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09.09.2016

06.01.17  | Theorie

Feministische Therapie: Wie ist es möglich über ein Trauma zu sprechen (oder zu schweigen) und wie kann außerhalb von männlicher Zustimmung (Selbst)Bestätigung erlangt werden?

Feministische Psychotherapie Frage & Antwort

Vorbemerkung der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich, in Englisch, am 26. Februar 2016 auf Feminist Current. Wir danken für die Erlaubnis zur Übersetzung und Publikation. Für die Vorstellung der Autorin und eine kurze Einleitung unsererseits siehe ersten Teil der Serie.

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Ich bin Psychotherapeutin, aber ich bin nicht deine persönliche Psychotherapeutin. In der Therapie geht es m.E. nicht allein um die Informationen, die ich gebe, sondern um die individuelle Beziehung, die sich mit jeder Klientin entwickelt, und in der ich ihre besonderen Bedürfnisse, Stärken und Schwierigkeiten kennen lerne. Diese Kolumne ist nicht dafür gedacht, eine individuelle Therapie zu ersetzen; wenn du unsicher bist, sprich bitte mit einer Therapeutin/einem Therapeut über diese Fragen – vorzugsweise einer, die du kennst, bei der du dich sicher fühlst, und die in der Lage ist, dich so zu unterstützen, wie du es zu dir passt.

Alle Fragen, die ich erhielt, waren komplex und aufrichtig. Vielen Dank für die Einsendungen. Die Fragen wurden gekürzt und anonymisiert.

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Liebe feministische Therapeutin,

nachdem ich sexuell missbraucht worden bin, sprachen Bekannte von mir in sozialen Netzwerken, auf Parties und auf Konzerten darüber. Die Leute machten Witze über den Übergriff, wenn ich ihn auf meinem privaten Blog thematisierte. Anschließend erzählte eine „Freundin“ von mir irgendwelchen Leuten die Geschichte, ohne mein Einverständnis oder Rücksichtnahme darauf, in welcher Weise es mir Schaden zufügen könnte. Ich bekam sogar einen Anruf von dem Anwalt meines Vergewaltigers. Er bedrohte mich und drängte mich, meine Geschichte zu widerrufen. Seitdem bin ich nicht mehr in der Lage auf Parties oder Konzerte zu gehen. Wenn ich ausgehe, fragen mich die Leute „Wo warst du?“, „Du bist gar nicht auf Facebook!“ Ich brauche ein paar Ratschläge, wie ich nach dieser Erfahrung in öffentliche Räume gehen und dabei mit meinen Ängsten umgehen kann.

C

Liebe C,

vielen lieben Dank für dein Hilfegesuch. Es klingt so, als ob deine Suche nach Hilfe in der Vergangenheit, dich bloß noch mehr verletzt hat, anstatt dir zu helfen das Erlebte zu verarbeiten und dich nicht allein zu fühlen.

Ich habe festgestellt, dass die breite Masse der Leute keine Ahnung von einem Trauma hat, weder wie es funktioniert, noch wie es dein Leben verändert oder davon, wie sie selbst Teil des Traumas sind, indem sie derart unangemessen darauf reagieren. Bei der Beschäftigung mit einem Trauma, mit dem Ziel sich davon zu erholen, handelt sich um einen sehr empfindlichen Balanceakt. Denn manchmal haben Dinge eine größere Macht über uns, wenn wir sie geheim halten, ein anderes mal verletzt es uns mehr, wenn wir sie teilen, besonders dann, wenn wir eine ignorante und/oder respektlose Reaktion als Antwort erhalten. Aus diesem Grund spreche ich bei der Arbeit mit traumatisierten Personen jedesmal gezielt darüber, wie mit anderen Leuten umzugehen ist, wenn es um das Trauma geht. Wir treffen dann Entscheidungen darüber, wer was wissen muss, damit die Person einerseits gesund bleibt, andererseits sich mit ihrer Erfahrung nicht allein gelassen fühlt, welcher Weg der beste ist und wer besser nichts wissen sollte. Wir reden auch darüber, wie man Leuten auf eine respektvolle Weise aber gleichzeitig möglichst uneindeutig auf ihre Fragen antworten kann, dass nicht zu viel verraten wird, um die Klientin davor zu schützen, die Wahrheit in einer Art und Weise mit anderen zu teilen, die sie am Ende verletzbar zurück lässt.

Über das Trauma zu sprechen ist eine der gesündesten Sache, die du tun kannst, nur sollte es eben mit den richtigen Leuten sein: Idealerweise schließt das jemanden ein der geübt darin ist, dir zu helfen und dir zuzuhören. Ich freue mich darüber, dass du wieder raus gehst und Dinge machst, die du magst. Wenn dich Leute aber danach fragen, wo du so lange gewesen bist, dann ist es erlaubt Dinge zu sagen, wie „Ich musste ein paar Sachen erledigen“, oder „Ich brauchte einfach mal eine Auszeit“. In diesen Momenten, mit diesen Leuten, schuldest du niemandem von ihnen eine Erklärung oder eine Entschuldigung.

Was die „Freundin“ angeht, die deine Geschichte herum erzählt hat: Wenn du mit ihr die Beziehung noch aufrechterhalten möchtest, könntest du darüber nachdenken, dich mit ihr hinzusetzen, und ihr zu erzählen, wie du dich gefühlt hast, als deine Geschichte für dich erzählt wurde. Das wäre wahrscheinlich nur produktiv, wenn es das Ziel ist, der Person zu helfen, die Folgen ihres Handelns zu verstehen, nicht sie zu beschämen. Wenn Leute sich schämen, neigen sie dazu defensiv zu werden und wenn du glaubst, dass das der richtige Weg ist, könntest du in der Lage sein, die Person so zu erziehen, dass sie dasselbe anderen Menschen in der Zukunft nicht mehr antun wird. Es gibt keine Garantie dafür, dass diese Person dir zuhören wird oder dir nicht noch mehr weh tun wird. Deshalb ist es auch völlig in Ordnung, gar nichts zu sagen, wenn du das Gefühl hast, sie könnte zurückschießen oder dass du dich noch in einem Zustand befindest, in dem du dich davor schützen solltest.

Ich denke, dass es eine gute Idee ist, weiterhin Dinge zu tun, die dir Freude bereiten, selbst wenn das dann wiederum bedeutet, für eine Weile neue und andere Dinge auszuprobieren, damit du dir nicht ständig darüber Gedanken machen musst, wem du dabei so begegnest. Ich empfehle den Leuten manchmal, eine Freundin, die weiß, was du gerade durchmachst, zu solchen Unternehmungen mitzunehmen – eine Person, die einschreiten und intervenieren kann, wenn sie merkt, dass es dir nicht gut geht – und die danach mit dir darüber spricht.

Bestimmte Dinge zu vermeiden – ganz besonders direkt nach einem Trauma – kann eine normale und gesunde Art und Weise sein, sich davor zu schützen, dieses enorme Ausmaß an Angst zu spüren. Allerdings kann ein solches vermeidendes Verhalten mit der Zeit dazu führen, dass wir stecken bleiben, dass das Trauma unser Leben bestimmt, indem es uns daran erinnert, wie viel es uns genommen hat. Deshalb kann es ein Teil der Genesung sein, die Dinge zu tun, die du gewöhnlich getan hast, so lange sie sicher für dich sind.

Wenn du Dinge tust, die in dir Angst erzeugen, ist es eine gute Idee dir vorher und nachher Räume zu schaffen, in denen du dich um dich selbst kümmern kannst. Du könntest Dinge entdecken, die dich beruhigen und dir nach stressigen Ereignissen die Zeit nehmen, eben jene Dinge zu tun, um Körper und Psyche wieder in einen Zustand der Ruhe und Sicherheit zu bringen. Für manche ist das vielleicht Training, Tagebuch schreiben, eine Freundin anrufen, Yoga oder Dehnung, Lesen, Tee trinken oder die Lieblingssendung anschauen. Die Erholung von einem Trauma steht im Spannungsfeld zwischen der Aufrechterhaltung der Verbindung zu den positiven Dingen des Lebens, die dich daran erinnern, dass du mehr bist, als das was dir angetan wurde und dem Selbstschutz zur Heilung auf der anderen Seite, der die Zeit und Arbeit anerkennt, die es dazu nun einmal braucht. Nur du, vielleicht mit Hilfe von guten Menschen oder einer Therapeutin, kannst entscheiden, wie das genau aussieht. Viel Glück!

2

Liebe feministische Therapeutin,

ich bin eine 26 Jahre alte heterosexuelle Frau, die zwei Männer geküsst und in ihrem Leben bisher (grauenhaften) Sex mit lediglich einem Mann hatte. Obwohl ich schlank bin, fühle ich mich, als wäre ich für Männer unsichtbar. Jetzt, wo ich Feministin bin, begreife ich warum ich mich durch diese Unsichtbarkeit so fürchterlich fühle. Alles was ich will, ist in der Lage zu sein ernsthafte und vernünftige Beziehungen zu Männern zu haben. Diese Sache bringt mich um und ich werde darüber fürchterlich depressiv. Ich frage mich ständig: „Was habe ich für ein Problem? Bin ich hässlich? Stinke ich? Bin ich nicht interessant genug?“ Für mich ist das Folter. Wenn es mal zu einem Flirt kam, war ich schon immer eine schüchterne Person, also habe ich versucht weniger schüchtern zu sein. Aber die Typen zeigen einfach kein Interesse an mir. Wie kann ich diesen Drang unbedingt einen Freund haben zu wollen endlich überwinden?

– 26

Liebe 26,

es klingt als wäre das, was du da gerade durchmachst wirklich verwirrend für dich – wie wenn du versuchst, den verschiedenen Dingen die du fühlst und begehrst, einen einheitlichen Sinn zu verleihen, während du gleichzeitig weißt, dass diese Dinge nicht immer die gesündesten für dich sind. Ich schätze deine Ehrlichkeit sehr und den Wunsch nach Empowerment für dich – unabhängig davon, ob dich Männer nun begehren oder nicht.

Ich denke, die Erfahrungen, die du gerade machst, sind wirklich menschlich. Ich glaube, dass wir Menschen alle gern die Sicherheit haben wollen, dass wir „genug sind, so wie wir sind“, dass wir mit den anderen verbunden sind und dass wir für die Menschen um uns herum von Bedeutung sind. Das ist für uns besonders schwierig, da wir Frauen in unserer patriarchalen Gesellschaft darauf getrimmt wurden, zu denken, dass der einzige Weg an Dinge zu kommen, die wir brauchen, der über Aussehen und Sexualität ist. Dieser Kreislauf wird durch das Verhalten anderer verstärkt, wenn sie uns für unsere Fähigkeiten loben, dass wir uns einer Reihe eng definierter Erwartungen unterordnen können, was uns letzten Endes nur noch stärker in dem Teufelskreis festhält, der uns objektiviert und unterdrückt.

Es ist für uns alle sehr wichtig, dass wir uns an einem bestimmten Punkt fragen, ob wir wissen, wie wir in uns dieses „genug-sein“-Gefühl erzeugen. Das bedeutet aber, dass wir lernen müssen zu wissen und zu glauben, dass wir wertvoll und von Bedeutung sind, ohne dass es Männern bedarf, die uns bestätigen, dass es wirklich so ist.

Es ist wunderbar, dass du neue Dinge ausprobierst und soziale Risiken eingehst; und es ist nichts verkehrt an sexuellen Begierden. Ich denke aber, dass hier noch ein bisschen mehr dahinter steckt. Wenn Männer auf dich nicht so reagieren, wie wir es durch unsere Sozialisation bedingt erwarten, dann heißt das nicht, dass da notwendigerweise etwas nicht mit dir stimmt. Wenn du es doch tust, könnte das auch bedeuten, dass es da einige bedeutende Probleme in dir gibt, denen du auf den Grund gehen solltest.

Wenn du meine Patientin wärst, würde ich dich vielleicht folgendes fragen wollen: Welches Gefühl würdest du dir wünschen, wenn jemand auf dich aufmerksam wird oder Interesse an dir zeigt? Was würde eine solche Art wahrgenommen zu werden dir über dich selbst sagen? Was würde passieren, wenn du die Dinge, die du dir von den Männern wünschst, selbst zu dir sagen würdest? Auf welche Art und Weise warst du in der Vergangenheit auf Männer oder andere angewiesen, um dich selbst zu bestätigen oder zu versichern? Wie sind ein solches Welt- und Selbstbild durch hegemoniale Männlichkeit und patriarchale Konstrukte von Weiblichkeit geformt worden? Zu welcher Zeit in deinem Leben hattest du schonmal Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl, ohne dass das von anderen abhängig war – insbesondere von Männern –, die dir das Gefühl erst vermittelten. Was hast du damals vielleicht von dir gewusst, was du heute vielleicht vergessen haben könntest? Was hast du damals vielleicht getan, was du jetzt nicht mehr tust?

Wenn ich mit Patientinnen an dieser Art von Problemen arbeite, bitte ich sie oftmals eine Liste mit jenen Dingen anzufertigen, die sie gern von anderen Personen über sich selbst kommuniziert bekämen, wenn deren Interesse gerade auf sie fällt. Das beinhaltet oftmals Variationen des Folgenden: „Du bist interessant. Du bist mir aufgefallen und ich habe dich erwählt. Du wirst geliebt und bist liebenswert. Du bist liebenswürdig genug, dass jemand Zeit mir dir verbringen wollen würde. Du bist schön. Du bist etwas Besonderes, etwas Anderes. Du bist es wert wahrgenommen zu werden.“ Danach nehmen wir die Liste, die sie gerade zusammengestellt haben und ich bitte sie, diese Dinge zu sich selbst zu sagen – laut.

Es ist erstaunlich, wie häufig die Leute starke Reaktionen darauf hervorbringen, entweder weil sie Widerstand spüren oder sich unwohl fühlen, oder weil sie unfassbar traurig darüber werden, dass es nicht annähernd die Bedeutung hat, wenn es von ihnen selbst kommt, als wenn es von jemand anders kommen würde. Wir können aber Bedeutungen ändern und neu kalibrieren von wo wir Bestätigung und Wertschätzung bekommen. Ich empfehle, dass du dir ein bisschen Zeit nimmst und dies Fragen zu beantworten und neugierig darauf zu sein, was dir deine Reaktionen über dich selbst sagen. Du könntest z.B. herausfinden, dass du von anderen – insbesondere von Männern – erwartet hast, was gar nicht in deren Macht liegt, nämlich zu bestätigen, dass du etwas Wert bist. Das ist vielmehr etwas, was du lernen musst – und verdienst – um deinetwillen. Ich habe herausgefunden, obwohl das Bedürfnis nach Beziehungen, wie ich es beschrieben habe zwar wichtig – wenn nicht essentiell – ist, so kann es doch nicht das „Ich bin genug, so wie ich bin“-Bedürfnis ersetzen.

Ich hoffe du lernst, dir selbst Interesse entgegenzubringen, unabhängig davon, ob jemand anderes an dir ein Interesse zeigt. Ich hoffe du nimmst dir Zeit, deinen eignen Wert zu entdecken und dich vom patriarchalen Trugschluss zu befreien, die Aufmerksamkeit eines Mannes würde dich bestätigen. Ich hoffe, dass du dich anstatt dessen dafür entscheidest, dich selbst zu bejahen.

Ihr könnte eure Fragen, auf Englisch, an Hillary, unsere feministische Therapeutin schicken. Per Email an info@feministcurrent.com oder hillarylmcbride@gmail.com, Betreff: „Feminist Therapy“, oder per Twitter an @hillarylmcbride, Hashtag #feministtherapy. Alle Zuschriften werden anonymisiert, sofern ihr nicht speziell darauf hinweist, dass euer Namen genannt werden soll.

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