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Der Freier

09.09.2016

10.11.18

Frauenmorde und Bestrafung weiblicher Selbstverteidigung in Australien: der Doppelstandard der patriarchalen Justiz

Minimale Strafverfolgung für mordende Männer, maximales Strafmaß für sich wehrende Frauen

Dass Frauen für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt werden als Männer, dürfte niemandem mehr neu sein. Auch nicht, dass sie im privaten und öffentlichen Leben größeren Gefahren und mehr Gewalt ausgesetzt sind. Und obwohl durch feministische Bewegungen, Hashtags und Aufklärungsveranstaltungen allerhand Tabus gebrochen und ungerechte Umstände angeprangert werden sollen, bleiben Frauen im Individuellen oftmals allein mit ihren Problemen zurück. Gerade häusliche Gewalt ist dabei ein Thema, das von Feministinnen seit Jahrzehnten angesprochen wird – jedoch verändert sich gesellschaftlich wenig: kaum hörbar ist die Empörung über die mehr als hunderttausenden von Frauen, die jährlich von ihren Partnern oder Ex-Partnern geschlagen, vergewaltigt und getötet werden. Kaum verändert ist die Situation der aus allen Nähten platzenden Frauenhäuser, die jedes Jahr zehntausende Schutzbedürftige abweisen müssen, weil es ihnen an Ressourcen fehlt. In einer Gesellschaft, in der etwa in Deutschland jeden Tag ein Mann versucht seine Partnerin zu töten, erscheint das Leid betroffener Frauen so normalisiert wie aussichtslos.

Zu dieser omnipräsenten, höchstpersönlichen Gefahr, die einem Damoklesschwert gleich über die Köpfe von Frauen schwingt, kommt die Ungerechtigkeit der Instanzen hinzu, von der Frauen in unserer patriarchal-kapitalistischen Gesellschaft abhängig sind.

So werden Frauen nicht nur im Arbeitskontext weniger gefördert und befördert, sondern werden im Vergleich zu Männern für Fehler viel stärker und härter bestraft. Das betrifft jedoch auch gerichtliche Urteile sowie die Vollstreckung der Strafen; so zeigen Untersuchungen in den USA, dass Gefängnisinsassinnen für kleinere Verstoße gegen die Gefängnisordnung unverhältnismäßig und im Vergleich zu männlichen Insassen weitaus strenger bestraft werden.

Im Zweifel für den Mann

Wenn es um vermeintliche Ausrutscher von Männern geht, drückt die Gesellschaft, der Markt und die Justiz gern einmal ein Auge zu. Im Falle von Frauenmorden wird Männern alles Mögliche und Unmögliche zugute gehalten, um das Strafmaß zu mildern oder gar ganz abzuwenden, was nicht selten von Erfolg gekürt ist. Über Nationen, Länder und Ethnien hinweg sind haarsträubende psychosoziale Erklärungsmodelle wie Depressionen oder Wut-Regulations-Schwierigkeiten, die Lügen-Bezichtigung von Opfern, bis zur Heranziehung jeglichen vom Mörder als unangenehm wahrgenommenen Verhalten seines Opfers salonfähig und gerichtsfähig: So wurde beispielsweise Brian Steadman im Jahr 1995 zu nur 3 Jahren Haft verurteilt nachdem er seine Ehefrau brutalst durch Hammerschläge tötete; der Richter, ebenfalls ein Mann, erkannte mildernd an, dass Steadman unter dem Nörgeln seiner Frau gelitten hätte.

Auch für abscheuliche Vergewaltigungen findet die Justiz immer wieder fadenscheinige Ausflüchte, um Männer nicht oder kaum zu bestrafen, wie die lasche, dreimonatige Strafe Brock Turners, der in den USA eine bewusstlose Studentin auf offener Straße vergewaltigte, zuletzt bewiesen hat. Begründung war hier, dass der Sportler mit der glänzenden Karriere vor Augen nicht durch diese harmlose Tat, die sein Vater als läppische „20 minutes of action“ bezeichnete, in seinem Leben zurückgeworfen werden sollte.

Bei der Be- und Verurteilung von Frauen sind achvollziehbare körperliche oder emotionale Begründungen, sowie plausible Not und Gefahr hingegen unerwünscht – sie werden höchstens zur Rechtfertigung eines noch höheren Strafmaßes betrachtet. So saß Zoora Shah 14 lange Jahre im Gefängnis – die seit ihrer Kindheit von sexueller Gewalt betroffenen Frau aus Pakistan wurde in den ’70er Jahren mit einem Mann zwangsverheiratet, der sie nach Großbritannien brachte und 12 Jahre lang kontrollierte, erniedrigte, vergewaltigte und schlug. Sie vergiftete ihn mit einer tödlichen Dosis Arsen und wurde dafür zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt, wobei ihre älteste Tochter mit 18 Jahren die Vormundschaft für die Kinder Zooras übernahm. Durch unermüdliches Engagement konnte die Tochter im Jahr 2000 endlich eine Verringerung der Strafe ihrer Mutter erwirken.

Cyntoia Brown sitzt bis heute hinter Gittern, nachdem sie sich gegen männliche Gewalt selbst zu verteidigen versuchte. Ihr Leben war von Anfang an von Missbrauch und Gewalt geprägt und sie geriet früh in die Hände von Menschenhändlern. Zur Prostitution gezwungen und täglich lebensgefährlicher Gewalt ausgesetzt, wehrte sich die 16-jährige eines Tages gegen einen Freier, von dem sie befürchtete getötet zu werden – sie erschoß den Mann und wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Eine Begnadigung, so hat das Gericht verfügt, kann frühestens ersucht werden, wenn Cyntoia 67 Jahre als sein wird. „Warum will man mich für das ganze Leben wegsperren? Ich verstehe das nicht.“ sagt das verurteilte Opfer von Frauenhandel, Prostitution und männlicher Gewalt im Dokumentar-Film „Me Facing Life: Cyntoia’s Story“.

Warum kann ein Brock Turner das Leben, die Gesundheit und die Psyche einer Frau für immer zerstören und knappe drei Monate unter Arrest verbringen, während eine Cyntonia Brown, deren Leben, Gesundheit und Psyche für immer von Männern zerstört wurden, ihr Leben im Gefängnis fristen muss?

Wir leben in einer Zeit, in der die Netflix-Serie „Making a Murderer“ die brutale Folter, Vergewaltigung und Ermordung Teresa Halbachs mit Fokus auf die mögliche Unschuld der verurteilten Mörder der der 25-jährigen Fotografin betrachtet; wir leben in einer Zeit, in der snuff porn, bei dem die Vergewaltigung und brutale Tötung von Frauen gezeigt wird, für Jedermann ca. 7 Klicks entfernt ist, der das sehen – oder nachahmen – will. Diese ekelhafte Welt patriarchaler Gewaltpräsenz produziert erfolgreich brutale Frauenunterdrückung, macht vor Tötung nicht halt und kennt keine Grenzen – und die Justiz schaut weg, verharmlost und macht mit.

Rote Herzen für ermordete Frauen in Australien

In Australien dokumentiert die „Red Heart Campain” die Ermordung von Frauen – es handelt sich hierbei um ein öffentliches Archiv, das häuslichen Missbrauch in Australien anprangern will und ohne Beschönigungen sichtbar macht, wie viele Frauen darunter leiden.

Gegründet wurde die Kampagne von Sherele Moody, deren Stiefvater Barry Gordon Hadlow in den Jahren 1963 und 1990 kleine Mädchen entführte und ermordete. Die geschundenen, leblosen Körper seiner Opfer – Sandra Dorothy Bacon und Stacy-Ann Tracy – packte er in Müllsäcke und warf sie weg.

Die fehlende Skandalisierung und vergängliche Relevanz der Ermordung von Mädchen und Frauen durch sexuell motivierte Männer brachte Sherele im Jahr 2015 dazu „in meiner Freizeit den traurigsten Gewalt-Katalog Australiens zu bauen“. Frauen sollten die Gelegenheit haben von ihren traumatischen Erlebnissen mit häuslicher Gewalt zu berichten und das Andenken jener Frauen zu schützen, die durch Männer umgebracht wurden.

Allein im Jahr 2018 wurden in Australien 67 Frauen ermordet, wie die Red Heart Campaign auch auf ihrer Facebook-Präsenz verkündet, wobei die Dunkelziffern natürlich höher liegt. Allein im Oktober 2018 wurden 9 Frauenleben ausgelöscht.

Trotz üblicher Strohmänner („Was ist mit Männern, wieso werden die nicht gezählt?” / #whataboutmen und „Nicht alle Männer töten!” / #notallmenarelikethat) erfährt die Seite mit weit über 52.000 AbonnentInnen positiven Zuspruch und große Unterstützung.

„Gewalt gegen Frauen und deren Kinder hat nachhaltige Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlergehen von Frauen und Kindern, auf Familien und Gemeinschaften sowie auf die gesamte Gesellschaft. Gewalt in der Partnerschaft führt bei Frauen im Alter zwischen 15 und 44 Jahren zu mehr Tod, Invalidität und Krankheit als jeder andere vermeidbare Risikofaktor. Häusliche Gewalt oder familiäre Gewalt gegen Frauen ist der häufigste Grund für Obdachlosigkeit von Frauen, Einschaltungen von Kinderschutz-Einrichtungen, und führt im Durchschnitt alle zwei Minuten zu einem Polizeieinsatz in ganz Australien.” (The red heart campaign)

Laut der Red Heart Campaign werden in Australien mindestens eine Frau pro Woche durch ihren aktuellen oder ehemaligen Partner getötet. Ein Drittel australischer Frauen würde ab dem 15. Lebensjahr physische Gewalt erfahren; ein Viertel physische oder sexuelle Gewalt durch aktuelle Partner und ein Viertel durch ehemalige Partner. Acht von zehn Frauen würden Belästigungen und Gewalt im öffentlichen Raum (z.B. auf der Strasse) erfahren.

Die Kampagne prangert die Normalisierung und Verharmlosung häuslicher Gewalt an, wie zum Beispiel durch Boykotts eines Restaurant mit dem Namen „The Battered Wife FISH & CHIPS“, der auf das „lustige“ Wortspiel baut, dass „battered wife“ die geschlagene Ehefrau, und „battered fish“ der Backfisch ist. Sie zählt überdies kompromisslos die Frauen Australiens auf, die jedes Jahr von Männern getötet wurden, unter ihnen auch Euridice Dixon.

Die dokumentierten Fälle zeigen außerdem: ja, Männer sind von Gewalt und Totschlag betroffen – allerdings geht in ihren Fällen die Gewalt ebenfalls von Männern aus. Männer, die daher die hohe Anzahl von Männermorden lamentieren, sehen wir in der Regel dennoch nicht gegen männliche Gewalt demonstrieren oder gesamtgesellschaftlich dagegen vorgehen. Darüber hinaus macht die Statistik deutlich, dass die Mann-gegen-Mann-Verbrechen gewöhnlich nicht im intimen Partnerschaftssetting stattfinden, sodass sie einen gänzlich anderen Charakter haben als der patriarchale Missbrauch eines kulturell etablierten Machtgefälle, dessen Dominanz-Ohnmacht-Tango in heterosexuellen Partnerschaften den Ton angibt.

Trotz Online-Trolle, die die Offenbarmachung der Strukturen durch die Red Heart Campaign anzweifeln wollen, ist der Konsens insgesamt spürbar: Frauen sollten weder drohender noch tatsächlicher männlicher Gewalt ausgesetzt sein. Dennoch ist die Zahl ermordeter Frauen entsetzlich hoch.

Und die Täter? Ihre Gerichtsverfahren ziehen sich in die Länge, sie kommen mit unverhältnismäßig schwachen Sanktionen davon, oder werden gar freigelassen. Insbesondere fällt auf, dass Männer im Falle von Gewalt gegen Frauen auf “unschuldig” plädieren, auch wenn die Beweislast eindeutig gegen sie spricht. Wie wir oben gesehen haben, ist die „Story“ der angeblich zurecht frustrierten Männer, die nicht anders können, als Frauen zu vergewaltigen oder zu ermorden, fest etabliert und häufig genug von Erfolg gekrönt.

Während schuldige Männer sich also kaum einer Schuld bewusst sind, nehmen Frauen ihre Verantwortung an – und werden dabei doppelt und dreifach bestraft.

Wenn Frauen zurückschlagen trifft sie die volle Härte patriarchaler Gesetzgebung

So auch im Falle der 35-jährigen Roxanne Eka Peters aus Brisbane in Australien. Sie erstach im Dezember 2015 den 51-jährigen Grant Jason Cassar, der nicht nur Roxanne vergewaltigte, sondern überdies ihrer Tochter drohte, sollte die Mutter sich nicht weiteren sexuellen Handlungen ergeben. Roxanne stach mit einem Küchenmesser mehrmals auf ihren Peiniger ein und verletzte ihn tödlich an Nachen, Brust und Penis. Hiernach band sie ein Seil um den leblosen Körper ihres Vergewaltigers, befestigte es an ihrem Auto und fuhr damit – vorbei an der lokalen Polizeiwache – zu einem Graben, wo sie die Leiche ablud.

Roxanne nahm sich ihrer Verantwortung an und bekannte sich vor Gericht schuldig mit der Leiche interveniert und damit die Ermittlungen verzögert zu haben. Richter David Bodice gab an nachvollziehen zu können, dass die Angeklagte dem Vergewaltiger gegenüber wütend gewesen sei, jedoch hätte sie doch nach dem Zustechen Hilfe holen können und mehr Respekt vor der menschlichen Würde Cassars und seiner Leiche hätte zeigen sollen.

Roxanne wurde zu einer Gefängnisstrafe von über zehn Jahren verurteilt.

Ist die Doppelmoral einer Justiz überhaupt in Worte zu fassen, die an den dünnsten Haaren lächerlichste Entschuldigungen für männliche Gewalt gegen Frauen herbeizieht, um jegliche auch nur ansatzmäßig angemessene Strafen abzuwenden; während sie gleichfalls durch Trauma induzierte, aus Notwehr geborene, von Panik verstörte weibliche Gegenwehr auf das härteste bestraft und dabei die Dreistigkeit besitzt den weiblichen Opfern noch immer zu aus männlicher Sicht zu erklären (zu „mansplainen“), wie sie sich dem Patriarchat angepasster und ihren respektlosen Peinigern respektvoller verhalten müssten?

Schuld ist immer das Opfer, wenn es weiblich ist.

Der kognitive Aufwand, die juristische Akrobatik, die argumentativen Strohhalme – patriarchale Unrechtsprechung ist sich für keine Entschuldigung zu billig, um ihre Blutsbrüder davonkommen zu lassen und gesellschaftlich ohnehin unterdrückte Frauen noch weiter zu martern.

In einem Land wie Australien, in dem in 10 Monaten 67 Frauen durch sexualisierte Gewalt ihren brutalen Tod durch Männerhand fanden; wo seit mehreren Jahren engagierte Kampagnen Aufklärung und Widerstand gegen die systematische Unterdrückung der Frau erwirken wollen; in dem Männer weiterhin ihrer gerechten Strafe für die Auslöschung oder Zerstörung weiblicher Leben entkommen – kann in dieser Welt wirklich das Argument gelten, dass frau doch hätte Hilfe holen und einfach mal freundlicher hätte sein sollen?

Schuld ist immer die Frau

Einige solidarische Frauen wollen Roxanne dennoch nicht alleine lassen. Brisbaine-Ansässige können telefonisch Termine buchen, um mit einem persönlichen Besuch ihre Anteilnahme zu überbringen. Wer weiter weg wohnt – oder wie wir: am anderen Ende der Welt – kann tröstende Worte des Verständnis und kämpferische Grüße zum Weiterkämpfen schicken. (Die Postadresse dafür lautet: Roanne Eka Peters, Locked Bag 2500, Archerfield QLD 4108.)

Die den Umständen gegenüber unangemessene und im direkten Vergleich zu Männertaten absurde Bestrafung von Frauen, die sich gegen männliche Gewalttäter, Vergewaltiger und Mörder zur Wehr setzen, ist skandalös wie systematisch.

Aller Aktivismus kann das Unrecht, das Frauen als Klasse und Roxanne als Individuum angetan wurde, nicht rückgängig machen. Wie der Fall Zoora Shah gezeigt hat, benötigt es – im besten Falle – jahrelangen, unermüdlichen und persönlichen Einsatz, um die den Frauen auferlegten Strafen anzufechten; in anderen Fällen, wie uns Cyntoia Brown ganz aktuell beweist, kann ein Leben vergehen, bevor etwas passiert. Und viel zu oft, wie für ungezählte zu unrecht verurteilter und zum Verschwinden gebrachter Frauen die das Patriarchat historisch betrachtet auf dem Gewissen hat, kommt jede Hilfe zu spät.

Die Körper, Seele, Familien und Lebenspläne der Opfer sind in jedem Falle auf immer erschüttert.

Die US-amerikanische Radikalfeministin Angela Davis prangert seit vielen Jahrzehnten offen und kompromisslos an, dass Justizsysteme in Verbindung mit Gefängnislösungen nicht als Öl in das Feuer der Ungerechtigkeit von Sexismus, Rassismus und Armut gießen:

Gefängnisse lassen keine Probleme verschwinden. Sie lassen Menschen verschwinden. Und die Praxis des Verschwindens einer Vielzahl von Menschen aus armen, migrierten und ethnisch marginalisierten Gruppen ist buchstäblich zum großen Geschäft geworden.

Und tatsachlich geben sich in der Doppelmoral der Justiz das Patriarchat und der Kapitalismus die Hand. Staatlich geschützte und immer öfter privatisierte betriebene Geldmaschinen lassen so Männertaten verschwinden, wie Täter ihre Opfer verschwinden lassen, und lassen ebenfalls Frauenstimmen verschwinden, die gewaltbejahende Systeme und systematische Gewalt verurteilen.

Meistgelesen im November/Dezember

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