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09.09.2016

07.02.20

Der Auschwitz-Gedenktag und ein notwendiger Denkmalsturz

Griechenland weiht dem Parteigründer der Nea Demokratia im ganzen Land Denkmäler. Er war verantwortlich dafür, dass der Mord an den griechischen Jüdinnen und Juden nie vor Gericht kam.

Am 27. Januar 2020 war anlässlich des 75. Gedenktages zum ersten Mal ein amtierender, griechischer Ministerpräsident bei der Gedenkfeier für die Shoah in Auschwitz. Kyriakos Mitsotakis, der Premier, ist gleichzeitig Vorsitzender der Nea Dimokratia. Es ist die Partei, die im Oktober 1974, nach dem Sturz der Militärjunta, von Konstantinos Karamanlis gegründet wurde. Jener Karamanlis, dem als zweifachem Präsidenten, mehrfachem Premier, Gründer der konservativen Partei und des gleichnamigen Politikerclans zuletzt im November 2019 in Xanthi ein Denkmal errichtet wurde. Karamanlis und seine Nea Dimokratia waren wesentlich verantwortlich dafür, dass der tausendfache Mord an den griechischen Jüdinnen und Juden nie aufgearbeitet wurde und nie vor Gericht kam.

In der Laudatio zur Denkmalseinweihung, gehalten durch den amtierenden Staatspräsidenten Prokopios Pavlopoulos, heißt es in blumigen und für deutsche Ohren seltsam anmutenden Worten:

„Wir erweisen heute hier, in Xanthi, in Thrakien, Griechenland, dem großen mazedonischen Führer und den Politiker Konstantin Karamanlis die Ehre.

Der Führer, der mit seiner überragenden Moral, seinem beispiellosen Einfallsreichtum und seiner emblematischen politischen Statur in seiner Gesamtheit eine doppelte nationale Mission erfüllt hat: Erstens hat er unser Land und Volk aus der Unterentwicklung und Armut geführt. Dies ebnete den Weg für wirtschaftliches und nicht nur wirtschaftliches Wachstum, das schließlich zum Beitritt Griechenlands zur Europäischen Union führte. Und zweitens hat er unsere nationalen Fragen und unsere nationalen Gesetze mit Nachdruck verteidigt, damit wir auch heute noch aus seiner eigenen Politik vielfältige und wertvolle Lehren ziehen können.“

Karamanlis, den Pavlopoulos in seiner Rede so eindrücklich lobte, war jedoch nicht nur eine Lichtgestalt.

Die Rehabilitation der Kollaborateure

Griechenlands Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert ist insoweit singulär, als dass das Land ebenso wie Spanien unter Franco vor dem Weltkrieg eine faschistische, der nationalsozialistischen Ideologie und eine gegenüber Hitlers Ideologie durchaus positiv eingestellte Regierung hatte. Anders als in Spanien, fand der Bürgerkrieg in Griechenland teilweise während und zum größten Teil nach dem Ende des Weltkriegs statt. Dabei setzten sich in Allianz mit den Konservativen eben jene Kräfte durch, die während des Krieges die Besatzer unterstützt hatten. Folgerichtig wurden die Kollaborateure von den Siegern des Bürgerkriegs rehabilitiert. Ihre Rolle im Weltkrieg wurde nicht aufgearbeitet.

Dass sie auch heute nicht aufgearbeitet werden kann, daran hat der mit Denkmälern und Straßennamen vielfältig geehrte „Ethnarch“ Karamanlis einen großen Anteil. Er ließ, wie erst 2005 bekannt wurde, bereits 1975 in einer Geheimaktion das komplette Archiv der Akten über griechische Kriegsverbrecher und Kollaborateure einstampfen. Mehrere Tonnen Akten, die in jahrelanger mühseliger Fahndungsarbeit zusammengetragen wurden, wurden auf einen Schlag vernichtet.

Allerdings war dies nicht das erste Mal, dass Karamanlis die Aufklärung der dunkelsten Periode der Menschheitsgeschichte aktiv verhinderte.

Der Fall Max Merten

Am 5.11.1959 wurde in Griechenland der „Schlächter von Thessaloniki“, Max Merten, entlassen. Merten war nach dem Krieg im Justizministerium der jungen Bundesrepublik Deutschland angestellt. Merten diente im Krieg als eine Art Statthalter der deutschen Besatzungsmacht.

„Kriegsverwaltungsrat Max Merten hatte knapp 10.000 Juden Thessalonikis im Alter von 18 bis 45 herausgepickt und zur Zwangsarbeit“ gezwungen, erläuterte für einem früheren Beitrag zum Thema für die Jüdische Allgemeine, David Saltiel als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde der Stadt, den Hintergrund. „Der Gemeinde wurde angeboten, die leidenden und teilweise schwer erkrankten Menschen für 2,5 Milliarden Drachmen freizukaufen.“ Das war 1942.

Die jüdische Gemeinde von Thessaloniki sammelte und zahlte. Sie vertraute dem Kriegsverwaltungsrat. Die letzten Wechsel und Schecks wurden im Januar 1942 von der deutschen Besatzungsmacht eingelöst. Daraufhin kamen die Zwangsarbeiter kurzzeitig frei. Wenig später, am 15. März 1942, begann der Abtransport nach Auschwitz. 97 Prozent der Juden Thessalonikis kehrten nie zurück. In Thessaloniki lebte Anfang des 20. Jahrhunderts die zweitgrößte jüdische Gemeinde der Welt. Man nannte die Stadt „Jerusalem des Balkans“. Die Gemeinde zählte vor der Schoa rund 55.000 Mitglieder. Nur etwa 2000 überlebten. Die meisten wurden in Auschwitz ermordet.

Insgesamt kassierte die Verwaltung um Merten 1,9 Milliarden Drachmen – das waren damals rund 69 Millionen US-Dollar. Entschädigt wurde die Gemeinde nach dem Krieg nicht. Das Londoner Schuldenabkommen von 1953 sah eine Stundung der Kriegsschulden der Bundesrepublik bis zu einer damals utopisch erscheinenden Wiedervereinigung vor.

Wie das vereinte Deutschland später mit den Kriegsschulden verfuhr, ist ein anderes Thema. Zu erwähnen ist aber, dass die jüdische Gemeinde mehr als zwei Jahrzehnte durch sämtliche griechische Rechtsinstanzen klagte, regelmäßig an „der internationalen Immunität Deutschlands“ scheiterte, und schließlich, nach einem Entscheid des Areopags, 2014 vor den Europäischen Gerichtshof in Straßburg zog.

Merten reiste trotz dieser Vorgeschichte nach Athen, um in einem Kriegsverbrecherprozess gegen einen weiteren Nazi als Entlastungszeuge aufzutreten. Der damalige Regierungschef in Athen hieß Konstantinos Karamanlis. Der aufstrebende Rechtsanwalt aus dem nordgriechischen Dorf Proti bei Serres hatte es vom Sohn einer vor dem Krieg relativ armen Bauernfamilie zu einem der reichsten und politisch mächtigsten Politiker des Landes gebracht.

Die Festnahme Mertens, die vom obersten Staatsanwalt des Büros für Kriegsverbrecher, Andreas Tousis, veranlasst wurde, wollte Karamanlis verhindern. Tousis juristische Karriere war nach der Festnahme erledigt. Den Prozess gegen Merten konnte Karamanlis jedoch nicht verhindern.

Der von 1942-1944 amtierende Kriegsverwaltungsrat wurde am 5. März 1959 vom Speziellen Militärgericht für Kriegsverbrechen unter dem Vorsitz von Oberst Kokoretsas verurteilt. Seine Gesamtstrafe wurde vom Gericht auf 25 Jahre Zuchthaus festgesetzt. Die Anklageschrift beinhaltete unter anderen 650 Morde, die Merten zur Last gelegt wurden.

Die Bundesregierung in Bonn wollte den deutschen Staatsbürger dagegen so schnell wie möglich zurückholen. Karamanlis verhandelte mit Bonn über einen Aufbaukredit für sein vom Krieg und folgenden Bürgerkrieg zerstörtes Land. Er handelte schließlich einen Kredit über 200 Millionen D-Mark aus, der, wie die Opposition bereits damals bemängelte, einen erheblich größeren Zinssatz als ein vergleichbarer Kredit der Bundesrepublik an die Sozialistische Republik Jugoslawiens beinhaltete.

Offenbar fühlte sich Karamanlis wegen des Kredits so sehr verpflichtet, dass er am 5. November 1959 ein Gesetz zur Amnestie Mertens durchs Parlament peitschte. Merten wurde entlassen und sofort des Landes verwiesen. Mit der Amnestie Mertens waren auch weitere Kriegsverbrecher und einheimische Kollaborateure der Nazis vor Verfolgung sicher. Die griechische Regierung überstellte mehr als 800 Akten über die Taten von deutschen, in Griechenland aktiven Kriegsverbrechern nach Bonn und überließ der Bundesrepublik die Strafverfolgung. Das für Mertens Freilassung erlassene Gesetz bestimmte, dass sämtliche in griechischer Haft befindliche deutsche Kriegsverbrecher in die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert werden müssen. Es schützte somit auch weitere, noch nicht gefasste Kriegsverbrecher vor einer Festnahme in Griechenland. Die Bundesrepublik zeigte in der Causa Merten hinsichtlich der Strafverfolgung wenig Eifer. Ermittlungsverfahren gegen ihn wurden1968 eingestellt. Die Bundesrepublik entschädigte Merten sogar für die dreißig griechischen Haftmonate.

Der so Begünstigte bekam damit eine Entschädigung, welche seinen Opfern nie zugestanden wurde. Er zeigte sich zumindest gegenüber Karamanlis wenig dankbar. Merten beschuldigte im Hamburger Echo und im Der Spiegel den griechischen Premier und weitere seiner Minister, dass sie im Krieg mit den Besatzern kollaboriert hätten, und sich an den beschlagnahmten Vermögen der Juden bereichert hätten. Karamanlis stritt diese Anschuldigen, die auch heute noch in online stehenden Akten der CIA nachlesbar sind stets ab.

Die deutschen Presseberichte wurden damals in den griechischen Medien zitiert. Dies rief die Opposition im Parlament auf den Plan. Es kam zu einer parlamentarischen Aussprache, in deren tumultartigem Verlauf die Regierung die Anschuldigungen zwar dementierte, sich aber standhaft weigerte die Fragen der linken Oppositionspartei EDA zu beantworten.

Es gibt keinerlei schriftliche Zeugnisse einer Kollaboration des „Ethnarchen“. Auffällig ist jedoch, dass bei den weiteren von Merten als Kollaborateure beschuldigten Personen eine Verbindung zur Wehrmacht nachweisbar war.

In eine spätere Regierungsperiode Karamanlis, Anfang der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts kam es im griechischen Parlament zu ersten Forderungen nach Kriegsreparationen. Damals wurde in Griechenland das Gerücht gestreut, Karamanlis habe der Bundesrepublik eine mündliche Zusage gegeben, dass Griechenland keine Reparationsforderungen stellen wird. Die Akten des Außenministeriums aus der Zeit von 1962 bis 1963, welche den Schriftverkehr Karamanlis und dessen Aktionen im Zusammenhang mit der Forderung von Reparationen dokumentieren, sind aus unerfindlichen Gründen vernichtet, oder nicht auffindbar.

Im historischen Kontext wirkt es allerdings eher zweitrangig, ob Karamanlis selbst Kollaborateur war oder nicht. Schwerer wirkt, dass er jegliche Katharsis verhindert hat. Unter seiner Regierung fanden Prozesse gegen Kollaborateure statt, die zur juristischen Farce degradiert wurden. Oft traten bei diesen Prozessen auch in anderen Verfahren als Kollaborateure angeklagte „Patrioten“ als Entlastungszeugen auf.

Bei nachgewiesener Kollaboration konnten sich die Beschuldigten auf die „hehre patriotische Gesinnung“ berufen. Sie hätten schließlich gegen die „kommunistische Gefahr“ gekämpft und sich nur aus tiefen Patriotismus mit den Nazibesatzern eingelassen, um das Land vor den Bulgaren, als Achsenmacht, und den Kommunisten zu retten. So wurden die notorischsten Kollaborateure nach dem Krieg sogar zu Widerstandshelden. Aus ihren Familien bildete sich die spätere Machtelite des Landes.

In der gleichen Zeitperiode wie die Affäre Merten, am 5. Dezember 1958, wurde in Athen der Mann, Manolis Glezos, zum wiederholten Mal eingesperrt und wegen seiner kommunistischen Gesinnung als „Spion“ verfolgt, der am 30. Mai 1941 gemeinsam mit seinem Freund Apostolos Santas die Akropolis heraufkletterte und die Hakenkreuzfahne vom Monument auf dem heiligen Berg der Athener riss. Glezos wurde bis 1971 regelmäßig eingesperrt.

Wäre es 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und im Jahr 11 nach der griechischen Staatspleite nicht endlich an der Zeit, auch in Griechenland die Geschichte aufzuarbeiten, auch wenn dies mehrere Denkmäler stürzen könnte?

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