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09.09.2016

24.08.18  | Buchbesprechung  | Theorie

Radikalfeministische Lektüre: vier Bücher zur Kritik an Pornographie und Prostitution

Vom Klassiker, über den Überlebensbericht, zur Empirie, und hin zur Meta-Betrachtung - diese Frauen haben Werke verfasst, deren Lektüre an den Grundfesten der Selbstverständlichkeit von Sexismus und unserer eigenen Beschäftigung damit rüttelt.

„Du musst auch immer so radikal sein”, sagt man (und manchmal auch frau) mir immer wieder. Oft, wenn es um feministische Themen geht.

Im Alltag ist es bequem auszublenden, wie viel männliche Gewalt um uns herum herrscht.

Oftmals ist es gar überlebensnotwendig zu ignorieren, in welch patriarchaler und ver-rückter Welt wir leben. Doch wenn wir den Blick endlich auf frauenpolitische Themen richten, reicht es eben nicht, Teilaspekte anzuerkennen und dabei doch ein Auge zuzukneifen.

Wenn es um die Befreiung der Frau geht, müssen wir zwangsläufig radikal und kompromisslos analysieren, in welchen Verhältnissen wir leben und wie Gewaltstrukturen oft unterschiedliche Farben und Formen annehmen – sie aber letztlich ein gemeinsames Fundament haben: die Herabsetzung und sexuelle Ausbeutung der Frau.

Die Beschäftigung mit dieser Wahrheit hat mir selbst geholfen von der Augenwischerei Abstand zu nehmen, die Feministinnen zu vorzeitigen Kompromissen bewegen soll – „ist doch gar nicht so gemeint”, oder „das muss du anders sehen”, und „das ist in anderen Kulturen eben so”.

Falsch ist falsch, egal wo es herkommt, wer es gesagt hat, oder wie es dem Sender genehm wäre, dass der betroffene Empfänger seine eigentlich sehr wohl so gemeinte Botschaft uminterpretiert, damit er selbst keine Verantwortung für die eigenen Worte übernehmen muss.

Erst wenn wir frei von disclaimern über unsere Unterdrückung sprechen, können wir die Zustände auch wirklich benennen.

Gerade in Bezug auf die Themen Prostitution und Pornographie schwirren im Internet zahllose propagandistische Inhalte herum, die uns Sand in die Augen streuen könnten. Doch wer den Austausch mit Überlebenden dieser Gewaltstrukturen sucht, wird schnell die brutale Realität dieser miteinander zusammenhängenden Industrien erkennen.
Manch einer mag behaupten, die zwei Welten hätten kaum etwas miteinander zu tun.

Interessanterweise sind mir persönlich schon beide Standpunkte begegnet.

Einer lautet: Prostitution ist eine freiwillige Sache zwischen zwei oder drei Menschen. Pornographie hingegen, das ist schlimm, weil ja ein Video von so vielen konsumiert werden kann, das ist gar nichts Intimes mehr. Und weil das Internet nichts vergisst, können die Frauen ihr Leben lang Nachteile von ihrer Porno-Vergangenheit haben. – Prostitution ja, Pornographie nein.

Der andere sagt: Prostitution ist furchtbar – viele Frauen werden zu einem Hungerlohn zu allen möglichen Sexualakten gezwungen. Wenn an jeder Ecke eine Prostituierte wartet, drückt das ja den Preis und vielen Frauen geht es sehr schlecht damit, wie sie von den Freiern behandelt werden. Bei Pornographie hingegen, können sich die Darstellerinnen aussuchen, mit wem sie schlafen, was sie machen usw., außerdem werden sie viel besser behandelt und bezahlt oder drehen tolle „feministische Pornos”. – Prostitution nein, Pornographie ja.

Was mir immer wieder auffällt ist, dass die größte Verblendung stets durch den scheinbaren Glanz einer unterstellten Freiwilligkeit stattfindet. Egal um welches patriarchale Unterdrückungs­instrument es sich handelt – Prostitution, Pornographie, High Heels, Make-Up, Berufswahl… – das letzte argumentative Hintertürchen ist „…wenn die Frau das so will, dann kann man da auch nichts gegen sagen!”.

Doch wie freiwillig können unsere ach so selbstgewählten Verhaltensweisen sein, wenn frau von Geburt an (und im Gunde bereits in utero) mit weißgewaschener heteronormativer Kackscheiße bombardiert wird? Und wer kann schon klar sehen, wenn um uns herum ein Sandsturm von Erwartungen, Werbungen, vordefinierten Lebenswegen und einem Totschweigen feministischer Kritik tobt?

Prostitution und Pornographie hängen aber nicht nur zusammen, weil Befürwortende oder Neutrale durch das Freiwilligkeits-Argument die Gewalt und die sexuelle Machtausübung ignorieren. Betroffene sind häufig in beiden Milieus involviert. Manche Frau startet in der Prostitution und lässt sich dann zu Pornographie überreden. Andere drehen pornographische Videos und gehen dann zur Prostitution über. Viele Freier verlangen schon lange nicht mehr reine Sexakte im Privaten, sondern wollen mit ihren Smartphones Bilder und Videos schießen. Wie beim Lohn-Dumping aufgrund des ausladenden Angebots auf die Nachfrage und der eingeschränkten Entscheidungsfreiheit aufgrund von z.B. Gewalt oder Drogeneinfluss, sehen sich genug Frauen dazu gezwungen die Grenzen verwischen zu lassen.

Denn: freie Entscheidungen zur Selbstverletzung gibt es nicht.

Ich kann mich nur da für etwas entscheiden, wo ich überhaupt eine Wahl habe. Ansonsten nehme ich es mangels Alternativen hin.

Und frei bin ich auch nur da, wo ich nicht aufgrund konstanter und gewalttätiger Unterdrückung unter Androhung massiver Benachteiligung oder negativer Konsequenzen das kleine Übel wähle.

In einer Welt, in der Lobbys und Profiteure großes Interesse daran haben die große Masse an der Lüge von der angenehmen, selbstgewählten Ausbeutung von Frauen teilhaben zu lassen, ist es nicht immer einfach an Informationen zu gelangen, die die Wirklichkeit der tatsächlich Betroffenen widerspiegeln.
Es sind die Dokumente jener wunderbaren, bewundernswerten und starken Frauen, die die Prostitution und/oder Pornographie überlebt haben, die uns helfen können den Staub aus den Augen zu wischen und nach einer unangenehmen Phase der Gewöhnung an das neue Sichtfeld besser zu sehen.

Diese Leseliste ist für jene, die sich ein Bild von Prostitution und Pornographie machen wollen, wie sie Frauen wirklich betreffen. Ihr Einfluss auf direkt Betroffene, auf nicht involvierte Frauen, und auf unsere Gesellschaft als Ganzes.

Die folgenden Titel empfehle ich von ganzem Herzen. Sie sind keine leichte Lektüren und doch radikal genug um die Realität einer Welt anzuprangern, die Frauen als Kollateralschaden männlichen Sadismus in Kauf nimmt.

Gleichzeitig sollte dies ganz bewusst keine ellenlange Liste werden – obwohl da draußen genug spannende Lektüren warten, die in ihrer Vielzahl und Fülle überfordern können. Vielmehr handelt es sich hierbei gewissermaßen um einen starter-kit, eine Sammlung von must-haves. Und warum diese Titel so besonders, so unverzichtbar und so wertvoll sind, das will ich im Folgenden erläutern.

1. DAS STANDARDWERK

Andrea Dworkin: Pornographie. Männer beherrschen Frauen (mit einem Vorwort von Alice Schwarzer) (1990)

Originaltitel: PorNOgraphy: Men posessing Women (1979)

„Pornographie ist die inszenierte Dekonstruktion der Körper und Seelen von Frauen; sie lebt von Vergewaltigung, Körperverletzung, Inzest und Prostitution; sie ist charakterisiert von Entmenschlichung und Sadismus; sie ist ein Krieg gegen Frauen, der wiederholte Angriff auf ihre persönliche Würde, ihre Identität und ihren Wert als Menschen; es ist Tyrannei.”

Andrea Dworkin ist eine der bedeutendsten Figuren des Radikalfeminismus’ der 2. Welle. Die Schriften der US-Amerikanischen Soziologin schwappten in den 60er Jahren – nicht zuletzt durch ihre Zusammenarbeit mit Alice Schwarzer – auch nach Deutschland, doch ihre vergriffenen Werke bräuchten in ihrer deutschen Übersetzung eine dringende Neuauflage.

„Pornographie” zeigt mit deutlichen Worten und einer klar strukturierten Analyse auf, wie eng Pornographie mit gesellschaftlichem Frauenhass verstrickt ist und wie sie Frauen zu Untermenschen degradiert, deren Würde und schieres Überleben nebensächlich und im Grunde nicht besonders erwünscht ist.

Dworkin macht auf eindrucksvolle Weise deutlich, wie selbst-zentriert männliche Gewalt ist – ein hoch narzisstischer männlicher Lust-Trieb, bei dem die Herabsetzung von Frauen auf instrumentell dazu dient „männliche Macht zu verkünden, auszuüben und zu preisen”.

Über die Dekonstruktion und den Missbrauch der inszenierten und instrumentalisierten Frauen im pornographischen Material hinaus jedoch stellt Dworkin die Verbindung zu jeder anderen Frau her, die mittelbar oder unmittelbar von der medialen Verbreitung brutalen Frauenhasses betroffen ist – jede Frau, die die brutale Erniedrigung einer anderen Frau im Porno sieht, kann nur mit Unsicherheit, Angst oder Trauma aus dieser Erfahrung hervorgehen. Die de facto Akzeptanz von Pornographie jedoch drängt sie zusätzlich in eine Position, in der sie sich gar als Befürworterin der Grausamkeiten aussprechen muss, um nicht als prüde oder feige oder anti-sex zu gelten. Auf diese Weise können Männer bequem darauf verweisen, dass es Frauen gäbe, die Pornos gut fänden und dass sie Partnerinnen gehabt hätten, die sich gerne mit ihnen derartige Filme angeschaut hätten.

„Jede Art sexuellen Missbrauchs, jede Nuance sexuellen Sadismus’, jede Art und Unart sexueller Ausbeutung” findet sich in Pornographie wieder. Sie zeigt, schließt Dworkin „wie Männer wollen, dass wir sind; wie sie denken, dass wir sind; wozu sie uns machen; wie sie uns benutzen.” Und das, wohlgemerkt „nicht, weil es in ihrer männlichen Biologie, sondern weil es in ihrer sozialen Macht liegt” – weil sie es können.

2. REALITÄTSCHECK, MIT ZUKUNFTSPERSPEKTIVE

Rachel Moran: Was vom Menschen übrig bleibt. Die Wahrheit über Prostitution. (2015) Originaltitel: Paid for: My journey through prostitution. (2015)

„Wenn eine Frau Hunger leidet, ist das einzig Menschliche ihr Essen in den Mund zu stecken, nicht einen Schwanz.”

Rachel Morans „Was vom Menschen übrig bleibt” ist weit mehr als eine überaus berührende Autobiographie – es ist ein augenöffnender, herzzerreißender und doch perspektivenschaffender Appel an uns alle Position zu beziehen und Veränderung zu verlangen. Als Kind bereits in unsichere und gewaltvolle Umgebungen geworfen, hatte Moran schon recht früh mit einem gefährlichen Milieu Kontakt. Geldmangel, Hunger und Perspektivlosigkeit – und nicht zuletzt das Drängen ihres Partners, führten sie schließlich immer tiefer in die Prostitution. Dabei beschreibt sie eindrücklich, wie es von anfänglichen hand-jobs zu mehr und mehr grenzüberschreitenden Handlungen kam. Wie Not und Gewalt omnipräsent waren, egal ob auf dem Straßenstrich, im Massage-Salon oder beim edleren Escort-Date. Wie Männer sich am Ekel der prostituierten Frauen laben. Wie Freier das System für sich nutzen, um den prostituierten Frauen immer mehr abzuverlagen und wie sie sich im Zweifel durch Gewalt nehmen, was sie wollen und die Frau auch mal ohne den angeblich ach-so-angemessenen Lohn zurücklassen:

„Die Kommerzialisierung sexuellen Missbrauchs hat eine Arena geschaffen, in der […] Missbrauch ungehindert wüten kann, und zwar genau aus dem Grund, dass er weder erkannt noch richtig benannt wird.”

Von besonderem Interesse ist Morans Einschätzung zur gesetzlichen Veränderungen innerhalb der Prostitution. So hätte sie nach eigener Aussage während ihrer Zeit in der Prostitution niemals befürwortet, dass der Staat ein Verbot durchsetzt – nicht nur, weil sie eine Gefährdung ihrer Geldquelle antizipierte, sondern auch weil sie am eigenen Leib zu spüren bekam, wie Veränderungen zu größerer Ohnmacht prostituierter Frauen führten (in einem Beispiel erläutert sie, wie das Verbot der Straßenprostitution dazu führte, dass prostituierte Frauen nicht mehr für einen selbstbestimmten Preis auf dem Beifahrersitz für manuelle Befriedigung sorgen und dabei ein schnelles Ende der Begegnung erreichen konnten, sondern dass Freier Frauen nun für ganze Stunden kauften und mit ihnen in Hotelzimmer gingen, was für die Prostituierten bedeutete, dass sie Geld investieren, zeitlich gebunden und dadurch öfters benutzbar waren und nicht zuletzt mehr potenzielle Gewalt auf sich nehmen mussten).

„Wenn jemand mit Peitschenhieben gefoltert wird”, argumentiert Moran,

„und das Opfer dabei geknebelt ist, damit es still bleibt, brennen die Hiebe dann weniger auf der Haut? Wenn eine Frau sagt „Hier, peitsch mich für Geld aus”, die Peitsche überreicht und während der Auspeitschung keinen Ton von sich gibt, brennt es dann weniger auf der Haut? Und wenn sie glaubt (weil die Welt ihr das zu verstehen gibt), dass sie im Nachhinein kein Anspruch darauf erheben darf, Opfer einen Gewaltakts geworden zu sein, da sie schließlich Geld dafür akzeptiert hat, macht das ihren Angreifer, der Geld für das Vergnügen, sie zu verletzen, bezahlt hat, in irgendeiner Weise weniger zum Gewalttäter? Eine prostituierte Frau ist gezwungen, täglich zu verschweigen, wie ihr Unrecht angetan wird. Moderne, von der Gesellschaft akzeptierte Denkweisen halten sie geknebelt, und der psychologische Schaden, der dadurch entsteht, ist nicht nur weitverbreitet, sondern auch unvermeidlich.”

Wir brauchen, so Moran, das Nordische Modell, nach dem Frauen für das Anbieten sexueller Leistungen nicht bestraft würden, wohl aber Freier, die die Notlagen zum sexuellen Missbrauch nutzen. Auch wenn wir im vergleichsweise rückschrittigen Deutschland noch einen weiten Weg dahin haben, zeigt Rachel Moran in Wort, Schrift und Tat, dass es geht: 2018 setzte implementierte ihr Heimatland Irland das Sexkaufverbot, an dessen Realisierung sie maßgeblich beteiligt war.

Ich persönlich habe den größten Respekt vor dieser unfassbar starken, versierten und solidarischen Frau und auch wenn ihr Buch mich mehr als einmal zu Tränen der Trauer und der Wut gebracht hat, so hat es in mich auch motiviert und bestärkt an der abolitionistisch-feministischen Sache weiterzukämpfen, wo immer ich kann.

3. EMPIRISCHE FORSCHUNG MEETS PORNOGRAPHIE

Gail Dines: Pornland. Wie die Pornoindustrie uns unserer Sexualität beraubt (2014)

Originaltitel: Pornland: How porn has hijacked our sexuality (2010)

„Um gegen die Pornoindustrie zu kämpfen müssen wir sowohl im Individuellen als auch in einer gemeinsamen Bewegung. (…) So lange wir mit Pornos leben werden wir nie als gänzlich menschlich gesehen werden.”

Dr. Gail Dines ist eine Wucht. Die britische Professorin für Soziologie und Frauenforschung ist die Antwort auf das scheinheilige „…jaaaaa, wenn es denn Zahlen gäbe, die den Abolitionismus rechtfertigen, dann könnte man ja darüber reden” von Prostitutions- und Pornographiebefürwortenden. Mit dem vorgeschobenen „Leider wissen wir halt nicht genug über die harten Fakten”, mit dem Lobbyisten den Wind aus den Segeln von Feministinnen nehmen wollen, kommt man bei Dines nicht weit – denn sie bringt Zahlen, Fakten und die verloren gegangene Portion Menschenverstand zurück in eine Diskussion, in der Profiteure von sämtlichen negativen Realitäten abzulenken versuchen. Pornographie ist laut Dines’ Ergebnisse „derart in unsere Kultur eingebettet, dass sie mit Sex synonym geworden ist”, was es unmöglich macht die brutale Industrie zu kritisieren ohne gleich als „anti-sex abgestempelt zu werden”.

Bahnbrechend ist, wie Dines mit der veralteten Vorstellung von Softcore vs. Hardcore aufräumt: noch vor wenigen Jahrzehnten habe es noch einen Unterschied gegeben zwischen einerseits suggestivem, jedoch verhaltenen sexuellen Darstellungen, z.B. spätabends im TV und andererseits den expliziten Inhalten, die ungeniert Körperöffnungen während der Penetration zeigen und physisch massivere Akte abbilden.

Doch während man früher die softcore Bilder und Videos in Magazinen in der unziemlichen Ecke der Zeitschriftenhandlung und zu später Stunde auf Sportkanälen suchen musste, hat der softcore porn schon längst Einzug in den alltäglichen medialen Einfluss gefunden, der uns ständig bombardiert: von der Selbstverständlichkeit sexualisierter Frauenkörper in zusammenhangloser Werbung, über Sex-Szenen in gängigen TV-Serien für Jugendliche (wie Vampire Diaries oder Pretty Little Liars), bis hin zu sogenannten, selbsternannten „Frauenmagazinen” wie Cosmopolitan (die sich mit ihren Hochglanzmagazinen als vermeintlich feministisch verkaufen aber in Wahrheit nur anti-feministische, patriarchale und männerzentrierte Phantasien zentrieren – Wie nehme ich schnell ab? Wie blase ich ihm einen? Was macht ihn im Bett verrückt?). Überall werden Frauen zum Konsum von Inhalten animiert, die sie und ihre gesamte Klasse weiter objektifizieren, sexualisieren und auf Pornographie vorbereiten sollen.

Während Mann zuvor hardcore porn noch in dunklen Ecken des damals noch neuen Internets finden und in halb-legalen Portalen herunterladen musste, führt heute jede schnelle Google-Suche zu sämtlichen vorstellbaren und unvorstellbaren Inhalten, Akten und Perversitäten.

Wie Dines auf unmissverständliche Weise aufzeigt, sind diese Grenzen nicht nur aufgeweicht, sondern in der heutigen Zeit völlig zerbombt.

Ihrer empirischen Forschung nach, für die Dines Inhalte pornographischer Filme untersuchte, Pornodarstellerinnen interviewte und die Motive von Profiteuren analysierte, ist der soft porn schon längst Teil unseren Alltags. Was hingegen alarmierender und besonders einfach zugänglich ist, sei der sog. Gonzo-Porn: Pornographie, die gewaltsame, bizarre und frauenverachtende Inhalte auf selbstversändliche Weise zeigt und mittlerweile der Standard jeden typischen Videos sind. Die phantasielose Berechenbarkeit stereotyper Handlungen (Blowjob, vaginale Penetration, anale Penetration, zum Schluss Ejakulation auf das Gesicht) ist die base line der Pornoindustrie, die jährlich Milliarden produziert und die große Summen in technische Entwicklungen steckt, von der sie sich weitere Kunden verspricht.

Völlig normal geworden (und nicht etwa schwer aufzutreibende Fetische!) seien auch Videos mit gang-banging (eine Frau, mehrere Männer, fast immer mit Grenzüberschreitung und Erniedrigung), ass-to-mouth (der Penis penetriert die Frau ungewaschen zunächst anal und dann vaginal), Vergewaltigungen, Sadismus, und viele weitere Akte, bei denen Darstellerinnen allein schon körperlich gequält werden, von den psychischen Folgen bei Darstellerinnen und Zuschauerinnen gar nicht zu sprechen.

Das alles, betont Dines, ist mit wenigen Klicks über das Internet völlig unzensiert und kostenlos verfügbar. Allem voran aber zielt es auf immer jüngere Männer und Jungs ab – und das mit Erfolg: das Einstiegsalter beträgt Studien nach zwischen 9 und 11 Jahren, deren Hemmschwelle für sexualisierte Gewalt und Erregung durch liebevollen, intimen Kontakt völlig herabgesetzt und zerstört wird. Dines’ Forschung und Handlungsansätze sind in „Pornland” und auf ihrer Website „Culture Refraimed” nachzuvollziehen.

Auch regt Dines zum Gedankenexperiment an:

„Stellen wir uns vor (…) wir würden einen Haufen Serien im Fernsehen sehen, in denen dunkelhäutige oder jüdische Menschen wiederholt mit rassistischen oder anti-semitischen Beleidigungen angesprochen wurden, in denen ihnen an den Haaren gezogen, ins Gesicht geschlagen und bis zum Würgen Fremdkörper in den Mund gesteckt werden. (…) Das gäbe einen Aufschrei und die Darstellungen würden nicht damit verteidigt werden, dass es sich bei ihnen lediglich um Fantasien handle.”

Es sind harte Analysen und die Auseinandersetzung mit diesen Inhalten ist nicht angenehm – ich selbst habe bei der Lektüre oft Übelkeit, Ekel, Wut, Trauer und Hilflosigkeit gespürt – doch sie ist fundamental um zu erkennen, was der aktuelle, wahre und inakzeptable Status Quo ist, gegen den es aufzubegehren gilt.

4. UND ES HÄNGT DOCH ALLES ZUSAMMEN

Sheila Jeffreys: Die industrialisierte Vagina. Die politische Ökonomie des globalen Sexhandels (2014)

Originaltitel: The industrial vagina: The political economy of the global sex trade (2008)

„Von dem neo-liberalen Subjekt wird gefordert, ungeachtet der Schwere der Einschränkung seiner Handlungsfähigkeit die volle Verantwortung für seine Lebensbiografie zu tragen, so wie der Neoliberalismus fordert, dass sie ihre Lebensgeschichte so erzählen, als ob sie das Ergebnis freier Entscheidungen ist.“

Obwohl Sheila Jeffreys’ „Die industrialisierte Vagina” bereits 2008 in ihrer australischen Heimat veröffentlicht wurde und für viele Feministinnen auf der ganzen Welt auf die Regaletage mit der Standardliteratur kam, wurde es erst vor wenigen Jahren ins deutsche Übersetzt. Doch das warten hat sich für Deutschlesende gelohnt: Jeffreys Kunst ihren LeserInnen die Schuppen von den Augen zu raspeln, ist beeindruckend. Es ist eines dieser Werke, die frau auch Monate oder Jahre nach der letzten Lektüre mit dem Aufschlagen jeglicher Seite ein erleuchtendes Erlebnis erfährt.

Jeffreys’ Werk vereinigt ihre eigenen Gedanken mit 26 Schriften anderer AutorInnen zu den Themen Prostitution, Pornographie und Politik. Sie prangert die Wirtschaftsmacht und den Neo-Liberalismus an. Diese hätten mit der Normalisierung des euphemistisch als „Sex-Handel” bezeichneten Frauenhandel zu einer absurden Akzeptanz der Porno- und Prostitutionsindustrien unter Männern wie Frauen geführt.

Damit wird der aufmerksamen Leserin gleich ein bedeutender Balken aus dem Auge gezogen – denn unter dem Deckmantel von humanitärer Hilfe durch NGOs und dem neoliberalen, postfeministischem Ansatz werden laut Jeffreys seit Jahren Frauen dazu gedrängt „Cheerleaderinnen” derjenigen Systeme zu werden, die sie und ihre Geschlechtsgenossinnen unterdrücken. Glitzer, Beschönigungen und Wortneuschöpfungen verhüllen mit vorwurfsvollem Blick auf Kritikerinnen die Realität – wir werden angehalten prostituierte Frauen als „Sex-Workerinnen” zu bezeichnen, Instandhaltungs-Sex in der Ehe mit Empathie zu tolerieren, Militärgewalt gegen Frauen zur Maskulinisierung von Truppen hinzunehmen, Sextourismus nicht zu sehen und auch den Staat als bedeutendsten Zuhälter in Ländern mit entkriminalisierter Prostitution seine Verantwortung abzusprechen. All das sollen wir natürlich möglichst mit heteronormativer Patriarchatskonformität – und einem Lächeln! – tun, immerhin würde Mann uns dann zuhören. Feministinnen sollen bequem sein; hübsch, rasiert, sexy… denn, wie der Neo-Liberalismus uns suggeriert, das sei keine Kapitulation vor dem Patriarchat, sondern lediglich ein Kompromiss – und, fragt der Kapitalismus aus dem Aus während er schon die Verkaufsregale einräumt: Wollen wir Frauen das im Grunde nicht selbst, die schönen glatten Achseln und die glänzenden roten Heels?

Jeffreys Meistergriff aber ist die vermittelte Erkenntnis den Mythos der freien Entscheidung zur glückseligen Ausbeutungs nicht weiter zu akzeptieren. Da, wo Frauen systematisch unterdrückt werden und der Zugang zu wahrer Freiheit verwehrt wird, können wir nicht hinnehmen, dass Opfer sexualisierter Gewalt für die männergemachte Misere, in der sie leben, verantwortlich gemacht werden.

Hier gehe ich mich Sheila mehr als d’accord: Es ist zu bequem Frauen ohne Perspektiven in Gewaltmilieus zu drängen, sich halbherzige und finanziell zum Scheitern verurteilte Hilfsangebote auf die Fahne zu schreiben und hinterher das Ausbaden der Ekelsuppe der Frau zu überlassen, die unvorstellbare Not leidet. Vom oben genannten „…wenn die Frau das so will, dann sollten wir da auch nichts gegen sagen!” geht damit hin zu „…naja, jetzt können wir auch nichts mehr machen, da muss sie durch – sie wollte es ja so”.

Und genau diese Haltung zeigt, dass es sich beim Argument der freien Entscheidungsfähigkeit um nichts anderes als einen Vergewaltigungsmythos handelt.

***

Obwohl diese Leseliste nur die Spitze des Eisbergs großartiger Literatur wunderbarer Frauen darstellt, soll sie jenen, die in den verspäteten Sommerurlaub noch etwas zu Schmökern mitnehmen möchten, die noch am Anfang ihrer Auseinandersetzung mit den Themen Prostitution & Pornographie stehen, und die weitere Informationen oder Motivatoren im Widerstand gegen die sexistische, kapitalistische und in Deutschland legalisierte Ausbeutung von Frauen wünschen.

Vom Klassiker, über den Überlebensbericht, zur Empirie, und hin zur Meta-Betrachtung – diese Frauen haben Werke verfasst, deren Lektüre an den Grundfesten der Selbstverständlichkeit von Sexismus und unserer eigenen Beschäftigung damit rüttelt.

Analysen, die radikal und unbequem sein können, aber die uns der Wahrheit und Freiheit Seite um Seite näher bringen.

„Man kann einfach nicht sowohl für als auch gegen die Ausbeutung von Frauen sein: dafür, wenn es Lust bringt und dagegen, im Abstrakten; dafür, wenn es Profit einbringt und dagegen im Prizipiellen; dafür, wenn keiner hinschaut und dagegen, wenn es jemandem auffallen könnte…” (Andrea Dworkin)


Weitere Lektüreempfehlungen

Siehe auch unsere ausführliche Besprechung von Kajsa Ekis Ekmans bahnbrechendem Buch “Being and being bought”: Zur materialistischen Kritik der Prostitution. Siehe ebenso die Leseliste zur Einführung in die Wertabspaltungskritik.

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