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Viereinhalb Jahre Syriza, eine Bilanz (Teil 1)

Die Resultate der griechischen Linksregierung

Am Montag, den 10. Juni ging der griechische Premier Alexis Tsipras zu Staatspräsident Prokopis Pavlopoulos. Er ersuchte den Präsidenten um eine Auflösung des Parlaments und damit um vorgezogene Neuwahlen. Diese wurden für den 7. Juli 2019 terminiert. Tsipras begründete seinen Antrag für vorgezogene Neuwahlen mit der Gefahr, die für die Wirtschaft des Landes drohen würde, wenn es den gesamten Sommer über bis zum September oder Oktober einen intensiven Wahlkampf erleben würde. Tsipras hatte bei den Europawahlen im Mai 2019 mit beinahe zehn Prozent Rückstand, deutlich gegen die konservative Nea Dimokratia unter Kyriakos Mitsotakis verloren.

Sofort nach seinem Gang zum Präsidenten eilte der Premier ins Athener Opernhaus. Dort stellte Tsipras sein Wahlkampfprogramm vor. Er versprach 500.000 neue Arbeitsplätze, die Erhöhung des Mindestlohns auf 751 Euro pro Monat, und vieles mehr, was er bereits 2014 beim „Wahlprogramm von Thessaloniki“ versprochen und hinterher nicht gehalten hatte. Nun also will er, weil er „zum ersten Mal seit zehn Jahren die Möglichkeit zur Planung einer eigenen Politik“ hätte, die von ihm initiierten sozial einschneidenden Maßnahmen rückgängig machen.

Es ist müßig darüber zu diskutieren, was den Spitzenkandidaten der Linken für die Europawahl 2014 und jetzigen Unterstützer des Kandidaten der europäischen Sozialdemokratie zur Annahme der neoliberalen Sparmaßnahmen gebracht hat. Wahlweise wird dieses Umfallen mit Realpolitik oder aber mit dem großen Druck der Kreditgeber begründet.

Die vorliegende Bilanz handelt daher auch nicht über wirtschaftspolitische Beschlüsse der Politik Tsipras. Der Fokus liegt vielmehr auf den Themen, in denen Tsipras ohne Belastung der Staatskasse eine linke Politik und eine sozial orientierte Ideologie hätte manifestieren können, wenn er den Willen dazu gehabt hätte.

Teil 1: Der Prozess gegen die Goldene Morgenröte

Am 18. September 2013 wurde der Rapper KilahP, mit bürgerlichem Namen als Pavlos Fyssas, in Keratsini vor den Augen der anwesenden Polizei von einem „Sturmtrupp“ der Goldenen Morgenröte umzingelt. Fyssas war für sein antifaschistisches Engagement bekannt. Die Schläger der Goldenen Morgenröte hatten einen Tipp erhalten, wo er, seine Lebensgefährtin und ein paar Freunde gerade in einem Café ein Fußballspiel sahen.

Sie rückten organisiert an. Fyssas stellte sich vor seine Freunde und versuchte, die Angriffe des Sturmtrupps abzuwehren. Die Polizei schaute tatenlos zu. Schließlich kam Georgios Roupakias, ein weiterer Schläger der Goldenen Morgenröte mit seinem Auto. Roupakias fuhr verkehrt herum in eine Einbahnstraße – auch vor Augen der Polizei. Er nahm ein Messer aus dem Auto, schritt auf Fyssas zu und stach diesem gezielt in die Herzgegend. Dabei drehte er das Messer in der Wunde, um maximalen Schaden anzurichten. Fyssas starb noch am Tatort.

Es war nicht die erste derartige Tat, welche der Goldenen Morgenröte zur Last gelegt wird. Am 17. Januar 2013 gegen drei Uhr morgens fuhr der pakistanische Arbeiter Shehzad Luqman mit seinem Fahrrad vom Athener Vorort Peristeri zum Athener Viertel Petralona. Dort arbeitete er auf dem Wochenmarkt. Zwei Mitglieder der Goldenen Morgenröte lauerten ihm auf, rissen ihn vom Fahrrad und erstachen ihn nach dem gleichen Muster der Tat gegen Fyssas.

Am 12. September 2013 hatten dreißig Mitglieder eines „Sturmtrupps“ der Goldenen Morgenröte in Perama auf der Avenue der Demokratie eine kleine Gruppe von Plakatklebern der kommunistischen Partei und der kommunistischen Jugend gestellt. Unter ihnen befand sich der Vorsitzende der Metallgewerkschaft von Piräus, Sotiris Poulikogiannis. Die Plakatkleber waren damit beschäftigt, Werbung für das 39. Kommunistische Jugendfestival (19. -21. September 2013 im Tritsis Park in Ilion) anzubringen.

Der „Sturmtrupp“ kam mit Motorrädern und Autos aus den Seitenstraßen und umringte die Plakatkleber. Mit Eisenstangen und Knüppeln, an deren Ende dicke Nägel eingeschlagen waren, droschen die Angreifer auf ihre Opfer ein. Die Wucht der Schläge war so heftig, dass selbst geparkte Autos, die nur zufällig von den Hieben getroffen wurden, nachher mit Löchern übersät waren. Die Angreifer waren vermummt und trugen teilweise T-Shirts der Goldenen Morgenröte. Am Ende mussten neun der Opfer der Schläger ins Krankenhaus.

Am 10. Oktober 2012 drangen neun Personen, die sich als Mitglieder der Goldenen Morgenröte bezeichneten, in die Wohnung eines Pakistaners auf der Insel Chios ein. Sie bedrohten den Mann und forderten ihn auf, die Insel zu verlassen. Einer der neun Angreifer wurde als Beamter der Küstenwache identifiziert.

Am 7. November 2012 wurden zwei Mitglieder der Goldenen Morgenröte verhaftet, die in Thessaloniki zwei Studenten angegriffen und geschlagen hatten. Am 12. Juni 2013 hatte eine Vorschullehrerin angezeigt, dass sie von einem Mitglied der Goldenen Morgenröte aufgefordert wurde, ausländische Kinder der Schule zu verweisen. Anderenfalls, so drohte der Mann, würde ein „Sturmtrupp“ die Vorschule stürmen.

Nach dem gleichen Muster, auf Motorrädern zum Tatort kommend und mit Knüppeln, Messern und Eisenstangen bewaffnet, hatte ein „Sturmtrupp“ am 12. Juni 2012 um drei Uhr morgens das Wohnhaus von vier ägyptischen Fischern, in Perama an der Grenze zu Keratsini, aufgesucht. Die Fischer wurden im Schlaf überrascht. Drei konnten fliehen, einer wurde lebensgefährlich verletzt.

„Sturmtrupps“ griffen soziale Zentren von Flüchtlingshilfsvereinen, von Anarchisten und von Kommunisten an. Parlamentarier der Goldenen Morgenröte nutzten ihre parlamentarische Immunität, um auf Wochenmärkten und bei Straßenfesten mit einer Amtsanmaßung die Stände zu kontrollieren und die Verkaufsplätze, an denen sie Ausländer antrafen zu zerstören. Die Polizisten, welche der Staat zum Schutz der Abgeordneten abgestellt hatte, schauten dem illegalen Treiben ebenso zu, wie anwesende Ordnungskräfte auf den Märkten.

Schläger der Partei drangen im Zentrum Athens in einen Barber-Shop eines Immigranten ein, zerstörten diesen und verletzten einen der Anwesenden mit einem Messer. Sie fackelten eine Bar von Immigranten am Amerika Platz, ebenfalls in Athen, ab, weil sich Anwohner von den Immigranten gestört fühlten. Die Liste der strafrechtlich registrierten Vergehen, welche die Justiz im Zusammenhang mit der Goldenen Morgenröte sieht, ist lang.

Nach dem Mord an Pavlos Fyssas entdeckte die in ihrer Wirkung durchaus als rassistisch einzustufende Justiz des Landes die Goldene Morgenröte als „kriminelle Organisation“. Damals regierte die konservative Nea Dimokratia gemeinsam mit der sozialdemokratischen PASOK. Die Parlamentsabgeordneten der Goldenen Morgenröte wurden verhaftet. Rund um den auf frischer Tat beobachteten Mörder von Pavlos Fyssas wurde ein ganzes Netzwerk an Mitgliedern der Goldenen Morgenröte verhaftet und gemeinsam mit den anderen in U-Haft genommen. Dies alles spielte sich im Herbst 2013 ab.

Die Staatsanwaltschaft sammelte sämtliche greifbaren Anklagepunkte gegen Parlamentarier und Mitglieder der Partei, sie belegte ihre Anklage mit abgehörten Telefonaten und elektronischem Nachrichtenaustausch der Angeklagten untereinander. Schließlich kam sie zum Schluss, die gesamte Führungsspitze der Goldenen Morgenröte, gemeinsam mit den die einzelnen Attacken ausführenden Mitgliedern der „Sturmtrupps“ wegen Bildung und Führung einer kriminellen Vereinigung vor Gericht zu stellen.

Ziel der Anklage mit den diesbezüglichen Strafrechtsparagraphen war es, auf diese Weise auch den Hintermännern der Parteiführung Strafen von mindestens zehn Jahren Zuchthaus zu bescheren. Zudem führt(e) eine Verurteilung wegen „Führung einer kriminellen Vereinigung“ auch zum Verbot der politischen Betätigung.

Insgesamt wurden 69 Personen angeklagt. 18 davon sind die im Juni 2012 gewählten Parlamentarier der Goldenen Morgenröte. Diese wurden mit der Anklage der „Führung einer kriminellen Vereinigung“ vor Gericht gestellt. Über dieses Vergehen hinaus werden als Kapitalverbrechen der Mord an Fyssas, der mörderische Angriff auf die ägyptischen Fischer und der ebenfalls als versuchter Mord angeklagte Angriff auf die Kommunisten in Perama verhandelt.

Die Anklageschrift wurde vorbereitet, die Angeklagten wurden verhört und das Mammutverfahren wurde vorbereitet. Zwischenzeitlich fanden die Europawahlen 2014 und die vorgezogenen Parlamentswahlen am 25. Januar 2015 statt. Tsipras hatte im Dezember 2014 im Parlament die Wahl eines neuen Staatspräsidenten blockiert und damit Neuwahlen ausgelöst. Die Goldene Morgenröte trat dabei ebenso an, wie bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im September 2015, den Europawahlen im Mai 2019 und sie kandidiert erneut bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 7. Juli 2019.

Durch die Wahlen verzögerte sich der Beginn der Hauptverhandlung. Der erste Verhandlungstag fand am 20. April 2015 statt. Seitdem gab es 361 Verhandlungstage. In Griechenland wird der Prozess gegen die Goldene Morgenröte gern mit den Nürnberger Prozessen verglichen. Kritiker monieren dass der Prozess vor dem Internationalen Militärgerichtshof vom 20. November 1945 bis 1. Oktober 1946 in Nürnberg durchgeführt wurde, und keiner der zwölf Nachfolgeprozesse die Dauer von zwei Jahren hatte. Sie verweisen darauf, dass es beim Prozess gegen die Goldene Morgenröte zahlreiche, vermeidbare, Verzögerungen gab.

Kostas Papadakis ist einer der Anwälte der Nebenklage im Prozess gegen die Goldene Morgenröte. Er spricht offen aus, wo er in der Politik der Regierung Tsipras Vergünstigungen für die Goldene Morgenröte sieht. Die Anwälte der Nebenklage vertreten die Opfer der Goldenen Morgenröte. Im Gegensatz zu den Verteidigern der Partei sind sie pro bono, für ihre Mandanten kostenlos tätig. Die Verzögerung des Prozesses belastet diese Anwälte auch finanziell. Schließlich verzichten sie nicht nur auf ihre Honorare, sondern engagieren sich auch mit Sachleistungen.

Bei einem Solidaritätskonzert des Internetmagazins Katiousa.gr, welches Zwecks Sammlung finanzieller Unterstützung der Nebenklage im Prozess gegen die Goldene Morgenröte durchgeführt wurde, sprachen die Anwalte Maria Parenti und Kostas Papadakis diese Problematik an.

Papadakis verweist darauf, dass der Prozess zum großen Teil unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Denn viele Verhandlungstage werden in einem Raum des Gefängniskomplexes Korydallos abgehalten. Einer der Gründe, warum sich der Prozess immer wieder verzögert, ist das Fehlen von Verhandlungssälen. Offensichtlich fällt es Tsipras leichter, im Eiltempo die Athener Oper für seine Wahlveranstaltung zu buchen, als einen Saal für die Verhandlungen gegen die Goldene Morgenröte zu finden.

Die Verzögerung hatte unter anderen zur Folge, dass die Angeklagten des Mammutprozesses mittlerweile, bis auf die in anderen Verfahren Verurteilten, allesamt auf freiem Fuß sind. Auch der Mörder Fyssas, Georgios Roupakias, wurde nach achtzehn Monaten Untersuchungshaft entlassen. Die Parlamentarier der Partei sind ebenfalls frei. Bei Straftätern, die dem linken oder dem autonomen politischen Spektrum zugerechnet werden, findet die Justiz leicht Gründe, welche nach dem Überschreiten der maximalen Untersuchungshaftdauer für eine weitere Inhaftierung sorgen.

Bei den Angehörigen der Goldenen Morgenröte gelang das nicht. Zunächst wurden sie gegen Auflagen, darunter auch das Verbot politische Versammlungen, zu besuchen und das Land nicht zu verlassen, frei gelassen. Mittlerweile nehmen die Angeklagten ohne Probleme an politischen Versammlungen teil. Einer der Hauptangeklagte, Giannis Lagos, wurde sogar zum Europaparlamentarier gewählt. Nun muss sich zeigen, ob er auch nach Brüssel ausreisen darf.

Abgeordnete von SYRIZA reisten während Tsipras Regierungszeit zusammen mit Parlamentariern der Goldenen Morgenröte zu griechischen Grenzinseln und ließen sich dort auch zusammen fotografieren. Die SYRIZA-Politiker zeigen auch bei öffentlichen Veranstaltungen keine Scheu, in der Nähe der angeklagten Politiker der GM fotografiert zu werden. Sie begründen dies damit, dass die Partei schließlich im Parlament vertreten sei.

Dafür, dass dies weiterhin so bleibt, legten die SYRIZA-Parlamentarier selbst den Grundstein. Sie verabschiedeten am vorletzten Sitzungstag des Parlaments im Eilverfahren, also ohne parlamentarische Aussprache, eine Reform des kompletten Strafgesetzbuches. Darin enthalten sind Verschärfungen der Paragraphen, mit denen linksautonome Demonstranten unter Anklage gestellt werden.

Auf der anderen Seite wurde die Mindeststrafe für Mord gesenkt, was für Roupakias bedeutet, dass er die lebenslängliche Freiheitsstrafe umgehen kann. Eventuell kommt der Mann, der seit seiner Entlassung in einer Art Hausarrest lebt, gar nicht mehr in Haft, wenn ihm die Arrestzeit auf die Mindeststrafe von zehn Jahren angerechnet wird, und eine Reststrafe erlassen wird.

Noch besser hilft die Strafrechtsreform der Führungsspitze der Partei. Sie muss kein Verbot politischer Betätigung fürchten. Denn diese Bestrafung wurde aus dem Katalog der Strafen für „Führer einer kriminellen Vereinigung“ ersatzlos gestrichen. Während ihrer U-Haft bekamen die inhaftierten Angeklagten, die gleichzeitig Parlamentarier waren, die Erlaubnis, den Sitzungen des Parlaments beizuwohnen. Zudem behandelt der neue Strafartikel die Anführer einer kriminellen Vereinigung wie einfache Mitläufer. Die Mindeststrafe wurde auf fünf Jahre gesenkt, womit auch hier eine eventuell sanfte Verurteilung der Angeklagten möglich ist.

Es ist erschrecken, dass es der regierungsnahen Presse erst nach der Abstimmung im Parlament aufgefallen ist. Vorher wollte niemand, der SYRIZA nahe stand etwas davon wissen. Zudem sorgte eine umstrittene, später zurückgenommene Reform des Artikels, mit dem Vergewaltigung unter Strafe gestellt wird, für großes, den Fall Goldene Morgenröte überdeckendes Aufsehen. Die Regierung wollte in ihrer Reform, eine Vergewaltigung nur dann als solche bezeichnen, wenn das Opfer körperliche Gewalt nachweisen könnte.

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