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Frankreich brennt – aber warum gibt es keine Nachrichten über Proteste mehr in Griechenland?

Über den Stand von Streiks und sozialen Bewegungen in Griechenland, Ende 2018

In Frankreich erschüttern die „Gelben Westen“ die vorweihnachtliche Gemütlichkeit der Regierenden. Die Welle des Protestes scheint auch auf Belgien und die Niederlande überzuschwappen. Es handelt sich um hinsichtlich ihres politischen Vorzeichens gemischte Gruppen von Protestlern. Das erinnert an die „Aganaktismeni“, die griechische Bewegung der „Empörten“, die unter ähnlichem Vorzeichen 2011 und 2012 gegen den Sparkurs in Griechenland demonstrierte. Die Austerität in Athen dauert bis heute an. Sie wurde vertraglich und gesetzlich bis 2060 verankert. Dennoch gibt es kaum Reportagen über große Streiks und Proteste in Griechenland. Was ist da los? Was hat sich geändert?

Keine gemeinsamen Ziele

Tatsächlich gibt es auch in Griechenland Überlegungen einiger Gruppierungen, die Bewegung der „Gelben Westen“ zu kopieren. Diese Gruppierungen sind jedoch bereits in ihrer Entstehung politisch ausgerichtet. Gegner der Vereinbarung, die Griechenlands mit seinem nördlichen Nachbarn, der EJR Mazedonien, im Namensstreit getroffen hat, wollen aus Protest gegen den Kompromissnamen Nord-Mazedonien, in gelben Westen in Nordgriechenland demonstrieren. Panagiotis Lafazanis, bis zum Sommer 2015 Parteigenosse von Premierminister Alexis Tsipras und danach mit seiner SYRIZA-Abspaltung Popular Unity erbitterter Gegner, möchte ebenso in gelben Westen protestieren, er allerdings gegen soziale Ungerechtigkeit.

Im Fall der Mazedonien-Frage bildet sich in Hellas eine Art Querfront. Der Kompromiss im Namensstreit wird von sämtlichen Parteien rechts der CDU-Schwesterpartei Nea Dimokratia, aber auch von den SYRIZA-Abspaltungen Popular Unity und Plefsi Eleftherias abgelehnt. Die Kommunistische Partei Griechenlands, die KKE, ist ebenfalls gegen den als Prespes-Vertrag bekannten Kompromiss, hat aber in ihrer Kritik einen anderen Ansatz als die Übrigen. Sie sieht in der mit dem Vertrag verbundenen Einbindung der Nachbarrepublik in die Europäische Union und den Nordatlantischen Verteidigungspakt eine Gefahr für den Frieden in der Region.

Es ist durchaus bemerkenswert, dass sich eine gemeinsame Opposition gegen ein nationales Thema findet, während es hinsichtlich der sozialen Ungerechtigkeit keine Einigung unter den Gruppen unterschiedlicher politischer Ideologien gibt.

Im Gegenteil, anders als in Frankreich, wo sich unter den Gelben Westen sowohl Rechtsradikale als auch Kommunisten und Anarchisten finden, bekämpfen sich die einzelnen Gruppen in Griechenland. Anarchistische Studentengruppen stürmten dieses Jahr vor dem Gedenktag zur blutigen Niederschlagung des Studentenaufstands gegen die damalige Militärjunta, 17. November 1973, die Büros der kommunistischen Studentenvereinigung. Sie randalierten und filmten sich dabei, wie sie eine rote Flagge mit Hammer und Sichel demonstrativ zertraten. Das filmische Dokument wurde von der nationalsozialistischen Goldenen Morgenröte begrüßt und genüsslich in eigenen Medien weiterverbreitet.

In den Vorjahren war es anlässlich des gleichen Ereignisses zu anderen surrealen Szenen gekommen. Anarchisten sahen vor dem Hauptgebäude der Technischen Universität in Athen, dem Schauplatz der blutigen Niederschlagung, eine Gruppe mit roten Fahnen. Sie umkreisten sie und prügelten wild auf die vollkommen überraschten Kommilitonen ein. Kurze Zeit später posteten die Anarchisten eine Stellungnahme. Sie entschuldigten sich bei den Verprügelten, denn „wir hatten sie für Anhänger der kommunistischen Jugend der KKE gehalten.“ Tatsächlich fielen den Randalierern Trotzkisten zum Opfer.

In Griechenland verwundert in diesem Zusammenhang kaum jemanden, dass im Dezember 2018 ausgerechnet die Goldene Morgenröte zu einem Empfang in die chinesische Botschaft geladen wurde. Schließlich hatten der rechtsextremen Partei nahe stehende Schlägertrupps dem chinesischen Staatsunternehmen COSCO bei der Einschüchterung von Arbeitnehmervereinigungen geholfen. Dies prangert die der kommunistischen PAME nahe stehende Arbeitnehmervereinigung der Dockarbeiter von COSCO an. Deren Vorsitzender, Markos Bekris, wurde bereits Opfer von mehreren Prügelattacken, bei denen er schwer verletzt wurde. Der Täter einer dieser Angriffe im vergangenen Sommer ist namentlich bekannt, aber die chinesische Staatsfirma distanzierte sich nicht von ihm. Im Gegenteil, er wurde zum Chef der Sicherheitsabteilung der Firma im Containerterminal von Piräus.

Die Empörten –  der obere und der untere Teil des Platzes

Als mit dem Gang Griechenlands zum Internationalen Währungsfonds im Mai 2010 das erste, so genannte Sparmemorandum im Athener Parlament, der Vouli, verabschiedet wurde, waren die Oppositionellen sich noch einig. Sie gingen zu Zehntausenden gemeinsam auf die Straße. Im Sommer 2011, als der IWF zusammen mit den europäischen Kreditgebern ein weiteres Sparprogramm, eine über mehrere Jahre ausgedehntes mittelfristige Etatplanung mit sozial tief einschneidenden Maßnahmen beriet.

Auf dem Syntagma-Platz, dem großen zentralen Platz der Hauptstadt, auf dem einst die Bürger für eine Verfassung (griechisch „Syntagma“) demonstrierten, bildeten sich unter den campierenden Protestlern schnell zwei Gruppen. Auf dem oberen Teil des Platzes fanden sich national gesinnte Hellenen ein. Hier überwogen griechische Flaggen, das Intonieren der Nationalhymne und Parolen, die eindeutig nationalpopulistischen Verschwörungstheorien zuzuordnen sind.

Auf dem unteren Teil des Platzes gab es Theaterveranstaltungen, öffentliche Diskussionen in Form von Bürgerparlamenten und Informationsveranstaltungen mit Universitätslehrern und Anwälten. Bei letzteren Ereignissen lernten die Demonstranten Yanis Varoufakis, Euklid Tsakalotos und Giorgos Katrougalos aus der Nähe kennen. Die drei wurden später Minister in der ersten Regierung Alexis Tsipras. Lediglich Varoufakis hat sich im Groll von Tsipras entfernt. Die beiden anderen vertreten nun mit der gleichen Vehemenz den Sparkurs, den sie vor den Empörten mit Bestimmtheit als Rezept zum Selbstmord verurteilt hatten.

Aus dem Publikum des oberen Teils des Syntagma-Platzes rekrutierten sich Wähler der rechtspopulistischen Unabhängigen Griechen, Tsipras Koalitionspartner, und der Goldenen Morgenröte. Der untere Teil des Platzes unterstützte SYRIZA.

Keine der Parteien hielt sich an ihre Versprechen. SYRIZA und die Unabhängigen Griechen wandten sich bekanntlich im Sommer 2015 dem Sparkurs zu, um an der Regierung zu bleiben. Vorher hatten sie ein bereits bei der Fragestellung fragwürdiges Referendum abhalten lassen. Denn, die Griechen hatten 2015 keine Gelegenheit pro oder kontra des Sparkurses zu stimmen. Die zu beantwortende Frage, ironischerweise halb auf Englisch gestellt, bezog sich auf einen zum Zeitpunkt der Abstimmung bereits obsoleten Vorschlag des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker.

Stell Dir vor es ist Streiktag und keiner legt die Arbeit nieder…

Zu Beginn der Krise konnte der Gewerkschaftsbund für Angestellte, die GSEE, tausende Bürgerinnen und Bürger für Streiks mobilisieren. Zuletzt Ende November, am 28., verloren sich ein paar hundert DemonstrantInnen bei der Generalstreikversammlung der GSEE. Vorangegangen war unter anderen ein surrealer Streit der Gewerkschaften über einen Generalstreiktermin. So kam es, dass am 8. November Arbeitnehmer ohne konkrete Gewerkschaftszugehörigkeit auf die Straße gingen. Am 14. November streikte die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes und am 28. November rief die GSEE zum Generalstreik auf. Die kommunistische Gewerkschaft PAME unterstützte alle drei Termine, konnte jedoch nicht verhindern, dass die in drei Teile zerbrochene Arbeitnehmerprotestaktion eher zum Fiasko als zu einem Erfolg wurde. Schuld am Terminstreit war die GSEE, die auf den Termin Ende November bestand.

Die Mediengewerkschaften hatten ihren Streik für den 27. November terminiert. So sollte verhindert werden, dass es über die Streikaktionen am Folgetag keine Berichte gibt. Der Medienstreik geriet aber ebenso zum Rohrkrepierer wie die allgemeinen Streikaktionen gegen den Sparkurs.

Denn am 27. November spielte der Fußballverein AEK Athen gegen Ajax Amsterdam. „Das ist das letzte Champions League Spiel einer griechischen Mannschaft“, schimpften Sportreporter, die sich weigerten zu streiken. Schließlich gab es für die schreibenden und im Fernsehen berichtenden Journalisten eine Ausnahme – ausdrücklich für das Spiel.

Internetportale von Zeitungen und Magazinen pfiffen auf den Streikaufruf und berichteten munter über alle Nachrichten auch am Streiktag. Seitens der Kammer der Pressefotografen sollte eigentlich eine harte Linie pro Streik gefahren werden, sie konnte jedoch nicht gegen die Interessen der Sportfotografen durchgesetzt werden. Daraufhin sprangen auch Kultur- und Reportagefotografen vom Streikzug ab.

Schließlich blieb das Land mitnichten wie in früheren Jahren einen Tag ohne Fernsehnachrichten. Der Staatssender ERT hatte seinen Streiktag auf den 28. November terminiert. So sahen die Griechen ihre Fernsehnachrichten am 27. November bei den Staatlichen und am Folgetag bei den Privaten. Tatsächliche Einschränkungen im Alltag waren an keinem der Streiktage zu spüren.

Streikverbote und Polizeibeobachtung

Das griechische Streikrecht war den Kreditgebern von Anfang an ein Dorn im Auge. Gestattete es doch ein relativ einfaches und für Arbeitgeber wie Staat überraschendes Ausrufen von Streiks. Das arbeitnehmerfreundliche Streikrecht samt Aussperrungsverbot war historisch bedingt. Es wurde als Gegenmittel für Zustände vor und während der Militärregierung des Landes (1967-1974) von den Gewerkschaften erkämpft.

Ausgerechnet Tsipras nominell linke Regierung knickte hinsichtlich der Forderung der Kreditgeber ein. Mit dem nun verschärften Streikrecht sind Aussperrungen sowie gerichtliche Verbote von Streiks wesentlich einfacher. Nur schwer lässt sich dagegen ein Streik ausrufen. Die so geschaffenen Rahmenbedingungen stießen bei der GSEE kaum auf Widerstand.

Auch dies mag ein Grund sein, warum die etablierten Berufsgewerkschaftler der GSEE nun mit einem Tabu brechen. Sie baten offiziell beim Ministerium für Bürgerschutz um Polizeitruppen zum Schutz ihrer Vorstandssitzungen und Veranstaltungen. Polizisten im Gewerkschaftsmilieu? Im Bewusstsein der übrigen Arbeitnehmer ist dies eine Erinnerung an die Zeit, als die Kriminalpolizei in Griechenland Akten über Personen anlegte, die „linker, landesfeindlicher Umtriebe“ verdächtig waren.

Dass es auch heute noch diese Art der Beobachtung gibt zeigte sich an mehreren Beispielen. Die Gewerkschaft PAME enttarnte mehrfach Polizeibeamte in Zivil, die sich in geschlossene Veranstaltung eingeschlichen hatten. Einer von ihnen war so dreist, dass er angab, er wäre auf der Suche nach einer Tasse Kaffee und einer Toilette in die Versammlung geraten.

Schließlich wurde es durch eine Anklageschrift aktenkundig, dass Tsipras’ frühere Genossen nun unter Beobachtung des Staatsschutzes stehen. Die SYRIZA-Abspaltungen hatten sich mit den früheren Bündnispartnern Tsipras, parteiübergreifenden Bürgerbewegungen wie „Bezahlt wird nicht“ und selbst organisierten sozialen Hilfsvereinigungen zusammen gegen die Pfändung des Wohneigentums verarmter Bürger engagiert.

Lafazanis, Konstantopoulou und „Bezahlt wird nicht“ blockierten allein durch ihre physische Präsenz monatelang Versteigerungen gepfändeter Wohnungen. Sie versammelten sich dafür vor den Zivilgerichten, bei denen die Versteigerungen per Gesetz stattzufinden hatten.

Tsipras ließ das Gesetz ändern. Seitdem werden Versteigerungen nur noch elektronisch und statt von Richtern von Notaren abgehalten. Doch auch dies stoppte die Bürgerbewegungen zunächst nicht. Sie versammelten sich einfach an den Tagen der Versteigerung, die öffentlich einsehbar waren, vor den Büros der Notare. Dabei versuchten immer wieder Mitglieder der Bürgerbewegungen, in die Büros der Notare Einlass zu erlangen.

Die Reaktion des Staats war ein neues Gesetz. Ein so genanntes „Idionymo“, ein Gesetz das einfache Regelverstöße unter gegebenen Umständen zum Verbrechen erklärt. Die Versammlungen vor den Büros wurden zur kriminellen Handlung erklärt, welche die Notare bedrohen würde. Schließlich gab es Ende September 2018 eine dicke Anklageschrift, in der sich auch Lafazanis, immerhin Parteichef und früherer Minister von Tsipras wiederfand. Der Staatsschutz hatte nicht nur sämtliche Versammlungen lückenlos protokolliert. Er hatte auch bei geschlossenen Veranstaltungen Material gesammelt und „Reportagen“ sowie „Interviews“ zur Beweissicherung eingesetzt.

Dafür waren die Beamten mit realen Presseausweisen ausgestattet worden. Sie traten als Fotografen, Kameraleute und Korrespondenten für Medien auf. Die nun angeklagten Aktivisten hatten sich gegenüber Pressevertretern in Sicherheit gefühlt und freimütig – im Pressejargon heißt es „off the record“ – brisante Interna preisgegeben.

Auch der Protest der Mediengewerkschaften änderte nichts an der Tatsache, dass die Justiz weiterhin ihre Anklagen auf derart fragwürdige Beweisbeschaffungen stützt.

Internettrolle – bezahlt oder unbezahlt

Die Bürgerproteste zu Anfang der Krise wurden – ebenso wie in Frankreich – über soziale Netzwerke des Internets organisiert. Dies hat bei den politischen Parteien des Landes dazu geführt, dass sie sich selbst auch in den Netzwerken engagieren. Dabei haben die beiden großen Parteien des Landes, SYRIZA und Nea Dimokratia ein wahres Heer an Fans, welche die Linie der jeweiligen Partei propagieren.

Die Medien des Landes beschäftigen sich regelmäßig mit der Frage, ob diese Fangruppen bezahlt oder unbezahlt agieren. Fakt ist, dass ihre entsprechenden Beiträge, ob über Facebook oder Twitter stets gleichlautend sind. Es ist ebenso erwiesen, dass zumindest einige der Wortführer der Internettruppen der Parteien Posten, bei Ministerien oder innerhalb der Partei, erhalten haben.

Diese Kampagnen der Parteien zielen darauf ab, zumindest im Internet den öffentlichen Dialog zu bestimmen. SYRIZA Anhänger bezeichnen Kritiker der Regierung pauschal als Faschisten und diskreditieren sie, wo immer sie können. Anhänger der Nea Dimokratia zahlen mit gleicher Münze zurück. Nicht alle von den übrigen Nutzern gern Trolle genannten parteigebundenen Nutzer geben sich sofort zu erkennen.

In den virtuellen Dialog mischen sich immer wieder auch amtierende Minister der Regierung und Vorsitzende und Führungsmitglieder der Oppositionsparteien ein. Parteiübergreifende, über das Internet initiierte Protestaktionen sind unter den in Griechenland herrschenden Rahmenbedingungen nicht mehr so einfach möglich, wie sie es zu Anfang der Krise noch waren.

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