« Kritische Perspektive

Nachrichten und Kritik

Meistgelesen im April

Der Freier

09.09.2016

14.08.18

Betroffene Frauen, blinde Flecken

Bericht zur Veranstaltung "Wer kauft Frauen?" am 29.07.2018 in Wetzlar von ALARM! gegen Sexkauf

Im romantisch-malerischen Wetzlar an der in der Julisonne glänzenden Lahn lud der Verein „ALARM! gegen Sexkauf“ mit Hauptsitz Gießen zu einer Veranstaltung der sommerlichen Art ein:

Im Rahmen der Labyrinth-Woche, die sei Anfang der 2000er Jahre jährlich den Fokus auf Frauen legt und Veranstaltungen zu für Frauen relevante Themen und Gesundheitsaspekten legt, fanden sich 23 Frauen und zwei Männer am Frauen-Gedenk-Labyrinth der Frankfurter Künstlerin Dagmar von Garnier zusammen.

Zentrale Frage der Veranstaltung war „Wer kauft Frauen?”. Ziel von ALARM! gegen Sexkauf ist es, die Wahrheit hinter den Mythen über Prostitution aufzudecken, mit denen Prostitution als Dienstleistung rationalisiert und die darin stattfindende Gewalt negiert wird. Lobby-Vereine betonen, dieser völlig freiwillig gewählte Job würde Spaß machen und überdies gerade Migrantinnen ein hohes Einkommen und finanzielle Unabhängigkeit bieten. „Durch diese und weitere Mythen reden sich Freier ihr Handeln schön. Gleichzeitig sind sich viele von ihnen laut einer Studie der negativen Auswirkungen der Prostitution auf die Mädchen und Frauen bewusst, die in der Prostitution bis auf das Äußerste ausgebeutet werden”, so ALARM.

Ein mitgebrachter Flip-Chart auf der Wiese, um den herum die interessierten Zuhörenden an diesem angenehm-warmen Sonntag auf Klappstühlen Platz genommen hatten, und zwei Referentinnen von ALARM! führten durch die Veranstaltung.

Im Gespräch wurden zunächst die Vorstellungen über jene Männergruppen gesammelt, die in den Augen des Publikums keine Frauen kaufen würden. Mein Vater nicht, mein Bruder nicht, mein Mann nicht… sicher auch keine Polizisten oder eben keine „ganz normalen” Männer.
Doch die Realität sieht anders aus: Freier kann frau nicht ohne Weiteres erkennen, denn sie kommen aus sämtlichen sozialen Schichten, jeglicher Berufsgruppe, allen Altersgruppen und Beziehungsformen; das an dieser Stelle empfohlene Buch von Udo Gerheim „Die Produktion des Freiers” betont warnend, dass laut Studien aus den Niederlanden das Einstiegsalter ins Freiertum sinkt. So bietet auch das Pascha in Köln seit Jahren Möglichkeiten zur Buchung von Abiturfeiern oder Junggesellenabschieden an.

Die „Jedermann”-Hypothese bringt es auf den Punkt: Jeder Mann könnte ein Freier sein. Viele haben bereits Frauen gekauft. Einige tun es wiederholt. Alle erkaufen sich Macht und den den Zugang zum Körper einer finanziell in Abhängigkeit versetzten Frau, deren Konsens zu allen Taten, die hierauf folgen, nicht mehr zählt.

Laut Gerheim verbindet Freier, dass sie denken, ein Anrecht auf Sex zu haben. Sie konsumieren Pornographie und stimmen im statistischen Durchschnitt Vergewaltigungsmythen zu, die da etwa behaupten, missbrauchte Frauen hätten es ja auch so gewollt. Da eine solch große Zahl von Männern Frauen unabhängig von Variablen wie Herkunft, Bildungsstand oder Beziehungsstatus kauft, ist es unmöglich über eine „Blickdiagnose” festzustellen, wer ein Freier ist. Sie sind, so der Autor, unter uns.

An dieser Stelle berichtet eine der Referentinnen, dass sie noch am Morgen an einem Selbstverteidigungskurs teilgenommen habe; die teilnehmenden Männer hätten sich nach der Stunde angeregt über ihre Wochenendpläne unterhalten. Auf völlig selbstverständliche Art habe einer der Männer erzählt, dass er am Abend noch plane mit seinen Freunden in den Puff zu gehen – darauf habe einer der Kumpels ihm geraten: „fick nicht zu viel, sonst wirst du schwul!”. Die Salonfähigkeit des Frauenkaufs führt uns immer wieder vor Augen: Freier sind unter uns. Sie respektieren Frauen nicht, sondern sie prahlen mit der Macht, die sie sich über einen anderen Menschen erkaufen. Und warum auch nicht? Es gibt keinen Grund sich für das Nutzen mafiöser Strukturen zu schämen, nicht in einem Staat, in der es völlig legal ist eine Frau für einen bestimmten Zeitraum zu kaufen, sie für verschiedenste Sexualakte zu missbrauchen und selbst jenen, die völlig offensichtlich unter Angst, Schmerz oder Drogenkosum leiden, jegliche Hilfe zu verwehren.

Gut gemeint” ist der kleine Bruder von…

Der Mangel an Empathie, Respekt und Menschlichkeit, den Männer in dieser Welt Frauen entgegenbringen, betrifft nicht nur diejenigen unter uns, die auf direkte Weise vom System der Prostitution betroffen sind und täglich unter ihrer Gewalt leiden; alle Frauen sind von den Folgen der herabgesetzten Hemmschwelle männlicher Aggression betroffen. Von der Partnerin, deren Mann Porno-analogen Sex erwartet; über die Fußgängerin, die in der Stadt beständigen Anmachen ausgesetzt ist; bis hin zur Teilnehmerin eines Selbstverteidigungsseminars, die die Normalität der Aufschneiderei von Freiern hinnehmen muss.

Diese im Jahr 2002 begonnenen, gesetzlichen Verankerungen der Prostitution als „legalisiert“, seien, so die ALARM!-Referentinnen, durchaus „gut gemeint” gewesen. Dass prostituierte Frauen sich zum Beispiel krankenversichern könnten und Rentenansprüche erhalten würden, sei damals theoretisch noch positiv bewertet werden können. Allerdings arbeiten die meisten betroffenen Frauen weiterhin unter prekären Verhältnissen, müssen Not und Gewalt ertragen und erhalten bei Weitem nicht genügende Angebote zum erleichterten Ausstieg.

Wie die Empirie zeigt, sind viele prostituierte Frauen Osteuropäerinnen, die über falsche Versprechungen oder die Loverboy-Strategie in die Fremde gelockt werden und von einem besseren Leben träumen. Selbst jene, die nach eigener Aussage vor dem Eintreten wussten, dass es sich bei den hochgelobten Arbeitsangeboten aus Deutschland um Prostitution handelt, seien erschüttert und entsetzt über die Zustände, die sie vorfinden. Die Liberalisierung hat zusätzlich dazu geführt, dass auch umliegende Länder prostituierte Frauen in Deutschland nutzen, sodass ganze Horden von Freiern aus den Nachbarländern hinzukämen.

ALARM! fasst zusammen – das Gegenteil vom gut Gemeinten ist eingetreten.

Betroffene Frauen sind nicht nur weiterhin großer Gewalt ausgesetzt, sondern leiden durch die de facto Akzeptanz der Judikativen unter noch stärkerem Druck und gebilligten Aggressionen. Von geschätzten 400.000 Prostituierten hätten sich 44 tatsächlich angemeldet. Dabei handle es sich bei der Prostitution um ein Geschäft von 14 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr, von denen nahezu 2 Milliarden an Vater Staat zurückfließen – die betroffenen Frauen jedoch würden vom großen Geld nichts sehen. Zwischen Zimmermieten, die den Bordellbetreibenden zu entrichten seien und häufig vorkommendem Drogenkonsum, der zum Ertragen des täglichen Missbrauchs für viele notwendig würde, bliebe den Frauen kaum eine Gewinnmarge. Auch seien Prostituierte selbst nach der Gesetzesänderung von 2017 nicht gänzlich entkriminalisiert: Frauen, die trotz Kondompflicht auf das Präservativ verzichten müssten (etwa weil der Freier das Kondom auszieht oder sie unter Druck zum AO („alles ohne”) zwingt), werden gesetzlich belangt, sodass sie derartige Vorkommnisse nicht anzeigen können, ohne sich selbst zu schaden; zumal der Freier im Rahmen seiner eigenen Anonymität ungeschoren davonkommt und auch die Bordellbetreibenden ihre Unschuld bekunden, da sie die Frauen als Selbständige anstellen. Win-win für die Männer, lose-lose auf allen Ebenen für prostituierte und nicht-prostituierte Frauen.

Fehlende Ausstiegshilfen

Das Jobcenter machte in den vergangenen Jahren des Öfteren Schlagzeilen damit, dass Frauen in Jobs in Bordellen oder Laufhäusern vermittelt werden sollten, und seien es nur Tätigkeiten als Kellnerin oder Thekenhilfe. Klagten die Frauen und machten sie die Angelegenheit in den Medien publik, wurden sehr schnell Lösungen gefunden: die Bundesagentur für Arbeit distanzierte sich von den Vorfällen und schickte den betroffenen Frauen durch neue Arbeitsvermittelnde anderweitige Stellenanzeigen zum Vorschlag vor. Doch allein die Tatsache, dass Frauen sich auf diese Weise rechtfertigen müssen, ist bereits skandalös. Und das trotz / gerade aufgrund der zitierten „freien Berufswahl”, die die Bundesagentur für Arbeit stets hoch hält. Dass Frauen begründen müssen, nicht an einem Ort arbeiten zu wollen, wo gegen Geld Frauen vergewaltigt werden, ist unerhört.

Das größte Problem laut ALARM! sei allerdings weiterhin die mangelnden Ausstiegshilfen für betroffene Frauen. Tatsächlich gibt es zwar verschiedene Stellen und Vereine, die sogenannte “Einstiegs- und Orientierungsberatung” anbieten, doch nur wenige Fachberatungsstellen erkennen an, dass Prostitution Gewalt gegen Frauen ist. Noch weniger Beratungsstellen sprechen sich offen für das Nordische Modell aus. Und kaum bieten Ausstiegsberatung und Begleitung beim (Wieder-)Eintritt auf den ersten Arbeitsmarkt.

Organisationen wie „Sisters e.V.“ und „SOLWODI“ bieten zwar umfassende und begleitete Ausstiegsmöglichkeiten an, und auch Interessenvertretungen wie das „Netzwerk Ella“ versuchen Unterstützung zu geben; jedoch finanzieren sie sich alle zum großen Teil oder vollständig über Spenden, sodass sie mit den meist staatlich oder kommunal finanzierten, in nicht wenigen Fällen durch Lobby die gestützten, finanziell gut dastehenden Vereinen mit ihren Beratungen, die den Einstieg oder eine Umorientierung zentrieren, kaum mithalten können. Obwohl geschätzt über 80% der prostituierten Frauen aus dem Milieu aussteigen wollen, haben sie kaum Anlaufstellen, um diesen Wunsch realistisch umzusetzen.

Auf diese Weise hat die 2002er-Gesetzesänderung laut ALARM! marginale Verbesserungen im Sinne der Versicherungspflicht geschaffen, jedoch auch viele neue Nachteile eingebracht.

Eine besondere Ungerechtigkeit läge, so die Referentinnen, darin, dass unter dem Deckmantel der Selbständigkeit prostituierten Frauen umso mehr nachgesagt würde, dass sie ihrer Tätigkeit völlig freiwillig und ohne Zwang nachgingen; doch auch die Tatsache, dass sie als Selbständige oder Honorarkräfte mangelnden Schutz (keine Möglichkeit zur Krankmeldung mit automatischer Lohnfortzahlung, keine Einzahlung in die Rentenversicherung, uvm.) erfahren und die Tätigkeiten in jedem gesundheitlichen Zustand verrichten müssen. Außerdem würden sich Betreibende auf diese Weise eine goldene Nase verdienen – sie müssen keine Abgaben für abhängig Beschäftigte entrichten, können bei Arbeitsausfall Gebühren ansetzen und haben allem voran die Möglichkeit sich von allen Taten, die in den Zimmern ihrer Häuser stattfinden, freizusprechen. Lediglich wenn sie über 50% des Einnahmen prostituierter Frauen verlangen würden oder auch nach mehrmaliger Kontrolle grobe unhygienische Verhältnisse tolerieren würden, könnten sie belangt werden.
Der Rest ist völlig „schnuppe”: Egal ob körperliche Gewalt, das Abstreifen von Kondomen oder andere Missetaten – Bordellbesitzer können behaupten von nichts gewusst zu haben, sind nicht zum Schutz der selbständigen Damen verpflichtet und können Gesetzeswidrigkeiten sogar auf die registrierte prostituierte Frau abwälzen.

So kann frau nur verlieren.

Wer kauft Frauen? Und warum?

Einige Teilnehmende waren bereits mit dem Thema Prostitution und Abolitionismus vertraut. Doch für einige Frauen aus dem Publikum war die Überraschung und der Schock über die Realität von Prostituierten groß. Einige zeigten sich dankbar um die Einblicke in die andere Seite der Medaille einer ausbeuterischen Arbeit, die in den Medien mit als glamourös, selbstbestimmt und lukrativ dargestellt wird. Viele kennen sie, die Bordellbetreiberinnen, BDSM-Studio-Besitzerinnen und Escort-Damen, die nach eigener Aussage mehrere tausend Euro pro „Date” verdienen. Beinahe erstrebenswert erscheint ihr Leben als selbständige, zufriedene und starke Vorreiterinnen einer sexuellen Revolution, die nur ganz zufällig dem Idealbild patriarchaler Herrschaftsverhältnisse in nahezu jeder Hinsicht entspricht. Diese Frauen mögen einiges mehr verdienen, doch es handle sich hierbei um einen prozentual winzigen Teil verglichen mit den Abertausenden ausgebeuteter Frauen, die unter Gewalt, Drogen und Dissoziation mehrere Vergewaltigungen im Austausch gegen einen Hungerlohn über sich ergehen lassen müssen. Auf dem berühmt-berüchtigten Straßenstrich Berlins, der Kurfürstenstrasse, sei es laut ALARM! möglich eine Frau für fünf Euro zu kaufen und so mancher Freier würde ganz gezielt nach abhängigen, beeinträchtigten und verletzten Frauen suchen, um durch das Drücken des Preises und der anschließenden Gewalt ein noch größeres Gefühl der Macht erleben. „Ein Teufelskreis!”, ruft eine Teilnehmerin aus dem Publikum. Die Frauen würden in vielen Fällen noch mehr Drogen und Alkohol konsumieren, um die traumatischen Erlebnisse überhaupt zu ertragen und würden dadurch noch weiter abrutschen.

Es wird deutlich: Sexarbeit ist keine Arbeit; Freier sind keine Kunden; Männer üben über das System der Prostitution jegliche für sie vorstellbare Gewalt gegen Frauen aus.

Der Vortrag von ALARM! gegen Sexkauf klärte über verschiedene Aspekte des Freiertums auf. Fundamental ist hierfür die Erkenntnis, dass es keine spezifischen, abgrenzbaren sozio-demographischen Gruppen von Männern handelt, sondern ein jeder Mann in Deutschland mit der Sexualisierung und Käuflichkeit von Frauen in Kontakt kommt und viele den legalisierten Menschenkauf nutzen.

In Bezug auf die Motivation von Freiern unterscheidet Alarm! verschiedene Faktoren:

Lust nach Körperlichkeit und Sexualität – hier ist Prostitution allem voran komfortabel; der Freier wünscht sich einen körperlichen Kontakt und kann sich ganz bequem einen Körper zur Nutzung aussuchen, häufig kann er ebenfalls den Preis dafür diktieren oder verhandeln und in vielen Fällen sanktionsfrei abgesprochene Grenzen übertreten. Darüber hinaus schafft die Prostitution einen Zugang zu Frauen, bei denen so mancher Freier im Alltag keine Chance hätte, sagt ALARM! – so beispielsweise ausgesprochen junge oder gutaussehende Frauen, oder aber auch Frauen mit ganz bestimmten Benachteiligungen, die fetischisiert werden können (so z.B. Behinderungen, Schwangerschaft…).

Auch soziale Wünsche leiten die Freier – prostituierte Frauen werden an dieser Stelle in Rollen gedrängt:

Der Wunsch nach Nähe führt häufig zur Idealisierung der Prostituierten im Sinne eines Partnerersatzes. Der Freier kann unrealistische Wünsche ausleben und insbesondere Kontakt zu Frauen erkaufen, die er ansonsten nicht erreichen könnte, so die Erläuterungen von ALARM!

Andererseits führt Frauenverachtung zur Erotisierung von gewaltvollen Kontakten. Überlebende der Prostitution berichten häufig darüber, dass Freier regelrecht darauf stehen Frauen zu demütigen und zu beschimpfen. Sie spielen ihre körperliche und finanzielle Überlegenheit aus und laben sich in der dadurch ausgeübten Macht

Psychische Motive spielen ebenfalls häufig eine Rolle – von Depressionen, über Langeweile bis hin zu Schamgefühlen.

nicht zuletzt sei die geheimnisvolle Subkultur des Prostitutionsmilieus für viele Männer spannend – diese kann einen gewissen, verdrehten „Charme” halten, weil der Freier in dieser von seiner Alltagsrealität verschobenen Welt in eine gänzlich neue Rolle schlüpfen, Macht kennenlernen oder ein (für den Mann) sicheres Abenteuer erleben kann.

Doch wie kommen Männer überhaupt zum Freier-Dasein?

Der Einstieg, so ALARM!, sei gerade in Deutschland mehr als einfach.

Von Neugierde und vermeintlicher Schüchternheitsüberwindung, über Gruppenzwang und Initiationsriten, bis hin zu sexualbiographischen Krisen, die die patriarchale Gesellschaft mit ihrer vorausgesetzten toxischen Maskulinität über kurz oder lang heraufbeschwört. Der Weg zum Freiertum selbst sei bei den vielen Plakaten und zahlreichen Laufhäusern alles andere als erschwert. „Jedermann” könnte ein Freier sein.

„Jedermann” kann über einen maximal simplen Zugang zur Prostitution verfügen.

Ist der Einstieg geschafft, bleibt der Verblieb im Freiertum zu erörtern.

Die (andauernde) Kompensation, die der Freier über die Prostitution erfährt – von sexueller Befriedigung über Machtausübung – ziehe laut ALARM! nicht selten Wiederholungszwänge nach sich. Auch habe das Milieu einen großen Suchteffekt, weil der Zugang zur prostituierten Frau zeitlich und räumlich begrenzt bleibt und der Freier den berauschenden Effekt seiner erfüllten Lust reproduzieren oder aber verstärken will. Tatsächlich gibt es empirische Hinweise auf eine drogenähnliche Toleranzentwicklung. Analog zur Giftfestigkeit in Bezug auf Alkohol muss der Freier also immer häufiger und immer stärkere Phantasien ausleben, um das gewünschte „high” zu (über)treffen. Das betrifft nicht nur prostituierte Frauen, sondern auch die intimen Kontakte zu festen Partnerinnen, in denen der Empathieverlust, die Grenzüberschreitungen und die ich-zentrierte Sexualität des Freiers transzendieren – ein Mann, der es genießt oder gewohnt ist „König Kunde” zu sein, dessen Wünsche die Interaktion bestimmen, erwartet den gewohnten Zugang zu egoistischem, pronographischem und intimitätslosen Sex bald auch in Situationen, in denen er kein Geld für sein Verlangen zahlen muss.

Hier wird offenbar, warum Prostitution „jedefrau” angeht – jede Frau kann einen oder mehrere Freier in ihrem nahen Umfeld haben; jede Frau kann durch persönliche, soziale oder finanzielle Umstände von Prostitution betroffen werden; und jede Frau ist durch die kollektiv-kulturell herabgesetzte Hemmschwelle der patriarchal-gewalttätig aufgedrängten Selbstverständlichkeit zu frauenentwürdigendem Sex beeinflusst: in ihrer Partnerschaft, ihrer Mediennutzung, sowie ihrem Verhältnis zu sich und anderen Frauen.

Wenn die einzige Chance Zusammenschluss ist, wir uns aber zerstreuen…

Der Vortrag von ALARM! öffnet Augen, wühlt weiter auf und zeigt kompromisslos Missstände auf. Das Publikum ist voller Emotion dabei – der Ärger ist groß, über Männer, die Frauen kaufen, über privilegierte Frauen, die das Problem weißwaschen, und über die Politik, die die Herabsetzung und Benutzung von Frauenkörpern zugelassen hat.

Immer wieder kommt die Frage „Was können wir jetzt tun?”, „ganz konkret?”, „direkt ab heute!”.

Der Konsens ist im Grunde mehr als deutlich: Frauen müssen sich solidarisch zusammenschließen und das Ende von Menschen- & Frauenhandel fordern.

Das Nordische Modell und die Parteimitgliedschaft in die Partei Die Frauen sind einige der Möglichkeiten, die ALARM! an dieser Stelle aufzeigt.

Doch Motivation allein reicht im alltäglichen Kampf um die Befreiung aller Frauen nicht aus:

Proteste, Streiks und politische Pläne können langfristig und groß-gesellschaftlich nur an Momentum gewinnen, in dem viele Betroffene sich dem bestehenden, oppressiven System verweigern, es boykottieren und mit langem Atem an einer abgrenzbaren Veränderung festhalten.

Das Nordische Modell sorgte bereits in anderen Ländern für deutliche Verbesserungen… und doch lassen wir uns Sand in die Augen streuen, von Lobby-Vereinen und ausgewählten, einsamen Befürworterinnen des Systems, das sie und ihre Schwestern unterdrückt.

Eine Partei für Frauen zu wählen, die abolitionistisch, feministisch und sozialistisch ist… das ist für manche bereits einer Partei zugehörigen Frauen schwer und viele argumentieren, dass es doch eine gute Idee sein, andere Parteien feministisch zu „unterwandern” – als hätte uns die Geschichte nicht immer wieder gezeigt, dass diese letztlich patriarchal fundierten Systeme jeden kämpferischen Mut mit ihren Strukturen zermürben.

Proteste sind eine wunderbare Idee, doch… „Stell’ dir vor es ist Krieg und keiner geht hin” – so lange Frauen in einer Bewegung nicht Frauen und Frauenrechte zentrieren und dafür dem Patriarchat Ressourcen entziehen, bleibt es für Männer und Freier bequem, sich auf ihren Privilegien auszuruhen, den innerfeministischen Kämpfen genüsslich zuzuschauen und sich auf die Worte und Taten der Frauen zu berufen, die rein auf dem individuellen Level für ihre bestmögliche Platzierung sorgen, indem sie Männern zustimmen, Verhältnisse nicht anprangern, oder einfach wegschauen und kein Bewusstsein für die heute in Deutschland mehr denn je grassierende Unterdrückung marginalisierter Frauen entwickeln wollen.

Was wird aus der feministischen Praxis?

Alle Teilnehmenden waren sich einig: so darf es nicht weitergehen. Wiederholt kam die Frage nach Möglichkeiten des Engagements auf. Der Wunsch nach einer Welt in der Frauen eine Zukunft mit Menschenwürde und Selbstverwirklichung haben, ist groß. „Ich kann so nicht nach Hause gehen und einfach nichts tun”, sagte eine Teilnehmerin. Andere stimmen mit ein: „Was können wir im Alltag tun?”, neben Demonstrationen und politischem Engagement fragten die Teilnehmenden insbesondere nach Möglichkeiten auch im kleineren Rahmen der Unterdrückung von Frauen durch Männliche Dominanz zu widerstehen. Doch so enthusiastisch die Idee einer Bewegung ist, so schnell zerschlägt sich eine mit ganzem Herzen gewünschte, gesellschaftliche Revolution.

Da spricht frau über den Zusammenschluss als einzigen Ausweg, über absolute Solidarität mit ihren Schwestern und über die Notwendigkeit der Bestrafung von Männern, die Frauen schaden… und dann kommt ein Voyeur um den Stuhlkreis herumgeschlichen, macht Fotos von der Gruppe und drängt sich auf, wie ein Elefant im Porzellanladen in einen Raum, der ausnahmsweise nicht den männlichen Rüssel, sondern die weibliche Rüstung zentriert.

Geistesgegenwärtig fordern die Referentinnen von ALARM! den Mann auf, die aufgezeichneten Bilder zu löschen. Er lacht, versteht kein Deutsch, deutet an, dass er sich zurückziehen würde. Und doch setzt er sich einige Meter von der Runde entfernt ins Gras – raucht, schaut zu, grinst, rückt in der Hose was zurecht, zündet noch eine Zigarette an und glotzt die TeilnehmerInnen an.

Unangenehm? „Das meint der gar nicht so; der versteht doch einfach nichts.”

Dreist? „Ignorier den, dann geht er gleich wieder von alleine.”

Sollen wir nicht mal was tun? „Dann geh halt alleine hin, wenn’s dir nicht passt.”

Und das in der Frauenrunde, die eben noch mehrmals nach aktiven, realisierbaren und tatkräftigen Möglichkeiten geschrien hat, die etwas verändern könnten.
Um sich gegen die Grenzüberschreitungen von Männern zu wehren.

Um ein Zeichen gegen das Alleinlassen schutzbedürftiger Frauen zu setzen.

Um von Grund auf das System aufzurütteln und zu verändern.

Später dann, „Fandet ihr das nicht auch total creepy?” – „Oh, hatte ich gar nicht mitbekommen – dem hätte ich aber die Meinung gegeigt!”

Woher kennen wir diese Muster?

Wir wollen Frauen befreien, Frieden erreichen, die Welt retten. Aber nicht im Kleinen. Nicht jetzt grade, vielleicht nachher. Wenn es um etwas anderes geht. Morgen vielleicht, wenn ich mir von der Arbeit freinehmen darf. Vielleicht kann mein Mann ja mal selbst kochen. Obwohl, für das Kind bereite ich schon einmal was vor. Dann komm ich halt etwas später. Und eigentlich bin ich heute von der Arbeit total gestresst, wir arbeiten ja im fiesen Kapitalismus alle zu viel für zu wenig Geld, besonders Frauen. Das geht ja mal gar nicht an. Aber bei der Erschöpfung, da kann ich jetzt gerade nichts machen, ich hätte ja gern, aber das muss man verstehen. Es müssten ja noch andere da sein, die was sagen, ich will da auch nicht alleine dastehen. Achso, so denken alle und es ist dann keine Bewegung zustande gekommen? Das ist ja blöd, darf eigentlich nicht sein! Aber was kann ich schon machen.

Von der Empörung, über themenspezifischen Aktivismus hin zu einer ganzheitlichen Veränderung, müssen wir noch weiter wachsen. Das betrifft sowohl die Anzahl der Frauen und Männer, die beschließen keine Frauen zu kaufen, als auch die tatkräftige Verneinung männlicher Verhaltensweisen im Großen wie im Kleinen, die Frauen einschüchtern oder zum Schweigen.

Wer kauft Frauen?

Wer dringt sich in ihre Räume, Körper und Gemeinschaften auf?

Und wer reagiert?

Wer wird aus den eigenen Reihen zum Schweigen und Ignorieren gebracht?

Wie können wir erwarten gegen die himmelschreiende Unmenschlichkeit der Prostitution vorzugehen, wenn wir die kleinen, alltäglichen, vermeintlich unscheinbaren patriarchalen Bedrohungen zulassen? Für männliche Überschreitungen Ausreden finden? Andere Frauen in Rechtfertigungszwang versetzen, wenn sie sich über männliche Übergriffigkeit beschweren?

 

Wir sind 51% der Bevölkerung. Wenn wir uns weiterhin aufsplitten, zerstreuen sich auch unsere Motive. Wenn wir an jeder Hürde Kompromisse eingehen, um dem Aggressor noch eine Chance zu geben, öffnen wir Tür und Tor für weitere Unterdrückung.

Die US-amerikanische Feministin Sonia Johnson beklagte bereits in den 70er Jahren ganz zurecht die stetige Gewöhnung an unmenschliche, frauenverachtende Begebenheiten, die schon bald als anscheinend unveränderbar gelten. Blinde Flecken bei betroffenen Schwestern. Doch dieser Mechanismus ist auch unter jene zu beobachten, die für das Aufbrechen der ungerechten Strukturen kämpfen. Auch inmitten der Schlacht, manchmal gerade dann, entwickelt frau blinde Flecken. Geht nach vorne, während Verbündete fallen und ihre eigener Rücken zunehmend ungedeckt bleibt. Auf diese Weise sind wir einzeln wie gemeinsam verwundbar. „Wir überleben von Tag zu Tag indem wir uns runter regulieren und runter regulieren. Schritt um Schritt, unmerklich, passen wir uns an zunehmend tödliche Verhältnisse an und akzeptieren diese schließlich als ‘natürlich’ oder ‘unvermeidbar”.

Meistgelesen im April

Der Freier

09.09.2016

Kritische Perspektive