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Ein Aufklärer wider die Verdinglichung der Sexualität. Rezension

Rezension von Sigusch, Volkmar: Kritische Sexualwissenschaft. Ein Fazit

„Unterm Kreuz des Warenfetischs, unterm Diktat des Tauschprinzips aber sind die allgemeinen Beziehungen der Menschen wie Beziehungen von Ding zu Ding, von Sache zu Sache. In einer solchen Gesellschaft sind die mitmenschlichen Beziehungen nicht einfach solidarisch, anständig, harmonisch, menschlich. Was als menschlich geglückt deklariert wird, als human oder humanitär, entspringt der Ideologie seiner Verhinderung.“

Volkmar Sigusch, Begründer und emeritierter Professor der Sexualwissenschaft, leitete von 1972 2006 das Institut für Sexualwissenschaft in Frankfurt. Nun legt er mit Kritische Sexualwissenschaft. Ein Fazit einen Sammelband vor, der auf 312 Seiten seine wichtigsten Abhandlungen bündelt und zugleich als Einführung in die Sexualwissenschaft gelesen werden kann. Die 17 darin versammelten Aufsätze beleuchten so vielfältige Phänomene, wie die Bedeutung und historische Genese der romantischen Liebe, Verdinglichung des Sexuellen, AIDS, Feminismus, Bisexualität, Transsexualität, Pornografie, Asexualität, Sodomie, Pädosexualität.     Sigusch ist zweifelsfrei ein Aufklärer par excellence: mit dem an Immanuel Kant angelehnten Aufsatz Was heißt kritische Sexualwissenschaft entfaltet er ein Programm, das er als die Erweiterung der sozialen, um die der sexuellen Frage begreift und das eine „Theorie vom Subjekt und die Vorgängigkeit des Objektiven“ zur Prämisse macht. Eine so verstandene kritische Sexualwissenschaft verortet er in ausdrücklicher Abgrenzung zu den Naturwissenschaften und anderen Forschungsparadigmen, die mitunter auf einem strikt biologistischen oder individualpsychologisch verstandenen Menschenbild aufbauen. Explizit der Kritischen Theorie folgend, verweist Sigusch dagegen auf das Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft, den gesellschaftlichen Charakter von Sexualformen und damit einhergehender Herrschaftsverhältnisse, die zugleich auf einer grundlegenden Binarität der Geschlechter beruhen. Gegen diese Binarität macht er zudem geltend, dass Menschen grundsätzlich bisexuell und transsexuell seien, da „weibliche“ und „männliche“ Anteile in jedem Individuum unterschiedlich gelagert und eingeschrieben seien. Eine solche Position, die vor allem auf dem gesellschaftlichen Charakter von Sexualität bestehe, so Sigusch, bilde jedoch zusehends „eine verschwindende Minderheit“ innerhalb der Wissenschaften.

Damit zeugen Siguschs Perspektiven vom zarten Fortleben einer kritischen Theorie der Gesellschaft, die in der Wissenschaftslandschaft – in der Positivismus, Poststrukturalismus und Gender Studies dominieren – einen schweren Stand hat. In Anlehnung an Marx Theorie zum Warenfetischismus, versucht Sigusch den Zusammenhang einer auf der Warenform basierenden Gesellschaft mit Verdinglichungsprozessen des Sexuellen aufzudecken; damit zugleich die „gesellschaftliche Sexualform, das heißt unsere Sexualität“, die „eine Frucht des Kapitalismus sei“.

Die Pluralisierung der Lebensformen und die Neosexuelle Revolution

Sigusch prägt bereits seit den 90ern den Begriff der Neosexuellen Revolution, deren Analyse auch das Kernstück des Bandes ausmacht. Der Aufsatz Die Neosexuelle Revolution bietet eine detailliert historisierende Perspektive auf Bedeutungsverschiebungen von Sexualformen innerhalb moderner Vergesellschaftung. Dabei historisiert er die Transformationsprozesse um 1900 als erste sexuelle Revolution, die um 68‘ als die Zweite. Die Dritte schließlich, die Neosexuelle Revolution, begann in den 80ern und dauere noch an. Sigusch verdeutlicht jedoch, dass derartige Revolutionen – in etwa am Mythos der 68er abzulesen – nicht „unbedingt in ein Reich der Freiheit führen“. Dagegen versteht er derartige Bedeutungsverschiebungen der Sexualmoral und die kulturellen Veränderungen in einem psychoanalytisch-dialektischen Sinn als eine „Wunde des sexuell und geschlechtlich Möglichen. Die Neosexuelle Revolution, die „eher schleichend“ ablaufe, konvergiere mit neoliberaler Verdinglichung des Sexuellen, was zu neuartigen Atomisierungsprozessen führe und Ausdruck der Konstellation einer „postfamilialen Familie“ sei.

Sigusch arbeitet hierbei eine weitreichende Pluralisierung von Lebensformen heraus, die er mit dem Begriff der „sexuellen Dispersion“ auf den Punkt bringt: „Singles und Alleinerziehende, Dauerbeziehungen mit Liebe, aber ohne sexuellen Verkehr, äußerst komplizierte Intimbeziehungen mit drei und mehr Akteuren, Abstinenz und Partnertausch, One-Night-Stands, Loveparades, elektronischen Sex“ und weitere Formen wie „Self-Sex“. Diese Sexualformen analysiert Sigusch auch mit Zygmunt Bauman als „Zwang zur Vielfalt“ und permanenten Erregungszustand „ohne abschließende Befriedigung auf Dauer“. Hierbei lassen sich deutliche Parallelen zu den Werken Baumans (Liquid Love) und Eva Illouz‘ (Warum Liebe endet) ausmachen, die ebenfalls auf eine zunehmende Flüchtigkeit im Zwischenmenschlichen hinweisen und die neoliberale Autonomie und Scheinfreiheit der Individuen in den Fokus ihrer Kritik rücken.

Über Pornografie, Feminismus und die Psychoanalyse

Doch manche seiner Ausführungen bleiben auch verkürzt, unterkomplex und im Jahr 2019 kaum mehr radikal. So schreibt Sigusch in Nachdenken über Feminismus, dass eine Überbetonung des Kulturellen und die Reduktion von Kritik auf Überbauphänomene fatal sei, da somit das Ökonomische und die Forderung nach materieller Gleichstellung vernachlässigt werde. Damit lässt sich zwar mit Sigusch gegen einige Aspekte des Feminismus der Dritten Welle, in dessen Diskurse Sexindustrie und Prostitution sowie patriarchale Strukturen (wohlmeinend) verklärt bzw. dekonstruiert werden, auf der Warenförmigkeit und dem strukturellen Charakter der Ausbeutung von (überwiegend) Frauen bestehen. Das stellt jedoch keine fundamental neue Erkenntnis für materialistisch-feministische Analysen dar. Weder 1993 zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels und schon gar nicht im Jahr 2019.[i]

Zu kritisieren sind zudem einige Argumente in Drei Thesen zu Pornografie, Sexindustrie und Sexualdispersion – ein Text, den Sigusch erst 2015 veröffentlicht hat. Denn hier argumentiert Sigusch sehr vereinfachend, dass es einen kritisch-politischen Gehalt der Pornografie gegeben habe, den er im 16. Jahrhundert in Mitteleuropa verortet; ein Diskurs, der, so Sigusch, Herrschaft und rigide Moralvorstellungen des Adels anzuprangern suchte. Diese Diskurse, so Sigusch, reichen bis zur französischen Aufklärung um Denis Diderot und Marquis de Sade zurück, deren pornographische Schriften aufgrund ihrer popularisierenden Darstellung recht bekannt gewesen seien. Sigusch argumentiert hierbei, dass dieser kritische Gehalt aufgrund der Warenförmigkeit und Kulturindustrie durch einen Abfall des „Reflexivitätsniveau[s]“ eingebüßt worden sei. Letztlich äußert sich Sigusch zwar richtig, aber doch kaum mit neuen Argumenten: „Im Kern ist die Massenpornografie immer noch eine Orgie männlicher Gemeinplätze. In ihr kopulieren vor allem Klischees: Die Männer sind große Schwänze, die immer stehen; die Frauen sind tiefe Schlünde, die gestopft werden wollen“. Zudem erscheint hier der Begriff „Massenpornografie“ begriffslos und es sollte doch eher von Pornographie an sich geredet werden. Außerdem erscheint diese Feststellung vor dem Hintergrund, dass Feministinnen wie Andrea Dworkin dies bereits im vergangenen Jahrhundert dezidiert und deutlicher anprangerten, im Jahr 2019 fast schon trivial. Zugleich ist hierbei der Bezug auf Marquis de Sade mit Dworkin zu kritisieren, die bereits in den 80ern – wie etliche andere Feministinnen – zur Pornographie viel tiefgründigeres als Sigusch zu sagen hatte.[ii]

Obwohl die Aufsätze damit auch unterschiedliche Zeitkontexte gesellschaftlicher und wissenschaftstheoretischer Natur widerspiegeln, einige Argumente (Pornographie, Prostitution) im Jahr 2019 unterkomplex erscheinen und damit zu historisieren wären, haben andere der verhandelten Thematiken an Aktualität kaum verloren. In heutigen Debatten ließen sich mit Siguschs Perspektiven auch einige Ansätze der QueerTheorie kritisieren. So lässt sich mit ihm beispielsweise ein materialistischer Triebbegriff verteidigen, ohne die bestehende Binarität der Geschlechter zu affirmieren. Die Analyse von Triebschicksalen, so schreibt Sigusch, sei zudem weder alleinig den Materialisten noch den Idealisten zu überlassen. Für materialistische Perspektiven und die Psychoanalyse eine Lanze brechend, betont Sigusch immer wieder auch die Bedeutung dieser, da sie „für die Sexualwissenschaft unverzichtbar zu sein scheint“, weil sie „die Nöte der Menschen verstehen will“, wodurch die „Theorien des Unbewussten und des Konflikts“ für das Begreifen von Sexualität „essentiell“ seien. Eine um die „naturalistisch-patriarchal[e]“ Vorstellung Freuds bereinigte Psychoanalyse sei ein fruchtbarer Bündnispartner. Hierbei müsse jedoch mit und gegen Freud das Minderwertigkeitsgefühl von Frauen nicht als „anatomisches Schicksal“ missverstanden, sondern als gesellschaftlich hervorgebracht analysiert werden. Zwar führt Sigusch hierbei feministische Psychoanalytikerinnen wie Jessica Benjamin oder Christa Rohde-Dachser in das Feld, es wäre jedoch wünschenswert gewesen, wenn Sigusch sich auch hierzu deutlicher positioniert hätte, wie eine solche Psychoanalyse auszusehen hätte.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass im gesamten Band kaum eine Aussage zum Phänomen der Polyamorie getroffen wird, obwohl sich erste Universitäten beginnen damit zu beschäftigen und empirische Studien in Auftrag gegeben werden. So subsumiert Sigusch die Polyamorie bündig als eine Erscheinungsform der Neosexuellen Revolution, ohne sich dazu jedoch eingehender zu äußern. Zwar hat sich Sigusch bereits damit beschäftigt[iii], es fragt sich jedoch, warum dies im Band kaum bis gar nicht berührt wird.

Trotz dieser Kritikpunkte ist abschließend jedoch zu unterstreichen: wer einen umfassenden und kritischen Überblick über Sexualformen verschiedenster Couleur, Atomisierungsprozesse und deren gelungene Einbettung in eine kritische Theorie der Gesellschaft sucht, wird an diesem Werk kaum vorbeikommen. Zwar erscheint auch der literarische Charakter einiger Texte bisweilen etwas aufgesetzt, dennoch schafft es Sigusch immer wieder auch mit einer Portion Polemik zu überzeugen: Dem zeitgenössischen Kontext, in dem aus der Not geboren zusehends das glückliche Singleleben sowie „self-sex“ propagiert werde, kontert er lakonisch: „Wer lebt schon aus freien Stücken allein?“

In Abwandlung von Theodor W. Adornos berühmten Diktum lässt sich mit Sigusch konstatieren: „Es gibt keine richtige Sexualität in der falschen.“ Die kategorische Notwendigkeit sie dennoch zu überwinden, den Mensch und seine Sexualität gegen Biologismus und Neoliberalismus als soziales Wesen zu begreifen und das mit Max Weber gefasste stahlharte Gehäuse der Hörigkeit, das das Soziale und somit auch das Sexuelle immer stärker prägt, vehement zu kritisieren sowie auf die noch verbliebenen Freiheiten hinzuweisen, stellen Verdienste des Aufklärers Sigusch dar.

Sigusch, Volkmar (2019): Kritische Sexualwissenschaft. Ein Fazit. Frankfurt und New York, 312 Seiten, 29,95 Euro.

[i] Der Aufsatz fußt auf einem Vortrag aus dem Jahr 1991 und wurde 1993 verschriftlicht.

[ii] Siehe Dworkin, Andrea: Pornography. Men possessing Women, New York 1981, S. 77ff.

[iii] Siehe z.B. ein Interview mit der Zeit. In: Zeit: https://www.zeit.de/campus/2018/01/sexualitaet-sexualmedizin-volkmar-sigusch-interview, 1.2.2018, abgerufen am 8.8.2019. Hierbei ist zu fragen, warum Sigusch die Polyamorie einseitig bejaht und als Zukunftsmodell propagiert, statt die damit verbundenen Ambivalenzen – hinsichtlich einer Verdinglichung und dem Versuch postmoderner Flüchtigkeit zu entgegnen – ausblendet.

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