Nachrichten und Kritik
21.05.17
Es gibt ein relativ junges Phänomen in der ideologischen und historistischen Beschreibung unserer Gesellschaft und deren identitärer Rechtfertigung. Dies soll hier beleuchtet werden.
Von Gerold Wallner.
In der letzten Zeit konnte beobachtet werden, dass immer wieder von den christlich-jüdischen Wurzeln unserer Kultur, der Kultur des Westens, des Abendlands, kurz der kapitalistischen Metropolen gesprochen wird. Interessant daran ist vor allem, dass dies erst ein jüngeres Phänomen ist. Hat vor vierzig oder auch dreißig Jahren jemand schon davon gesprochen? Ich kann mich nicht erinnern.
Jetzt aber gehört das zum Standardrepertoire der politischen Diskurse und es ist interessant, warum und wie und von wem es verwendet wird. Christlich ist wohl klar. Ein Blick in unsere Städte und Dörfer genügt, Kirchen und Kirchtürme prägen das Bild, architektonisch wie historisch. Diese Bauwerke stehen in den Zentren der Niederlassungen und Ansiedlungen und erzählen vom Christlichen, auch dort noch, wo die Aufklärung über die Praktikabilität der Religion hinweggegangen ist, wo die Entwicklung der Einzelwissenschaften die biblischen Erzählungen, Schöpfungsmythen und Zeitrechnungen für obsolet erklärt haben. Dennoch würde die Formel vom Christlich-Jüdischen nicht um das Aufklärerische oder Wissenschaftliche ergänzt werden, wenn auch manchmal bei der Beschreibung unserer Gesellschaft zu ihren Wurzeln auch noch die griechische Philosophie gezählt wird.
Das Christliche zeigt sich jedenfalls in seiner gewaltigen und gewalttätigen historischen Dimension, wenn wir die Verbindung des Christlichen mit der europäischen Geschichte von der Antike bis zum Beginn der bürgerlichen Gesellschaft und auch darüber hinaus Revue passieren lassen. Hier ist wirklich etwas, das getrost zu den Wurzeln unserer Gesellschaft gerechnet werden kann.
Wie aber steht es mit dem Jüdischen? Welche Wurzeln sind es, die uns überall begegnen? Synagogen sind ja wohl kaum historisch und architektonisch prägend für unsere Siedlungen und wo sie es waren, wurde mit ihnen bekanntlich aufgeräumt. Oder bezieht sich das Jüdische in der Beschwörung unserer abendländischen Wurzeln auf etwas anderes? Auf Nichtreligiöses? Vielleicht auf die Gedanken von Moses Maimonides oder Moses Mendelssohn oder – horribile dictu – Karl Marx? Wir haben weiter oben schon gesehen, dass Aufklärung nicht unbedingt mit dem Jüdisch-Christlichen vereint werden kann. Der Bezug auf Aufklärung ist dennoch für das Selbstbild und vor allem für die offensive Selbstdarstellung und Legitimation des Westens wichtig, aber an einem anderen Ort.
Das Jüdisch-Christliche kommt zu uns zunächst nur über das Religiöse vermittelt. Das fängt damit an, dass die Christen als jüdische Sekte beginnen – messianisch, millenaristisch (obwohl dies ein Begriff aus dem späteren Christentum ist, der Inhalt ist derselbe: das Kommen des Reichs des Herrn) – und mit den Orthodoxen eine (von beiden Seiten) recht üble Auseinandersetzung führen, in der die neue Religion schließlich ihre alten Wurzeln abstreift, den Ahnen die Heilige Schrift stiehlt und sie um neue Schriften ergänzt und ab dem 4. Jahrhundert aus einer Position der Staatsmacht heraus ihre Vorgänger unterdrückt. Vermittelt über den Gedanken des Reichs und des Kaisertums (nachdem das Kommen des Reichs des Herrn aufgegeben oder verschoben wurde) wurde das Christentum zur zentralen Religion Europas, und über Kolonialismus und Imperialismus auch zur Religion der Herrschenden.
Damit war aber das Jüdische aus den Wurzeln unserer Gesellschaft als wirkendes religiöses Moment verschwunden und blieb nur noch als das bösartige Ressentiment über, das das siegreiche Christentum gegenüber der Vorgänger- und Konkurrenzreligion entwickelt hatte. Dieses Ressentiment reicherte sich mit der Verachtung gegenüber Minderheiten, mit deren Nutzbarmachung, Ausbeutung und Vertreibung – je nach Opportunität – an und leitete in einen Antisemitismus über, dessen religiöse Wurzeln nicht mehr so wichtig waren. Diskutiert wurde das Jüdische eher an Fragen der Toleranz oder des Rassismus; beide Diskussionsstränge sind aber mit der Entwicklung der bürgerlichen, also unserer modernen Gesellschaft mit ihrer kapitalistischen Produktionsweise verbunden. Sie tragen deutlich die ideologischen Züge, die die Aufklärung entwickelt hat ebenso wie der Imperialismus – sowohl Menschenrechte wie auch deren Infragestellung beziehungsweise deren Instrumentalisierung zur Eroberung und Unterwerfung sind universalistisch, genauso wie der Nationalstaat und die damit verbundenen Vorstellungen von staatsbürgerlichen Rechten und Sicherheiten und der Ausschluss davon.
Wenn das Jüdische in unserer Moderne aber nur noch als Frage von Inklusion oder Exklusion, als Diskussion des Antisemitismus also, übrigbleibt, soll das heißen, dass die jüdisch-christlichen Wurzeln des Abendlands das Gottesgnadentum der Herrscher und den Antisemitismus meinen? So kann diese Formel wohl nicht gemeint sein.
Es war nicht zuletzt die katholische Kirche, die mit der Erklärung Nostra Aetate (1965) vom Zweiten Vatikanischen Konzil, wohl auch unter dem Eindruck des Massenmordes an der jüdischen Bevölkerung Europas durch das NS-Regime, die jüdischen Wurzeln des Christentums wieder hervorhob, ohne dabei die verletzenden Vorwürfe der Prophetenmorde und der Verantwortung für den Tod Jesu zu wiederholen. Die Gründung des Staats Israel (1948) wiederum war ein säkularer Übergang des ursprünglich nur religiös definierten Jüdischen in die nationalstaatliche Normalität bürgerlicher Gesellschaft und Geselligkeit und jetzt kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass die Juden nun zu uns gehören; auch wenn am Anfang dieses Staats und dieses Nationalismus die Erfahrung eines Antisemitismus stand, der immer radikaler wurde und sich von religiöser Verfolgung zu sozialer und rassischer Verfolgung gewandelt hatte.
Diese beiden inklusiven Phänomene führten letzten Endes dazu, dass – und das ist das Zynische an der ganzen Angelegenheit angesichts des Antisemitismus und seiner mörderischen Konsequenz – nun die Juden nach ihrer Ausrottung in Europa quasi in bürgerliche Normalität eingemeindet werden. Diese Eingemeindung wird aber seit etwa zwei, drei Jahrzehnten mit einer neuerlichen Dimension vorgetragen, die den Ausschluss anderer so genannter Wurzeln des so genannten Abendlands zum Inhalt hat. Das offensive Behaupten der jüdisch-christlichen Wurzeln geht Hand in Hand mit der Frage des Islam. Aufgetaucht ist diese exkludierende Formel zunächst an der Frage der EU-Mitgliedschaft der Türkei, später am so genannten Arabischen Frühling, den Involvierungen der imperialistischen Mächte und dem Erstarken des Islamischen Staats sowie der Migrationsbewegungen.
Hier wird das allseits bekannte, abgedroschene Argument wiedergekäut, dass der Islam mit unseren kulturellen Werten nicht vereinbar sei. Diese Religion sei kein Teil Europas, der Islam hätte sich nie mit Strömungen wie der Aufklärung auseinandergesetzt, die Religion sei aus sich heraus gewaltsam, und was es mehr an wohlfeilen Geschichtsklitterungen gibt. Es ist hier nicht der Platz, auf diese historischen Argumentationen einzugehen, darzustellen etwa, dass jede Religion in ihrem Inneren gewalttätig ist (zum angeblich Friedlichen des Buddhismus sei das Buch von Brian Daizen Victoria empfohlen: Zen, Nationalismus und Krieg. Eine unheimliche Allianz. Berlin, Theseus, 1999) oder die Geschichte des europäischen Islam in Spanien und im osmanischen Reich zu wiederholen.
Es soll an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden, dass die jüdisch-christlichen Wurzeln ebenso wenig historische Bezugnahme und Realität sind, wie diese ideologische Figur ja auch der historischen Realität des europäischen Islam nicht gerecht werden will. Dabei denke ich noch gar nicht an die sattsam bekannte und oft zitierte architektonische, philosophische und wissenschaftliche, kurz gesellschaftliche Überlegenheit des islamischen Spanien und die ebenso sattsam zitierte religiöse Toleranz des osmanischen Reichs für seine christlichen und jüdischen Untertanen. Ich will auch hier nicht untersuchen, wie weit diese Behauptungen nicht wiederum ähnlich ideologisch eingefärbt sind, aber sie kommen der Wahrheit näher als die christlich-jüdischen Wurzeln, die jetzt so gern im Mund geführt werden, wobei das Jüdische an diesen Wurzeln, ich kann es nur wiederholen, die Bedrohung und Unterdrückung der Minderheit ist.
Zum europäischen Islam nur abschließend eine kleine Anekdote: Im Zeitalter des beginnenden Imperialismus um die Jahrhundertwende wurde der Fes, ursprünglich eine egalitäre Kopfbedeckung in der osmanischen Verwaltung, vom modernisierenden Sultan Mahmud II (1808 – 1839) als Zeichen seiner Reformen eingeführt und von Muslimen und Nichtmuslimen getragen, zum exotischen, orientalischen Symbol in den Augen der Europäer. So machten sie den Fes zum Teil der Uniformen ihrer Kolonialtruppen, die aus Eingeborenenkorps bestanden. In Österreich-Ungarn trugen auch die bosnischen Truppenteile der Habsburgerarmeen den Fes, allerdings nicht rot, sondern grau in der Farbe der Felduniformen. Die größte Fesfabrik befand sich damals im böhmischen Strakonice.