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09.09.2016

01.02.19

Cyntonia Brown: als Jugendliche zwangsprostituiert, auf lebenslang eingesperrt, endlich begnadigt

Die Amerikanerin Cyntonia Brown war noch nie in ihrem Leben frei - das soll sich jetzt ändern. Doch zahllose Mädchen und Frauen erleiden unsichtbar ihr Schicksal und können von der Freiheit nur träumen.

Frauenfeindlicher Justizmissbrauch ist im Patriarchat gang und gäbe. Nicht gezählte Frauenmorde in Australien, Unrecht sprechende Richter und deutsche Politiker, die durch ihre Stimme Gesetzesentwürfe blockieren, die Frauen das Recht auf Unversehrtheit versprechen. Gesetzesänderungen wie das Prostituiertenschutzgesetz von 2017 erkennen wiederum prinzipiell an, dass der Menschenhandel in Deutschland bekämpft werden muss, erreichten jedoch durch die Legalisierung von Prostitution nur, dass Deutschland zum Bordell Europas geworden ist.

In den USA hingegen ist Prostitution nicht legal. Sexkäufer berührt das in der Praxis kaum. Doch Frauen, die in diesem ausbeuterischen System gefangen sind, werden kriminalisiert. Das bedeutet, dass eine Frau, die aufgrund existenzieller Not oder männlicher Gewalt prostituiert wird, immer in Gefahr ist, inhaftiert zu werden, eine Geldbuße zahlen muss und in jedem Falle zusätzlich stigmatisiert wird.

Das galt bis vor nicht allzu langer Zeit auch für sogenannte “jugendliche Prostituierte”. Wie die Vostellung anschaffender Teenager propagandistisch romantisiert wird, zeigt die neue Netflix-Serie „Baby“ – eine Show über italienische „Baby Squillo” / Callgirls, die aufgrund von jugendlichem Leichtsinn und materieller Gier vermeintlich freiwillig und gerne der Prostitution nachgehen.

Die Wahrheit jedoch ist, dass Prostitution bezahlte Vergewaltigung ist, wie die Forscherin Melissa Farley in ihren internationalen Studien belegt. Dass Frauen sich nicht prostituieren, sondern vielmehr prostituiert werden – wie die Überlebende Rachel Moran sagt, denn Prostitution ist zugefügte (und nicht: selbst gewählte) Gewalt. Dass viele Frauen das Werkzeug zum Missbrauchtwerden aus ihrer Kindheit mitbringen, in der sie sexuelle Übergriffigkeit erleben und die Fähigkeit zur Dissoziation als Überlebensstrategie entwickeln mussten. Geprägt von patriarchalen Glaubenssätzen und gekauft durch die mächtige, millionenschwere Pro-Prostitutionslobby, verschwendet unsere Gesellschaft Zeit damit, über diese bereits durch Wissenschaft belegten und von Überlebenden der Prostitution tausendfach berichteten Fakten zu debattieren.

Und doch – selbst hartgesottene AnhängerInnen des Mythos “Häppy Sexwörk” stimmen in der Regel mit Abolitionistinnen in Punkto Kinderprostitution überein. Kinder und Jugendliche können kein Einverständnis zum Sex mit zahlenden Erwachsenen geben und sollten in keinem Falle von kassierenden Zuhältern durch die Lande geschleppt werden, um für die Befriedigung pädophiler Machtgeilheit von Männern ausgenutzt zu werden.

Die Prostitution von Kindern und Jugendlichen ist gewaltsamer Menschenhandel. Das rufen nicht mehr nur Radikalfeministinnen von den Zitadellen. Selbst die meisten Liberalfeministinnen stimmen ein. Und sogar die USA nicken mit. Denn neueren Gesetzen zufolge darf kein Mensch unter 18 Jahren wegen Prostitution belangt und lebenslang der Freihet beraubt werden.

Ausschlaggebender Präzendenzfall für diesen juristischen Umbruch war Cyntonia Brown.

Cyntonia Brown

Cyntonias Geschichte ist von ihrem Beginn an von herzzerreißendem Schmerz und unvorstellbarer Gewalt geprägt. Im Alter von nur zwei Jahren wurde sie zur Adoption freigegeben – hiernach hielt das Leben nur einen seelenmordenden Teufelskreis aus Trauma, Gewalt, Drogen und Missbrauch bereit. Mehrmals lief sie von ihren Pflegefamilien weg, wurde in Jugendhaft gesperrt, floh auch von dort. Schließlich gerät sie an einen gewalttätigen Zuhälter namens Garion McGlothen, bekannt unter dem Straßennamen „Cut-Throat“ oder „Kut“, der das Mädchen vergewaltigt, unter Drogen setzt und sie an andere zahlende Vergewaltiger verkauft.

Das Leben in ständiger Angst, unter bewusstseinsverändernden Drogen und mit demütigenden Entwürdigungen, machte das junge Mädchen psychisch krank und chronisch paranoid. Ununterbrochen stand sie unter körperlicher und seelischer Folter und konstanter Angst getötet zu werden.

Während ihrer Gefangenschaft, berichtet die Überlebende, war ständig eine Waffe auf sie gerichtet.

So zog sie mit “Kut” von Motel zu Motel. Regelmäßig wurde sie geschlagen, vergewaltigt und gewürgt. Warum sie nicht versuchte zu entkommen?, wird die junge Frau in der Dokumentation gefragt. „Du hörst nicht zu. Ich habe ihm Geld eingebracht. Er hätte mich nirgendwohin gehen lassen. Er hat gesagt, dass er mich umbringen würde. Dass er weiß, wo meine Mutter lebt. Und ich weiß genau, wenn ein Kerl mich würgen kann bis ich fast ohnmächtig bin, dann hat er auch kein Problem damit mich umzubringen.“

Mit 16 wurde sie als Sexsklavin an den 43-jährigen Makler Johnny Mitchell Allan vermietet. Der Pädophile nahm die Jugendliche mit in ein Hotel, um sich an ihr zu vergehen. Sie wehrte sich. Er war high.

Dann drehte er sich im Bett um. Cyntonia dachte, er wolle nach einer Waffe unter dem Bett greifen. Jetzt – da war sie sich sicher – würde er sie töten. Sie griff nach einer Pistole und erschoss den Kinderschänder.

Doch sie wusste genau, würde Cutthroat sie ohne Ausbeute erwischen, käme sie nicht ohne weitere Gewalt davon. So ließ die Jugendliche einige Wertgegenstände mitgehen.

Ihre Flucht währte nicht lang. Kurze Zeit später wurde sie gefasst und wegen Mord und Diebstahl angeklagt.

Als sie 2004 vor Gericht gestellt wurde, entschied man, dass über das junge Mädchen nicht nach dem Jugendrecht, sondern als Erwachsene geurteilt werden sollte. Cyntonias Geschichte, ihre Qualen und ihre Notwehr waren dem Gericht gleich – sie wurde zu einer lebenslanger Haft verurteilt. Und so wurde das verschleppte Mädchen, das nie Selbstbestimmung über ihren Körper oder ihr Leben haben durfte, von der Gefangenschaft unter Menschenhändlern schließlich von der Justiz als Täterin gebrandmarkt und in das staatliche Gefängnis überführt. Lebenslanger Freiheitsentzug für leidgeplagte Frauen – das patriarchale Unrechtsgesetz hatte wieder einmal gesprochen.

Den unwürdigen Umständen zum Trotz, machte Cyntonia das Beste aus ihrer nächsten Gefangenschaft. Sie erreichte den Abschluss “Associate of Arts” mit Bestnoten und bereitet sich derzeit daruf vor auch den “Bachelor of Arts” zu absolvieren. Auch unterstützte sie andere Häftlinge darin, den Schulabschluss nachzuholen.

Von ihren Mitmenschen wird sie als sehr intelligente, empathische und resiliente Frau erlebt und hoch geschätzt.

Seit Cyntonias Abtransport von einem männergemachten Käfig in den nächsten, hat sich allerdings auch außerhalb der Gefängnismauern einiges geändert. Im Jahr 2012 befand der oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika die Bestrafung Jugendlicher mit lebenslanger Haft ohne Bewährungsmöglichkeit als verfassungswidrig.

Auch der Staat Tennessee hat in Bezug auf Kinderprostitution nachgezogen – kein junger Mensch unter 18 Jahren darf für Prostitution belangt werden. Hier ist ebenjene Weisheit endlich angekommen, dass Kinder und Jugendliche vor sexueller Ausbeutung, bezahlter Vergewaltigung und Menschenhandel geschützt werden müssen.

Nicht zuletzt wurden diese Veränderungen angeregt durch Cyntonia Browns Geschichte. Diese erfuhr große Aufmerksamkeit, als der Collegestudent Brock Turner eine junge Frau auf dem Campus einer Universität hinter Mülltonnen brutal vergewaltigte. Auf den sozialen Medien wurden tausendfach Artikel und Videos geteilt, die durch den Vergleich zwischen den Gerichtsurteilen von Turner und Brown das Unrecht und die Misogynie patriarchaler Gesetzgebung anklagen:

Warum bekommt ein brutaler Vergewaltiger in Bemühung um Erhaltung seiner vermeintlichen Würde und Karriere nach drei Monaten seine Freiheit zurück – während ein als Sex-Sklavin verschlepptes Mädchen, das in Notwehr handelte, lebenslang hinter Gittern muss?

Diese Frage stellten auch viele Prominente, so u.a. Rihanna oder Kim Kardashian. Ihre Unterstützung generierte Aufmerksamkeit um den Fall und sorgte für eine Welle der Empörung, die von den Bildschirmen in die Gerichte überschwappte. Aufgrund des medialen Zuspruchs durch den Hashtag #freecyntonia und den rechtlichen Veränderungen auf Staats- und Nationalebene, bemühte sich Cyntonia Brown 2018 um ein Gnadengesuch. In Anerkennung, dass es unrecht ist, jugendliche Straftäter lebenslang einzusperren und in Anbetracht der juristischen Erkenntnis, dass jugendliche Prostituierte immer Opfer von Menschenhandel sind, versprach sich Cyntonia – wie die Bevölkerung auch – endlich Freiheit.

Doch nach der ersten Anhörung entschied der oberste Gerichtshofs des Bundesstaats Tennessee am 6. Dezember 2018 gegen Cyntonias Begnadigung. Die sechs RichterInnen waren gespalten – zwei dafür, zwei dagegen und zwei für eine Umwandlung der Haftstrafe in Bewährung, jedoch nicht vor dem 25. Haftjahr. Im Ergebnis konnte die junge Frau erst nach 51 Jahren Gefängnis nochmals um Strafmilderung ersuchen.

Ein Leben unter patriarchaler Gewalt und hinter männergemachten Gittern.

Begnadigung durch den Gouverneur

Doch das letzte Wort im Fall Brown war noch nicht gesprochen. Der Governeur Bill Haslam erhielt Ende des vergangenen Jahres eine wahre Flut von Zuschriften, Anrufen und Petitionen – von zahlreichen US-BürgerInnen, aber auch aus aller Welt. Durch den zusätzlichen massiven medialen Druck, für den Feministinnen sorgten, konnte er endlich zu einer Handlung bewegt werden.

Cyntonia kommt frei.

Doch wer entschädigt sie für die erfahrene Gewalt und das juristische Unrecht, das sie erlitten hat?

Unschätzbar viele Frauen erleben ähnliche Schicksale wie Cyntonia.

Wer kämpft für sie? Wann werden sie befreit? Wie kann das Unrecht, das sie erfahren haben, je wett gemacht werden?

Dem Gesetz sind Frauen egal. Sie zu benutzen und danach zu bestrafen, dafür wird es genutzt. Ihnen Schutz und Recht einzuräumen, das geschieht selbst dann nicht, wenn der Gesetzgeber die Möglichkeit dazu bietet.

Diese juristischen Missbräuche des Gesetztes gegenüber missbrauchten Frauen kennen wir auch aus Deutschland, wo Vergewaltigungsopfer trotz “Nein heißt nein”-Gesetz ungehört bleiben, Täter freigesprochen und Opfer wegen vermeintlicher Falschaussage belangt werden.

Es kann keine Freiheit für Frauen geben, wo Männer sich die Freiheit nehmen und das Recht behalten deren Leben zu zerstören.

Keine juristische oder gesellschaftliche Veränderung kann das Patriarchat zerstören, ohne Männer für ihr Unrecht zu bestrafen und Frauen die Freiheit zu geben, ihre Stimme geltend zu machen.

Cyntonia muss frei sein – und wie sie jedes andere Opfer von männlicher Gewalt, das zu Unrecht vom Gesetz bestraft wurde. Mehr noch: Frauen, denen Unrecht angetan wurde und die zusätzlich zu Unrecht dafür bestraft wurden, müssen entschädigt werden.

Frauen müssen vor Männergewaltgeschützt werden.

Männer müssen für ihre Gewalttaten bestraft werden.

Frauen haben ein Recht auf Freiheit, Unversehrtheit und Entschädigung. Von dieser Gerechtigkeit, das zeigt der jahrelange Kampf um Cyntonias Freiheit, ist unsere Gesellschaft und unser Rechtssystem noch weit entfernt.

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