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Der Freier

09.09.2016

13.04.18

Gewaltfrei den israelischen Grenzzaun überwinden – und dann?

Zum palästinensischen „Marsch der Rückkehr“

Die modernen demokratischen Staaten mögen bis unter die Zähne bewaffnet sein; mit gewaltfreien Massenaktionen konfrontiert, sind sie über kurz oder lang machtlos. Sie können dutzende oder hunderte festnehmen oder erschießen – mit jedem Toten, von dem keine Gefahr ausging, kippt die öffentliche Meinung, mehren sich die Stimmen der Verweigerung im Apparat selbst und zerfallen die Machtbündnisse, die diese Staaten lenken.

Das hat auch die Hamas erkannt. In ihrem Krieg gegen den israelischen Staat ist ihr mit dem „Marsch der Rückkehr“ der erste Sieg in 10 Jahren gelungen. Obgleich es vereinzelt zu Stein- und Brandsatzwürfen kam, blieb der Protest der 30.000 PalästinenserInnen gegen den Grenzzaun überwiegend friedlich. Um ein Überwinden des Grenzzauns zu verhindern, schoss das israelische Militär mit scharfer Munition – 30 PalästinenserInnen wurden an den beiden aufeinanderfolgenden Freitagen getötet, mehrere hundert verletzt. Waren bei den drei Gazakriegen hunderte Raketen auf Israel abgeschossen worden und die Schuld für alle Toten somit ebenso bei der Hamas zu suchen, so muss das israelische Militär nun allein sich rechtfertigen für die Menschen, die erschossen wurden, weil sie einen Stacheldrahtzaun überwinden wollten. Ob die Aussagen der israelischen Militär- und Regierungschefs, dass es sich bei der Mehrzahl der Erschossenen um „bekannte Terroristen“ gehandelt habe; dass der erschossene, mit Presseweste gekennzeichnete Journalist angeblich eine Drohne geflogen hätte, das Video eines durch Schuss in den Rücken getöteten Palästinensers falsch zusammengeschnitten sei und der erschossene Bauer sich „verdächtig verhalten“ hatte – ob diese Aussagen stimmen oder nicht, spielt am Ende eine untergeordnete Rolle.

Die wichtigere Frage ist, was die Hamas mit der neuen gewaltfreien Taktik bezwecken will. In der New York Times wurden schon Vergleiche mit der Gewaltfreiheit von Martin Luther King und der amerikanischen schwarzen Bürgerrechtsbewegung gezogen, und die Hamas kommt am Ende nur dem nach, was viele internationale Linke dem palästinensischen Protest seit Jahrzehnten empfehlen:

„Yousef Monayyer, Vorsitzender der U.S. Campaign for Palestinian Rights, verglich die Versuche, den israelischen Zaun zu überqueren, mit dem Bürgerrechtsmarsch über die Edmund Pettus-Brücke in Selma, Alabama, vor fünfzig Jahren. […]

„Tatsächlich denke ich, dass dies die Achillesferse Israels ist“, fügte er hinzu, „und es ist im Moment sehr wichtig, dass die internationale Gemeinschaft die DemonstrantInnen unterstützt. Sie hatte ihnen immer gesagt: „Sagt euch los von der Militanz, sagt euch los von der Gewalt“. Wenn die internationale Gemeinschaft jetzt die gewalttätige Unterdrückung der Proteste ohne wirkliche Verurteilung oder Intervention erlaubt, sendet sie die Nachricht, dass die Welt überhaupt keinen palästinensischen Widerstand will – weder gewalttätig, noch gewaltfrei, noch irgendetwas dazwischen.“

Gewaltfreiheit ist eure einzige Chance. Doch der Vergleich mit Martin Luther King hinkt in jeder Hinsicht. Entsprang die Gewaltfreiheit bei der schwarzen Bürgerrechtsbewegung dem Wunsch nach Versöhnung und der Hoffnung, keine neue Gewalt folgen zu lassen, so ist sie im Falle der Hamas eine Maske, die man sich aufgesetzt hat, um die eigenen Ziele zu lancieren. Und diese sind alles andere als friedlich und auf Versöhnung ausgerichtet. Die “Times of Israel” zitiert den Hamasführer Haniyeh:

„Die Proteste entlang der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel werden fortgeführt bis sie ihr Ziel erreichen und die PalästinenserInnen in alle Teile Palästinas zurückkehren können, sagte Hamasführer Ismail Haniyeh am Montag.

Die Hamas, sagte er, wird Israel nicht anerkennen und keinerlei Zugeständnisse machen. […] „Palästina und Jerusalem gehören uns“, erklärte Haniyeh, während er die PalästinenserInnen zugleich aufrief, die „Friedfertigkeit“ der Proteste zu bewahren. „Wir werden die Mauern der Blockade durchbrechen, die Besatzungsmacht beseitigen und in alle Teile Palästinas zurückkehren.“

Dieses „Recht auf Rückkehr“ aller PalästinenserInnen nach Israel ist aber keineswegs friedlich, sondern setzt die Vertreibung der Jüdinnen und Juden aus Israel voraus. Denn was wäre zu erwarten, wenn es der Hamas gelänge, durch die in den kommenden Wochen weiter geplanten Massenaktionen den Grenzzaun auf großen Abschnitten zu durchbrechen? Die hinter diesem Ziel stehende Organisation ist dieselbe, die Raketen auf jüdische Wohnviertel abschießt und Jugendliche, die mit Küchenmessern x-beliebige Jüdinnen und Juden auf der Straße ermorden, zu Märtyrern glorifiziert, ihren Familien Rentenzahlungen leistet und sie Schulkindern als Vorbild darbietet.

Hier liegt der Unterschied ums Ganze, der jeden Vergleich mit Martin Luther King verbietet: es gibt seitens derer, die den Grenzzaun überwinden, keine Vision eines friedlichen Zusammenlebens zwischen Jüdinnen/Juden und PalästinenserInnen. Es lohnt sich, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass die Hamas eine der wichtigsten Barrieren für eine solche Aussöhnung darstellt – seit sie 2007 gewaltsam die Macht im Gazastreifen errungen haben, werden palästinensische KritikerInnen erschossen und Demonstrationen gegen die Hamas unterdrückt. Den Gaza-Krieg von 2014 nutzte die Hamas, um eine große Zahl von PalästinenserInnen – alles KritikerInnen oder GegnerInnen der Hamas – zu verschleppen, zu foltern oder zu ermorden. Hauptvorwurf: „Kollaboration“ mit Israel.

Zur gleichen Zeit der Mauerproteste wurden vom israelischen Militär hinter der Grenze drei Palästinenser aufgegriffen, die mit Messern und Granaten bewaffnet, durch einen Tunnel nach Israel eingedrungen waren. Bei aller notwendigen Skepsis gegen Militär- und Polizeibosse – wenn der ehemalige Chef des israelischen Sicherheitsrats, ein Herr Giora Eiland, mit den Worten zitiert wird

„Wir wollen nicht in einer Situation stecken, in der wir mit hunderttausenden nach Israel eingedrungen Menschen umgehen müssen. Das ist eine Situation, die wir nicht mehr kontrollieren können. Daher ist es richtig, abzusichern, dass dem Zaun nichts passiert“,

so drückt er damit eine Wahrheit aus. Was die Hamas anbietet, ist ein trojanisches Pferd und eine Publicity-Aktion. Dazu passt auch, dass die Hamas scheinbar bewusst Kinder vorschickt – so wurde ein siebenjähriges Mädchen von israelischen Soldaten am Grenzzaun aufgegriffen. Der „Marsch für die Rückkehr“ enthält keinerlei Perspektive für Israel und Palästina, sondern ist der Versuch, unter der Maske der Gewaltfreiheit die einseitigen gewalttätigen Ziele der Judenvertreibung und schlussendlich -ermordung durchzusetzen.

Weltweit stößt der „Marsch für die Rückkehr“ auf die Sympathie von SozialistInnen, Linken und AnarchistInnen. Aber er ist nicht sozialistisch, links oder anarchistisch. Sozialismus bedeutet Frieden und die gemeinsame demokratische Verwaltung von Land und Ressourcen. Der „Marsch für die Rückkehr“ soll dies gerade verhindern.

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