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Der Freier

09.09.2016

09.12.18

Offener Brief an Merz und Seehofer, die Vergewaltigung in der Ehe für kein Verbrechen halten

Vor 21 Jahren haben Sie im Bundestag abgestimmt, um die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe zu verhindern. Heute ignorieren sie Frauen, die Sie dazu zur Rede stellen.

An die Herren Merz und Seehofer,

am 28. November 2018 wurden Sie, Herr Merz, von Frauen auf Facebook gefragt, ob Sie bereuen in der Bundestagsabstimmung 1997 gegen die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe gestimmt zu haben. Eine Position, die auch Sie, Herr Seehofer, vertreten haben.

Sie beide, Herr Merz und Herr Seehofer, gehörten zu den 138 Abgeordneten, die selbst noch am 15. Mai 1997 gegen den Gesetzesentwurf stimmten, der Frauen endlich eine rechtliche Grundlage für die Verurteilung vergewaltigender Ehemänner geben sollte. Nur durch die parteiübergreifende Mehrheit von 470 anderen gelang es, das Gesetz einzuführen. Völlig zurecht fragen sich Frauen – heute wie vor 21 Jahren – wie um alles in der Welt Männer vertreten können, dass die eine Form von Gewalt gegen Frauen besser sein soll als die andere.

Verstehen wir uns richtig – das Gesetz ist patriarchal. Änderungen, die Männer ahnden und  Frauen schützen sollen, sind praktisch unmöglich zu erwirken und selbst im positiven Falle werden sie von Anwälten und Richtern oft so ausgelegt, dass Männer mit ihren Gewalttaten davonkommen und Frauen im Zweifel dafür bestraft werden überhaupt “aufgemuckt zu haben”.

So beispielsweise beim “Nein heißt nein”-Gesetz, für das Frauen jahrelang gekämpft haben und das Frauen in so manchem Fall zum Nachteil gereicht. Da wird am „Nein“ so lange hinterfragt, heruminterpretiert und es werden metaphysische Betrachtungen angestellt, bis das Nein zur Worthülse verkommen ist, mit der Vergewaltiger freigesprochen werden können: „Könnte es sein, dass der Angeklagte dachte, Sie seien einverstanden?“ wurde im Jahre 2016 ein Vergewaltigungsopfer gefragt, das von eine Mann über vier Stunden lang gefoltert wurde. Die Frau hatte „Nein!“ und „Aufhören!“ gerufen. Sie kratzte ihren Peiniger. Der Mann klemmte ihren Kopf zwischen die Metallstäbe seines Bettes und vergewaltigte sie stundenlang.

Doch weil der aus dem Ausland stammende Mann, wie das Gericht befand, aus kulturellen Gründen das “Nein” und den physischen Widerstand des Opfers möglicherweise missverstanden haben könnte, wurde er freigesprochen. Männerunrecht geht vor Frauenrecht.

Doch nicht nur werden Gesetze, die Frauen schützen sollen, missachtet – das Gesetz wird gegen uns verwendet. Gina-Lisa Lohfink wurde bekanntermaßen verurteilt dafür, ihre eigene Vergewaltigung angezeigt zu haben. Die Täter, die Videoaufnahmen mit dem Titel „Vergewaltigungsvideo Gina-Lisa Lohfink“ an verschiedene Zeitungen verkaufen wollten, wurden freigelassen, obwohl die Aufzeichnungen belegen, dass Gina-Lisa Lohfink sich gegen die beiden Gewalttäter wehrte und sie mehrmals “Hör auf” rief. Doch dabei blieb es nicht, denn die Täter zeigten ihr Opfer an und  gewannen im nächsten Prozess 24.000€ wegen angeblicher Falschaussage Lohfinks. „Ich kann keine Gewalt erkennen“, sagte die Richterin nach Abspielen des Videos im Gerichtssaal zu Lohfink.

Welche Frau kann sich in einer Gesellschaft sicher wähnen, in der Männer ungestraft vergewaltigen können? Wenn Frauen sich wehren, erfahren sie zusätzliche Gewalt. Ihre Anzeigen werden abgetan, belastende Prozesse ziehen sich jahrelang hin und die Täter werden freigesprochen oder mit derart unzureichenden Strafen bedacht, dass sie ihr Verbrechen propagandistisch wie einen Kavaliersdelikt vor sich herumtragen können.

Wie kann eine Frau die Stimme erheben, wenn nicht sicher sein kann, dass das Gesetz ihre Rechte schützen wird?

Wie kann eine Frau die Stimme erheben, wenn sie hingegen sicher sein kann, dass das Gesetz gegen sie verwendet wird?

So, wie auch das “Nein heißt Nein”-Gesetz keine Garantie dafür ist, dass bei der Anzeige, vor Gericht und in der Gesellschaft das “Nein” von Frauen als “Nein” gelten darf, so unnütz gemacht wurde in vielen Fällen auch das Gesetz, das “Nein” zur Vergewaltigung in der Ehe bedeuten sollte und gegen das Sie, Herr Merz und Herr Seehofer, gestimmt haben.

Erst diesen Sommer endete ein Prozess gegen einen Vergewaltiger, der mehrfach seine Ehefrau vergewaltigt hatte, mit einem Freispruch.

Das Opfer, das mehrmals in Tränen ausbrach, habe zu wenig Gefühle gezeigt, hieß es vom Gericht in der Urteilsbegründung. Sie sei nicht glaubwürdig gewesen, befand das hohe Gericht, weil sie viel zu detailliert (!) über die Gewalttaten berichten konnte.

Inzwischen wissen wir ja, Herr Merz, Herr Seehofer, dass jede Tatsachenverdrehung und alle kognitive Dissonanzreduktion recht sind, um Frauen ihr Recht zu verwehren. Doch in diesem Falle hatte der angeklagte Vergewaltiger und Ehemann die Taten aus den Jahren 2013 und 2014 selbst eingestanden. Seine Verteidigung plädierte aufgrund seines Geständnisses höchstselbst (!) auf eine Bewährungsstrafe. Doch das Gericht entschied, dass das pauschale Geständnis des Angeklagten keinen Wert habe, weil er nicht genug Details (jawohl, nicht genug Details!) genannt hätte.

Merken Sie was, Herr Merz? Klingelt es auch bei Ihnen, Herr Seehofer?

Sie und ihre Kollegen sind auch niemals auch nur aus dem Takt gekommen in ihrer misogynen Kakophonie.

Dröhnend und schallend haben Sie die Frauen verlacht, die in offiziellen Sitzungen für das Recht auf körperliche Unversehrtheit von Frauen gegenüber ihren Ehemännern eingestanden sind.

Schief und krass waren Ihre Gegenreden, als Sie oder Ihre Parteikollegen behaupteten, Vergewaltigungen könnten ja nicht immer gleichermaßen schlimm oder strafbar sein.

Aggressiv und unpassend war der Ton gegenüber Wählerinnen, die völlig zurecht von einem gewählten Vertreter einer demokratischen Partei und einem Rechtsgelehrten erwarteten, dass er Position für das Recht bezieht.

Vier Anläufe im Bundestag brauchte es, um das Gesetz endlich ins Strafgesetzbuch zu bringen.

Vier Anläufe – doch wie viele Debatten voller mansplaining und Ignoranz? Wie viele unwürdige, unnötige Erschöpfung von Lebensenergie unserer Schwestern? Wie viele vergewaltigte Frauen?

Vier Anläufe – doch den Weltuntergang der westlichen Zivilisation und ihrer Bastion, der Ehe, basierend auf der Verfügung über den Frauenkörper, haben Sie zu verhindern gewusst. Sie, die das Gesetz nie geschärft und nie überwacht habt; Ihre Kollegen, die es in der Praxis nutzten, um Frauen zu erklären, dass es keine Vergewaltigung war.

Denn Gesetze, das wissen Sie, Herr Merz, als Anwalt nur allzu gut, nutzen nur, wenn sie im Sinne des Schutzes der Opfer interpretiert werden. Wenn die Betroffenen gehört und verstanden werden. Wenn sie nicht ignoriert werden.

So wie Sie, Herr Merz und Herr Seehofer, Frauen vor und nach 1997 ignoriert haben.

Ihre Not, ihre Bedürfnisse, ihre Rechte.

Es verwundert mich daher nicht im Mindesten, dass Sie, Herr Merz, auch im Jahre 2018 Frauenstimmen völlig ignorieren.

Seit zwei Wochen häufen sich die Anfragen bezüglich ihrer frauenfeindlichen Ignoranz von vor 21 Jahren, doch Sie sagen nichts.

Ich würde gerne von Ihnen wissen, ob Sie Ihre damalige Positionierung bereuen?“ initiierte eine Facebook-Userin den Diskurs. „Würden Sie heute wieder so abstimmen?

Eine Frage, die bislang über 50 Nutzerinnen unterstützen.

Doch Sie halten eine Antwort auf die Fragen von Frauen nicht für nötig.

Sie posten unbeirrt weiter – wen kümmert es schon, was Frauen für Weh-wechen haben!

Narzisstische Selbstdarstellungen, scheinheilige Dankesreden an Ihre Parteifreunde und natürlich die Glorifizierung eines anderen, US-amerikanischen Sexisten. Ihre großen politischen Aspirationen sollen blühen und gedeihen. Die Stimmen der Frauen sollen hingegen verstummen?

Eine Frau schrieb „Eine Stellungnahme ist hier eigentlich längst schon überfällig“.

Aber wissen Sie was?

Eine Stellungnahme können Sie sich meinethalben schenken.

Wer auch immer Ihre Reden schreibt, soll sich einen Kaffee gönnen und sich weißwaschende Beschwichtigungen, infame Ausreden und irreführendes Geblubber in Ihrem Namen ersparen.

Was Frauen von damals und von heute von Ihnen wollen, Herr Merz, ist keine Stellungnahme, sondern eine Entschuldigung.

Gleiches gilt auch für Sie, Herr Seehofer, der Sie doch neuerdings tönen keinerlei Ängste um ihren Job zu haben.

Was uns zusteht, ist eine Einsicht in Bezug auf ihr frauenfeindliches, frauengefährdendes und frauenmissachtendes Verhalten. Und Reue in Bezug die unterlassene Hilfeleistung von 1997 sowie den mangelnden Respekt heute, wo Sie die Stimmen von Frauen als wertlos abtun. So wie sie als wertlos abgetan werden im Gerichtssaal. So wie Sie sie als wertlos abtun wollten, egal welcher Gewalt sie in der Ehe ausgesetzt waren.

Also, wie sieht’s aus, Herr Merz und Herr Seehofer?

Vertreten Sie weiterhin nur Männerinteressen?

Stehen Sie weiter für das Unrecht der männlichen Gewalt gegenüber Frauen ein?

Haben Sie seit 1997 auch nur irgend etwas gelernt?

Sie behaupten uns zu vertreten, während wir Ihre Diät finanzieren und doch warten wir vergeblich auf Ihre Reaktion und reale Wiedergutmachung.

Es sind betroffene Frauen wie auch die Töchter und Enkelinnen der Gattinnen, die Sie und ihre Politiker-Buddys verkannt haben und in unhaltbaren Zuständen schutzlos ausgeliefert wissen wollten.

Die Frauen und Wählerinnen sind es, denen Sie Rechenschaft über ihr Unrecht schuldig sind.


Wer diesen offenen Brief unterstützen möchte, kann sich per Email an die Redaktion wenden (info@kritischeperspektive.com).

UnterstützerInnen:

Feministische Aktion
Katharina Appel (Vorstandsfrau, ALARM! gegen Sexkauf und Menschenhandel)
Melina Kallweit
Miriam Jüngling
Steffen Groschwald
Georg Bardl
Christof Werneke
Dr. Claudia Mayr
Irmgard Adelhütte
Anne Spiegelberg
Dr. Anita Heiliger
Rebecca Sommer
Ann Van Beeck
Michaella Lau, Mitfrau Terres des Femmes
Mechthild Schmitt
Die Feministische Partei DIE FRAUEN
Solveig Senft
Carola Hauck (Die sichere Geburt)
Sigrid Werner (Feministische Partei DIE FRAUEN, Landessprecherin Berlin)
Melanie Gössling
Nora Evers
Nathalie Albat (Natürlich & Geborgen)
Natalie Sommer
Anne Dietel
Patrizia Schanz
Domenica Reddehase
Sascha Reddehase
Ingrid Keilbach
Ulrike Mamerow
Marlene Margolis
Irene Kohlmann
Christina Mundlos, M.A., Soziologin & Autorin
Sandra Wittmeier

 

Weitere Artikel zum Thema: “Frauenmorde und Bestrafung weiblicher Selbstverteidigung in Australien: der Doppelstandard der patriarchalen Justiz” sowie “This is what rape looks like“.

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