswert, dass in Griechenland kaum wahrgenommen wurde, dass es ähnliche Mai-Demonstrationen auch in anderen Staaten, wie zum Beispiel Portugal stattfand.

Wenige Tage vorher wurden die Abstandsregeln, das Ausgangs- und das Kontaktverbot für nicht im gemeinsamen Haushalt wohnende Personen vor dem Amtssitz des Premierministers Mitsotakis ausgerechnet von ihm und seinem Neffen, dem Bürgermeister von Athen, Kostas Bakoyiannis gebrochen. Die beiden Politiker, die nicht im gleichen Haushalt wohnen, hatten direkt nebeneinander stehend, auf der Straße vor dem Amtssitz um sich eine eng beieinander stehende Menschenmenge versammelt und genossen die Gesangsdarbietung der früheren Kulturministerin Alkistis Protopsalti. Diese hatte mit Unterstützung des Athener Bürgermeisters eine Sondergenehmigung, sowie Finanzhilfen erhalten, um auf dem Anhänger eines Lastkraftwagens samt Band singend und musizierend durch Athen zu fahren.

Gegen keine der beiden Veranstaltungen wurden die eigentlich notwendigen rechtlichen Schritte eingeleitet. Es gab auch keine Konsequenzen, als sich nach der ersten Lockerung der Ausgangsbestimmungen am 4. Mai hunderte Rechtsradikale im Hafen vom Souda auf Kreta einfanden, um gegen Flüchtlinge zu demonstrieren. Hierbei brachen die Demonstranten sämtliche Abstandsregeln. Das gleiche galt im nordgriechischen Edessa, wo die fremdenfeindlichen Demonstranten von der Polizei ungehindert, ein vom UNHCR für Flüchtlinge gemietetes Hotel in Brand stecken konnten.

Selektive Strafverfolgung

Die zaghafte Öffnung des öffentlichen Lebens nach 42 Tagen strikter Ausgangsverbote, kombiniert mit der offiziell verkündeten Erfolgsstory vom sicheren Griechenland animierte viele Griechen dazu, die immer noch erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen zu missachten.

In den Medien gab es dazu Berichte, die allerdings nicht sämtliche Verstöße, oder gar die schlimmeren Übertretungen thematisierten, sondern sich vielmehr auf Jugendliche konzentrierten, die an einigen Plätzen der Hauptstadtregion im Freien alkoholische Getränke konsumierten. In den Medien gab es keinen Bericht darüber, dass sich zum Beispiel am Strand rund um das exklusive Vorortviertel Kavouri zahlreiche reichere und ältere Griechen auf engstem Raum versammelten. Dabei gab es einen entscheidenden Widerspruch der Medienberichte zur von der Regierung offiziell verkündeten Corona-Weisheit. Diese lautete, dass Kinder und Jugendliche in der Infektionskette und Infektionsverbreitung nur eine geringe Rolle spielen würden. Ein Statement, welches in diametralem Widerspruch zu vorherigen Erklärungen der Regierung, mit der die Schulschließungen begründet wurden, sowie zu zahlreichen internationalen Expertenaussagen steht.

Die Situation eskalierte, als am Tag nach den ersten Berichten der Bürgermeister des Vorortes Agia Paraskevi, Vasilis Zrbas, im Rundfunk die Jugendlichen unwidersprochen pauschal als Konsumenten harter Drogen wie Heroin verteufelte. Dies brachte die trotzkistisch antikapitalistische Partei ANTASYA auf den Plan. Eine Protestkundgebung am zentralen Platz von Agia Paraskevi wurde organisiert – die Polizei schlug brutal zu.

In diesem Zusammenhang erscheint es surreal, dass die fraglichen Plätze, sowie viele Bürgersteige in Griechenland, aber auch Strände mit Stühlen und Tischen gefüllt werden sollen, damit die Cafés und Restaurants sie unter Beachtung von Abstandsregeln nutzen können. Über die möglichst schnelle Öffnung der Gaststätten gibt es zahlreiche öffentliche Diskussionen, bei denen Regierungsvertreter eine schnellere Öffnung als geplant in Aussicht stellen.

Die Protestkultur übertrug sich auf weitere linke Parteien und anarchistische Gruppierungen, sowie auf das Zentrum von Athen. Anders als in den Jahren vorher ist diesmal nicht das Autonomen-Viertel Exarchia, sondern der eher bürgerliche Stadtteil Kypseli, eine der am dichtetesten besiedelten urbanen Regionen Europas, Schauplatz des Geschehens.

Die Polizei geht vor, als gäbe es keine Corona-Pandemie. Demonstranten werden auf engstem Raum zusammengepfercht und von Gruppen von Einsatzpolizisten brutal zusammengeschlagen. In ihrem Übereifer nimmt die Polizei auch Unbeteiligte fest. Dies erlebte ein junger Mann in Kypseli am Freitag, den 9. Mai, als er im Schlafanzug vor seine Haustür trat, um nach dem Grund des Lärms vor dem Haus zu schauen. Er verlor durch die Schläge der Polizisten drei Zähne und ist nun wegen Beamtenbeleidigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt sowie wegen Flaschenwürfen, die knapp einen halben Kilometer von seinem Haus entfernt erfolgten, als er noch zuhause saß, angeklagt.

Es ist auch das Vorgehen der Polizei, das viele zum Glauben an die Verschwörungstheorie über die „Corona-Lüge“ verleitet. Nun kursieren von Autonomen, Anarchisten und Trotzkisten geschriebene Flugblätter in Athen, auf denen die gleichen Argumente wie die der Impfgegner in Deutschland, der Reichsbürger, Identitären usw. zur CoVid-19-Pandemie stehen. Antisemitische Stereotype sind da nicht mehr weit.

Es ist tragisch und wird linke Bewegungen unabhängig vom Ausgang der Pandemie für lange Zeit belasten. Es könnte auch die linke Ideologie im Allgemeinen belasten. Der Ablauf der Entwicklung ist nachvollziehbar, verstehen oder gar akzeptieren kann derartige Exzesse kaum jemand, der Verschwörungstheorien gegenüber skeptisch ist. Es bleibt zu hoffen, dass diese Eskalationen keine schwerwiegenden Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung haben.

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