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Viereinhalb Jahre Syriza, eine Bilanz (Teil 2)

Neuwahlen in Griechenland wurden für den 7. Juli 2019 terminiert. Nach einer hohen Niederlage bei den Europawahlen 2019 steht die Regierung von Alexis Tsipras vor der Abwahl. Im Januar 2015 ließ sich Tsipras Partei, SYRIZA, mit dem Slogan „erstes Mal links“ feiern. Sie reklamierte, die erste linke Partei zu sein, die in Griechenland an die Regierung kam. Zeit, Bilanz zu ziehen.

Bereits der Slogan „erstes Mal links“ entspricht per se nicht ganz der Wahrheit. SYRIZA trat die Regierung zusammen mit einem rechtspopulistischen Koalitionspartner, den Unabhängigen Griechen, an. Schließlich hatte im Oktober 1981 bereits eine andere Partei, die sich selbst im linken Lager einordnete, die Wahlen und die Regierung gewonnen. Es war die PASOK, die Panhellenische Sozialistische Bewegung von Andreas Papandreou. Am 25. Juni warb Tsipras offen um die Wähler der PASOK, jener Partei, welche von den Linken Jahrzehntelang als Mogelpackung bezeichnet wurde.

Grundsätzliche Positionen von SYRIZA – links?

Der Parteiname SYRIZA steht für „Koalition der radikalen Linken“. Bereits zu Beginn seiner ersten Amtszeit, vom Januar bis zum September 2015, hatte die Partei eine sehr große Anzahl von früheren PASOK-Politikern in ihren Reihen. Einige, Christos Spirtzis, Panagiotis Kouroublis und Nikos Toskas dienten von Anfang an als Minister. Im Team war von Anfang an der frühere Geheimdienstchef der konservativen Regierung von Kostas Karamanlis, Dimitris Papangelopoulos. Papangelopoulos, der von SYRIZA und nicht dem rechtspopulistischen Koalitionspartner Unabhängige Griechen ins Amt berufen wurde, war bis August 2015 ministerieller Staatssekretär im Justizministerium. Später, nachdem Tsipras wegen seines Schwenks zum Sparkurs im Sommer 2015 das Parlament aufgelöst hatte, wurde Papangelopoulos unter der Interimspremierministerin Vasiliki Thanou Justizminister. Nach dem Wahlsieg Tsipras im September 2015 bekam er das Amt des stellvertretenden Justizministers. Er ist somit einer der wenigen, die unter Tsipras von Anfang bis zum vorläufigen Ende der Regierung im gleichen Ressort dienten.

Nach dem Koalitionsbruch mit den Unabhängigen Griechen, im Januar 2019, übernahm Tsipras bis dato rechtspopulistische Minister in seine Fraktion. Elena Kountoura und Terence Quick hatten aus ihrer Abscheu vor Linken nie einen Hehl gemacht. Kountoura kandidierte bereits bei den Europawahlen für SYRIZA und gewann ihren Sitz im Europäischen Parlament. Der eingeschworene Anti-Linke ist jetzt auf den Wahllisten von SYRIZA und möchte sich erneut ins Parlament wählen lassen.

Schließlich integrierte Tsipras kurz vor den Wahlen auch noch Katerina Papakosta und ihre Partei New Greek Momentum (Nea Elliniki Ormi) auf die Wahllisten von SYRIZA. Papakosta war von 2000 bis 2017 mit kurzen Unterbrechungen Parlamentarierin für die konservative Nea Demokratia, bis sie 2017 aus der Partei ausgeschlossen wurde. In der letzten Regierung der Nea Dimokratia, unter dem von SYRIZA als rechtsextrem bezeichneten Antonis Samaras, war Papakosta ministerielle Staatssekretärin im Gesundheitsministerium. Im Oktober 2017 wurde Papakosta, die sich in einer Art Privatfehde mit dem Vizevorsitzenden der Nea Dimokratia, Adonis Georgiadis, befindet, von Parteichef Kyriakos Mitsotakis aus der Partei ausgeschlossen. Im Juli 2018 gründete sie, zusammen mit weiteren ehemaligen Politikern der Nea Dimokratia ihre eigene konservative Partei.

Als die Regierung im August 2018 wegen der Brandkatastrophe von Mati (104 Tote) unter Druck stand, wurde Papakosta vom rechtspopulistischen Koalitionspartner von Tsipras, dem Verteidigungsminister Panos Kammenos angeworben und als ministerielle Staatssekretärin ins Ministerium für Bürgerschutz berufen. Ihr Ressort dort ist die Polizei. Ausgerechnet Papakosta, die Tsipras bis kurz zuvor als „elendigen Tsipras“ bezeichnete. Ausgerechnet Papakosta, die angesichts der Flüchtlingskrise meinte, „die illegalen Einwanderer fluten unsere Grenzen zu Tausenden, wie die Kakerlaken“.

Sie blieb im Ministerium und in der Regierung, obwohl ihr Förderer, Panos Kammenos, die Koalition im Streit mit Tsipras aufkündigte. Schließlich wurde sie im Juni 2019 auf die Wahlliste von SYRIZA für den Bezirk B3 in Athen gesetzt.

Wie verhält sich die Polizei unter Papakosta?

Am 7. November 2018 kam am internationalen Flughafen Eleftherios Venizelos in Spata bei Athen ein Flug aus der Volksrepublik Kongo an. Wie die SYRIZA nahe stehende Zeitung EfSyn berichtet, befand sich eine Mutter samt ihrer sechsjährigen Tochter an Bord. Die beiden waren von Freunden ihres Ehemanns in der Heimat versteckt worden. Die Freunde des toten Ehemanns sorgten auch für die Flugreise. Kaum am Athener Flughafen angekommen ging die Frau sofort zur Flughafenpolizei und bat um Schutz und Asyl. Sie gab an, dass sie und ihre Tochter in der Heimat in Leib und Leben bedroht seien. Sie wurde von einem Büro ins nächste gebracht. Ein Dolmetscher wurde herbeigeholt. Die Frau sollte eine Geburtsurkunde ihres Kindes vorweisen.

Die Frau erklärte, dass sie nur mit dem, was sie am Leib habe und ohne jegliches Gepäck die Flucht geschafft hätte. Man sagte ihr, „das Kind wird von einer Frau abgeholt und wird mit anderen Kindern spielen. Du bleibst hier“. Danach begann für die beiden eine monatelange Odyssee durch die griechische Bürokratie.

Die Frau wurde erkennungsdienstlich erfasst und in einen anderen Raum gebracht, wo sie weitere Mütter mit Kindern vorfand. Sofort fragte sie „warum kann mein Kind nicht bei mir bleiben, hier sind doch auch andere Kinder?“. Dem Kind gehe es gut, wurde ihr gesagt, und dass sie nach Erledigung einiger Formalitäten ihr Kind zurückbekäme.

Zehn Tage blieb sie in der Transitstation des Flughafens. Zehn Tage in denen sie andere Frauen, aus Ägypten und Russland, mit Kindern kommen und gehen sah. Niemand informierte sie über ihr Kind. Sie traute sich nicht zu fragen. Nach den zehn Tagen wurde sie informiert, dass sie in eine Flüchtlingsunterkunft käme. Sie kam ins Gefängnis für Ausländer in der Petrou Ralli Straße. Polizisten dort sagten ihr, sie solle ruhig sein, fragten sie aber auch, wo ihr Kind sei.

Dies trieb die Frau fast in den Wahnsinn. Sie verbrachte ihre Zeit in Haft mit Weinen, Schreien nach ihrem Kind und schlug oft in ihrer Verzweiflung gegen die Wände. Die übrigen inhaftierten Frauen triggerten sie mit Geschichten über sexuelle Ausbeutung von Kindern. Die Frau wurde auch gegen eine der Mitgefangenen, die sie mit solchen Geschichten quälte, gewalttätig.

Schließlich weigerte sie sich nach einem Hofgang in die Zelle zurückzukehren. Sie konnte selbst vom gefürchtetsten Wärter der Anstalt nicht zur Rückkehr in die Zelle bewegt werden. Schließlich wurde der Gefängnispsychologe geholt. Dieser versuchte sie zu beruhigen und erklärte, dem Kind gehe es gut. Er konnte es jedoch nicht beweisen. Die Frau erlitt einen Nervenzusammenbruch und wurde medikamentös ruhig gestellt.

Die Wende im Fall kam, als eine Hilfsorganisation von Frauen, „To Mov“ (das Lila), auf den Fall aufmerksam wurde. Die Organisation besucht regelmäßig die Frauen in der Haftanstalt Petrou Ralli.

„To Mov“ wandte sich an die Organisation „Defence for Children“. Diese fand heraus, dass von Mutter und Tochter seitens der Polizei DNA-Proben genommen wurden, weil die Polizisten zweifelten, dass es sich um tatsächliche Verwandte handeln würde. Der Asylantrag der Frau wurde erfasst, der des Kindes nicht. Rechtlich galt die Frau somit in ihrem Asylverfahren als Kinderlose.

Trotz des Einsatzes von Anwälten gelang es der Hilfsorganisation erst nach zwei Monaten herauszufinden, dass das Kind in Griechenland war und lebte. Die Staatsanwaltschaft für Minderjährige, welche den Fall übernommen hatte und juristische Vormundschaft hatte, hatte das Kind an eine weitere Hilfsorganisation übergeben, berichtet die EfSyn.

Das Kind kam vom Flughafen ins Kinderkrankenhaus von Athen, in die Abteilung für unbegleitete Kinder. Von dort kam es in ein Waisenhaus, das wiederum keinerlei Informationen über die Existenz einer Mutter erhielt. Dem Kind wurde nicht gesagt, wo die Mutter war oder warum es von ihr getrennt wurde.

Ende Januar 2019 wurde die Mutter im Gefängnis darüber informiert, dass die DNA-Untersuchung das Elternverhältnis bestätigt habe. Die Hilfsorganisationen fanden heraus, dass die Behörden das Ergebnis seit mehr als einem Monat kannten. Es dauerte trotzdem noch einmal mehr als einen Monat, bis die Frau aus der Haft entlassen wurde und noch einmal eine gewisse Zeit, bis sie ihre Tochter sehen durfte. Die Freilassung der Frau erfolgte am 8 März, nachdem das obligatorische Interview für den Asylantrag durchgeführt wurde. Bis zur Befragung der Asylsuchenden vergingen vom Zeitpunkt der Antragstellung somit vier Monate. Solche Verzögerungen sind die Regel und nicht die Ausnahme im griechischen Asylverfahren.

Die Staatsanwaltschaft bestand darauf, dass sie das Kind erst sehen dürfe, wenn ein passender Platz für beide in einem Flüchtlingslager gefunden sei. Die Staatsanwaltschaft kümmerte sich jedoch nicht darum, eine ihren Ansprüchen entsprechende, staatliche Unterkunft zu finden. Auch dies musste von den freiwilligen Hilfsorganisationen übernommen werden.

Zunächst aber musste die Frau auf ihre Abschrift des Asylantrags warten, womit noch einmal zehn Tage vergingen. Erst dann war sie berechtigt, für ihr Kind einen Antrag zu stellen. Mit viel Druck von Seiten der Hilfsorganisationen wurde schließlich ein Treffen von Mutter und Kind ermöglicht. Die Mutter stellte fest, dass sich ihre Tochter kaum traute, die Muttersprache, Französisch zu sprechen. Sie fragt sich, ob derartige Verfahren in ganz Europa üblich sind. Heute leben die beiden zusammen in einer Flüchtlingsunterkunft. Die Tochter wird bald eingeschult und die Mutter sucht nach einer Arbeit.

Die systematische Bekämpfung der Flüchtlinge unter der Linksregierung

Leider sind solche Fälle kein Einzelfall. Vielmehr hat Griechenland unter seiner nominell linken Regierung ein System von abschreckenden und schikanösen Maßnahmen aufgebaut, um Flüchtlinge von vornherein von der Flucht nach Griechenland abzuhalten. Das berüchtigte Lager Moria auf Lesbos, dort wo Frauen nachts Windeln anziehen, um nicht auf die Toilette des mehrfach überbelegten Lagers zu müssen, ist kein Fehler im System, wie es die griechische Regierung gern verkündet. Es ist ein Teil des Systems der Abschreckung, in dem gewaltsame Rückführungen in die Türkei regelmäßig registriert werden.

Jüngst wurde Griechenland erneut beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt. Im aktuellen Fall, der in der griechischen Presse Mitte Juni publiziert wurde, ging es darum, dass vier minderjährige Asylbewerber im Alter von 14 bis 17 Jahren im Jahr 2016 aus Afghanistan vom griechischen Staat nicht geschützt wurden. Die vier hatten unter Angabe ihrer Religionszugehörigkeit zu den Ismailiten einen Asylantrag stellen wollen. Sie wurden, ohne dass ihnen Gründe mitgeteilt wurden, zusammen mit Erwachsenen, in Zellen ohne Sanitäranlagen und Zugang zur Frischluft eingesperrt. Schließlich wurden sie mit einem Ausweisungsbeschluss entlassen und lebten knapp einen Monat im berüchtigten, wilden Grenzlager von Idomeni. Drei der Afghanen erhielten nun eine Entschädigung von 6000 Euro, einer erhielt 4000 Euro.

Im März 2019 gab es einen ähnlichen Fall, bei dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte neun minderjährigen Flüchtlingen aus Marokko, Irak und Syrien, die jeweils 4000 Euro Entschädigung zugesprochen bekamen.

Der wirkliche Bankrott der Regierung Tsipras liegt nicht in der Adaption neoliberaler Sparmaßnahmen, sondern vielmehr darin, dass grundlegende Werte der Menschlichkeit über Bord geworfen wurden. Denn trotz des Fiaskos in der Flüchtlingspolitik feiert sich die Regierung für ihre „Menschlichkeit“.

Schließlich hat die Übernahme von Politikern aus dem sozialdemokratischen Lager und auch aus konservativen und rechten Parteien das Image einer „Radikalen Linken“, als die sich SYRIZA bezeichnet, nachhaltig zerstört.

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