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Der Freier

09.09.2016

19.06.18

“Übernimm’ Verantwortung für deine eigene Sicherheit”, rät die australische Polizei nach dem Mord an Eurydice Dixon

Zum Mord an der australischen Studentin, Komödiantin und Feministin Eurydice Dixon

Hauptkommissar David Clayton rät Frauen – noch vom Tatort des Femizids aus -, mehr auf die eigene Sicherheit zu achten, Verantwortung zu übernehmen und ein Mobiltelefon bei sich zu tragen.

Als ob all das Eurydice Dixon gerettet hätte.

Eurydice Dixon war 22 Jahre alt, eine engagierte Feministin, angehende Komödiantin und Studentin der Erziehungswissenschaften. In der Nacht, in der sie von dem 19-jährigen Jaymes Todd ermordet wurde, war sie nahezu in Sichtweite ihres Hauses. Freunde wussten, wo sie war. Sie trug ihr Handy bei sich und schrieb mit ihrem Partner. Doch alle Vorsicht und Verantwortung kann gegen gezielte, mörderische, männliche Gewalt nicht bestehen.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Polizei in Victoria im Nachgang an mörderische Femizide Frauen dazu ermahnt besser auf sich selbst aufzupassen. Zum Beispiel Detektiv Mick Huges in Bezug auf den Mord an der 17-jährigen Schülerin Masa Vukotic, die vom 31-jährigen Sean Price mit 49 Messerstichen erstochen wurde: insbesondere Frauen sollten „sich Nachts nicht allein in Stadtparks aufhalten“.

Dieser paternalistischen Ratschlag hat Geschichte. Er ist bequem, er ist schnell gegeben.

Man könnte meinen, wenn doch auch Eurydice Dixon sich diesen nur zu Herzen genommen hätte, könnte sie heute noch ihrem Studium, ihrem Hobby als Stand-Up-Komödiantin und ihrem Aktivismus als Feministin nachgehen.

Oder… auch dann nicht?

Lauf nachts nicht durch den Park.

Geht Abends nicht alleine aus dem Haus.

Zieh dich unauffällig an.

Verhalte dich unauffällig.

Sprich dich nicht gegen Stärkere aus, mach keine Welle.

Sei still und schau auf den Boden.

Bedeck Körper und Haare.

Bleib im Kreis deiner Verwandtschaft.

Lass doch einfach die wichtigen Entscheidungen von deinen Eltern treffen.

Musst du überhaupt studieren?

Bleib zuhause und kümmere dich um den Haushalt, deinen Mann, deine Kinder.

Dann bist du sicher.

 

Oder… auch dann nicht?

Beschwer dich nicht über die Gewalt, die in deinem Zuhause geschieht.

Sei freundlicher, ruhiger, hübscher.

Gib doch eine Chance, halte die andere Wange hin.

Schenk Verständnis und du wirst Verständnis erhalten. Denk halt positiv!

Musst du denn immer deine Meinung so provokativ aussprechen?

Mach es deinem Mann und deinen Kindern nicht so schwer.

Du willst doch, dass es ihnen gut geht.

Er meint es nicht so.

Eigentlich ist er so ein guter Mann…

Du hättest eben früher etwas sagen sollen.

Das hätte keiner von ihm gedacht.

Wo soll der Ratschlag nachts den Park zu meiden hinführen, den auch bei uns in Deutschland weder Polizei noch Politiker scheuen? Wo, außer in andere bestehende Gewaltstrukturen?

Wem soll er nützen? Einer individuellen Frau an einem spezifischen Abend? Wie ist allen Frauen, die als Klasse beständig Gefahr und Gewalt ausgesetzt sind, damit geholfen? Was wir einer Frau sagen, sagen wir ihnen allen. So bliebe nicht eine, sondern alle von einem selbstbestimmten Leben abgeschnitten. So würde die Gewalt verschoben – in private, unsichtbare, bequem zu ignorierende Räume.

Seit Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten machen Frauen ihre Realität sichtbar und verlangen, dass die Verantwortung nicht bei den Opfern, sondern bei den Tätern gesucht wird. Eurydice und Masa haben nichts falsch gemacht. Die Verantwortung für ihre brutalen Ermordungen liegt bei den Männern, die sie zum Ziel ihrer Aggressionen auserkoren haben. Das gilt für alle 30 Frauen, die allein in dieser ersten Jahreshälfte in Australien das Opfer männlichen Mordes wurden.

Geht es um Amokläufe in Amerika, fällt es nicht schwer, die Lüge zu durchschauen, als ob mit mehr Vorsicht und mehr Waffen angeblich größere Sicherheit erreicht werden könnte. Wir wissen: die Verantwortung liegt nicht bei den Opfern, sondern den – überwiegend männlichen – Tätern und dass ein Teil der Lösung in einer Restriktion ihres Zugangs zu Waffen liegt.

Wenn es aber um einzelne Frauen geht, begehen wir als Gesellschaft weiterhin den kurzsichtigen Gedankenfehler auf der Mikro-Ebene zu argumentieren und nicht diejenigen zur größeren Verantwortung zu ermahnen, die die öffentliche, weibliche Sicherheit gefährden: Männer. Die brillante Autorin Margaret Atwood schrieb einst dazu: “Männer fürchten von Frauen ausgelacht zu werden. Frauen fürchten, dass Männer sie töten werden.”

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