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09.09.2016

27.10.18

Der letzte Dialog

Anstelle einer Vorstellung. Warum ich für die Kritische Perspektive schreibe

Vor wenigen Tagen erhielt ich ein Angebot, für die Kritische Perspektive Beiträge über Griechenland zu verfassen. Ein Blick auf die Internetpräsenz und das Lesen einiger Beiträge reichte mir, um schnell zuzusagen.

Griechenland, für viele ist der Staat nur noch in Zusammenhang mit der Euro-Krise und ständigen Negativmeldungen ein Begriff. Für stolze Griechen ist es dagegen das Land aus dem Demokratie und Philosophie stammen. Das ist allerdings Geschichte – aktuell ist Griechenland der Staat der Europäischen Union, der als erster unter die Herrschaft der Kreditgeber geriet, und somit hinsichtlich seiner Regierungsform mit höchst undemokratischen Mitteln verwaltet wird. Griechenland ist auch das Land der EU, in dem im aktuellen Jahrtausend die ersten, nach eigener Darstellung Nationalsozialisten 2012 den Einzug ins Parlament schafften. Die Goldene Morgenröte, die alles andere als golden ist, stellt die drittstärkste politische Fraktion in der Vouli, dem Parlament der Hellenen. Es ist eine Partei, die sich zwar als nationalsozialistisch bezeichnet, aber klagt, wenn man sie als Nazi-Partei bezeichnet.

Sie ist sexistisch, homophob, antisemitisch, fremdenfeindlich und gewalttätig. Die Partei, ihre Führungsriege und zahlreiche Mitglieder stehen wegen politisch motivierten Morden, Gewalttaten und weiteren Verbrechen unter dem Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung vor Gericht. Die Goldene Morgenröte hat dennoch zahlreiche Anhänger.

Sie schaffte es, dass der griechische Europaparlamentarier Sotiris Zarianopoulos wegen Beleidigung und Ehrverletzung vom Berufungsgericht Thessaloniki zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Sotiropoulos hatte Mitglieder der Golden Morgenröte als „Nostalgiker Hitlers und politische Nachkommen der einheimischen Kollaborateure, welche den Ort beschmutzen und keinen Platz bei Veranstaltungen zum Widerstand des Volks gegen die Nazis haben“ bezeichnet. Diese Äußerungen, die 2012 während einer Pressekonferenz fielen, befand das Gericht als strafwürdig.

Das Gericht beachtete nicht, dass die Mitglieder der Goldenen Morgenröte mit ausgestrecktem rechten Arm und offener Hand grüßen. Im Zweifel wird dieser Gruß als „antiker Gruß“ gewertet. Auch die zahlreichen Artikel über Hitler, Goebbels und Hess in der Parteizeitung der Goldenen Morgenröte wurden vom Gericht nicht als Beweis für Bewertung der Partei als Nazi-Partei angesehen.

Der „tiefe Staat“ in Hellas ist sehr rechtsnational. Es ist etwas faul in Griechenland. Und leider ist dies kein neuer Zustand, sondern vielmehr eine Fortsetzung dessen, was das Land seit seiner Befreiung von der NS-Besetzung im Jahr 1944 erlebt. Nach dem Weltkrieg erlebte Griechenland einen Bürgerkrieg. Zunächst bemühten sich die Briten, später – im Zuge der Truman Doktrin die Amerikaner – den Kommunismus oder alles, was sie dafür hielten, von Griechenland fern zu halten.

Auch aus diesem Grund gab es von 1944 bis 1949 bei 15.000 Anzeigen gegen griechische NS-Kollaborateure nur 2200 Verfahren und bei diesen, insgesamt 25 Verurteilungen zum Tod. Die Verurteilten stammten größtenteils aus den ärmeren Kreisen der Kollaborateure. Deren Elite wurde – wegen ihrer antikommunistischen Einstellung – von Westen gebraucht und in Amt und Würden gehoben. Fünfzehn der Kollaborateure wurden im späteren Leben Mitglieder der Akademie Athens. Im gleichen Zeitraum, von 1944 bis 1949 wurden 3500 Kommunisten oder Personen, die als dem Kommunismus nahe stehend eingestuft wurden, hingerichtet.

Als Kommunist galt bereits derjenige, der sich weigerte, auf Aufforderung eine eidesstattliche Erklärung zur Verurteilung des Kommunismus abzugeben. Kommunist war auch, wer keine Kommunisten denunzierte. Als Kommunist galt auch, wer zum Beispiel 1946 trotz Wahlpflicht nicht zu den von der Kommunistischen Partei boykottierten Wahlen ging. Die Periode des griechischen Bürgerkriegs ist zu komplex, um in wenigen Zeilen aufgearbeitet zu werden.

Zu den Kommunisten wurde damals auch mein Großvater gezählt, ein Mann, der sich weder mit Marx beschäftigt hatte, noch auf Seiten der EAM und ELAS im Befreiungskrieg kämpfte. Er saß, zum Tod verurteilt in Haft, als sich eine Begebenheit abspielte, die mein Vater in den letzten Tagen seines Lebens im Sommer 2018 noch einmal erlebte. Mein Vater, der wegen seiner Weigerung, sowohl den Kommunismus als auch seinen Vater in einer eidesstattlichen Erklärung zu verurteilen, Anfang der Fünfziger mit 100 Drachmen in der Tasche nach Deutschland kam, hatte sich als pubertierender Junge der Jugendorganisation der Kommunisten, den Aetopoula der EPON angeschlossen. Mir beichtete er seine Mitgliedschaft in der EPON erst in meinem fünften Lebensjahrzehnt. Warum? Vielleicht, weil viele derer, die in den Fünfzigern des vergangenen Jahrhunderts in Griechenland politisch verfolgt wurden, lernten, politische Einstellungen nicht mit jedem zu teilen. Vielleicht auch, weil er wollte, dass ich ohne Beeinflussung meinen eigenen Weg finde.

Als Kind „diente“ er vorher den Nazibesatzern als Versuchsobjekt. Sie wollten sehen, wie lange ein Kind mit Poliomyelitis ohne Behandlung überleben kann. Sie ließen ihn im Keller des Krankenhauses von Kilkis vegetieren. Sadistisch quälten sie ihn bei den wenigen Hofgängen, welche dem kleinen Jungen damals zugestanden wurden. „Ich werde nie vergessen, wie die Soldaten vor meinen Augen Schokolade in den Schlamm warfen und zertraten, während ich hungern musste“, erinnerte sich mein Vater.

Er überlebte ebenso wie mein durch eine Generalamnestie geretteter Großvater. Beide lehrten mich, nicht zu hassen, nicht pauschal zu verurteilen und niemanden, wegen seiner Herkunft, seiner sexuellen Orientierung, seinem Glauben oder einer Behinderung zu verurteilen.

In den letzten Tagen seines Lebens lehrte mich mein Vater aber noch einmal, dass es wichtig ist, nicht zu vergessen, wie von Rechtsradikalen die Würde des Menschen mit Füssen getreten wird.

Seit 2010 litt er an einem multiplen Myelom. Im Juni 2018 hatte der Krebs gesiegt. Die Wirbelsäule meines Vaters war an mehreren Stellen aufgelöst. Seit März 2018 gelähmt und voller Metastasen lag er im Todeskampf. Es war eine Zeit, in der sich seine Lebenserinnerungen vor ihm abspielten und in der er mehrfach den Bezug zu Zeit und Ort verlor. Er erlebte und durchlebte Erinnerungen, wie bei unserem letzten Dialog.

Der letzte Dialog

„Es ist Nacht, wir müssen weg.“

  • „Warum? Wir sind zu Hause“

„Nein, wir sind in Gefahr. Ich habe Angst, wir müssen weg!“

  • „Nichts kann Dir geschehen, ich bin bei Dir…“

„Du? Meinst Du, Du kannst sie allein stoppen?“

  • „Du bist nicht in Gefahr – ich fürchte niemanden.“

„Du kennst sie nicht. Ist vielleicht einer draußen, der A…riadis heisst?“

  • „Aber das ist doch…“

„Der Name des Bruders meiner Mutter.“

„Nein. Und selbst, wenn er da sein sollte, bleib ruhig. Der kann mich mal…“

„Du kennst ihn nicht, Du weißt nicht, wozu er fähig ist. ‚Scheiß Kommunistin, ich werde Dich verbrennen, Dich und Deine Brut. Deinen Mann schmeißen wir den Hunden zum Fraß vor…Ich werde Dich verbrennen!‘“

Mein Vater durchlebte wieder eine Begebenheit aus seiner Kindheit. Mit seinem Vater im Todestrakt, dem zum Kerker umfunktionierten Keller eines Kinos in Kilkis und mit dem Stigma des Kommunisten. Sein Vater, mein Großvater, hatte in den Augen seiner Häscher die Einstufung als Kommunist durch eine menschliche Haltung noch einmal bestätigt. Denn er kümmerte sich im Kerker um einen ebenfalls zum Tod verurteilten, kriegsversehrten Partisan. Dieser hatte beide Arme verloren. Es war ihm nicht möglich, von den Broten, die den Gefangenen von den Wächtern durchs Kellerfenster zugeworfen wurden, zu essen. Er konnte kein Brot greifen.

Ergo nahm mein Opa das Brot, das er fangen konnte und klemmte es dem Unglücklichen zwischen die Beine, so dass dieser essen konnte. Erst, als der Partisan sagte, dass er fertig war, nahm mein Großvater den Rest des Brotes für sich. Jemand, der mit einem zum Tode Verurteilten „Krüppel“ das Brot teilt, das konnte in den Augen der Häscher nur ein Kommunist sein. So dachten die Ultra-Rechten, die heute vom Vizevorsitzenden der CDU-Schwesterpartei Nea Dimokratia als „Aristoi“ (Exzellente) bezeichnet werden.

Diese Bilder hatte mein Vater in seinen letzten Tagen, bei unserem letzten Dialog vor Augen. Sein Körper zitterte. Sein Gesicht war verspannt, voll Furcht. Er sah dabei seine Hände an. Sie gehorchten ihm nicht mehr, „nutzlose Hände – die helfen nicht!“.

Er erinnerte sich daran, wie sein Onkel mit einer Horde Rabauken das Haus umstellt hatten und es samt seiner Mutter, seiner Schwestern und seines kleinen Bruders abbrennen wollten. Er selbst hatte wegen der Poliomyelitis sein linkes Bein ab dem Knie steif.

Mit der Erinnerung brach er in Tränen aus.

„Kann ich das vergessen? Kann ein Mensch das vergessen?“

  • „Fürchte Dich nicht vor ihnen. Ich bin bei Dir…“

„Du bist einer, ein Einzelner! Die, das sind viele und sie kommen von überall aus ihren Löchern.“

  • „Sie werden nicht gewinnen!“

Ich erinnerte mich daran, dass Schokolade Wunder wirken kann. Ich holte meinem Vater einen seiner heiß geliebten Schokoladenpuddings, „probiere mal etwas Pudding…“.

Die Schokolade wirkte, „der ist aber lecker…“. Mein Vater rief meine Mutter, seine treue Gefährtin für mehr als sechzig Jahre zu sich und bat auch sie, vom Pudding zu essen. Es war das letzte gemeinsame Mahl.

Unser Dialog bekam einen anderen Inhalt. Es ging um Familiäres und den Wunsch meines Vaters nach Urenkeln. Kurz darauf schlief er ein. Drei Tage später hörte sein Herz auf zu schlagen.

Nein, auch ich kann nicht vergessen. Ich kann diesen Moment, diesen Dialog und viele andere Erzählungen nicht vergessen. Ich kann nicht vergessen, wie – in der auf ihre „humanitären Werte“ stolzen EU die Flüchtlinge in einem schrecklichen Lager wie Moria auf der Insel Lesbos behandelt werden. Ich kann und werde nicht vergessen, wie im Sommer 2015 Flüchtlinge und mit ihnen solidarische Demonstranten vor meinen Augen in Budapest – in einem EU-Staat – brutal niedergeknüppelt wurden.

Ich konnte die von mir erlebten Momente des Kontakts mit Ultra-Rechten nicht vergessen, als mein Vater mir sein Erlebtes beim unserem letzten Dialog vorlebte – ich werde nicht vergessen. Und aus diesem Grund möchte ich gern zur Kritischen Perspektive beitragen. Ich möchte erzählen, analysieren und erklären, was in Griechenland und in den Nachbarländern vorgeht.

Dabei möchte ich mir die Freiheit nehmen, die Beiträge vor allem durch eine antifaschistische Brille zu beleuchten. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir durch die Beobachtung von gesellschaftlichen Entwicklungen in anderen Ländern lernen können, die Geschehnisse in den Sozialstrukturen, in denen wir leben, differenzierter zu betrachten. Vielleicht können wir auch erkennen, wie der Zug, der Europa immer weiter nach rechts fährt, auf andere Gleise geführt werden kann.

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