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09.09.2016

19.08.16  | Theorie

Neue Reihe: Feministische Psychotherapie

Neue Reihe -- feministische Psychotherapie Frage und Antwort

Vorbemerkung der Redaktion:

Gesellschaft, das sind nicht nur objektive Strukturen, sondern auch die Individuen, die diese Gesellschaft täglich reproduzieren. Wie die gesamte kapitalistische Gesellschaft, so sind die auch die Erfahrungen und das Handeln der Individuen geschlechtlich bestimmt, auch im 21. Jahrhundert. Gewalt, Amok und Terror sind die Krisen- und Verfallsformen der modernen Männlichkeit, im globalen Prozess der „Verwilderung des Patriarchats“ (Roswitha Scholz), und sind als solche inzwischen oft beschrieben worden. Die Traumata und die existentielle Verzweiflung, mit denen Frauen angesichts der globalen Gewalt und zugleich der gesteigerten Arbeits-, Körper- und Rollenanforderungen zurecht kommen müssen, finden hingegen praktisch keine gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Das systematische Stumm-Machen und die Individualisierung der Erfahrungen und Leiden von Frauen sind fester Bestandteil des kapitalistischen Krisenprogramms.

Umso erfreulicher ist daher die Kolumne „Feminist therapy“, monatlich publiziert als Frage und Antwort auf feministcurrent.com. „Feminist therapy“ ist unserer Kenntnis nach einmalig, indem dort versucht wird, psychoanalytische Beratung mit kritischer Gesellschaftsreflexion zu verbinden; den Erfahrungen und Problemen von Frauen Ausdruck zu verleihen, und sie zugleich damit nicht allein zu lassen. Wir verstehen das als eine Form von praktischer Kritik, die heute umso bedeutsamer ist, als die Zeit, die den Individuen zur Reflexion ihrer Erfahrungen noch gelassen wird, zunehmend schwindet.

Wir danken Feminist Current und der Autorin, Hillary McBride, dass wir diese Texte übersetzen und hier publizieren können. Wir streben an, auch unsere deutschen Übersetzungen monatlich hier zu publizieren.

Der nachfolgende Text erschien ursprünglich am 29.1.2016 auf Feminist Current.com.


Vorbei die Zeiten, in denen Psychotherapie beschränkt war auf die Grenzen eines muffigen Bürozimmers, in denen jemand – meist in der Position sozialen und ökonomischen Privilegs, also fast immer ein älterer weißer Mann – uns zuhörte, während wir zwei-mal-die-Woche Geschichten über unsere Mütter vortrugen, während er, regungslos und unbemerkt, Notizblöcke füllte.

Die Therapie hat sich sehr gewandelt seit Sigmund Freuds Zeiten, und gleiches gilt für die TherapeutInnen und ihre KlientInnen. Während die Unterdrückung von Frauen ungebrochen fortbesteht, hat sich die Psychologie inzwischen so weit fortentwickelt, dass wir gemeinsam über archaische Theorien wie „Penisneid“ und „Hysterie“ lachen können. Diese Veränderung der Therapie ist in jeder ordentlichen klinischen Ausbildung erkennbar: von TherapeutInnen und PsychologInnen wird erwartet, dass sie ein klares Bewusstsein darüber haben, wie Geschlecht, „Rasse“ und soziale oder wirtschaftliche Verhältnisse in die Erfahrung, Selbstbeschreibung und die mentale Gesundheit der Menschen einfließen.

Obwohl viele TherapeutInnen gern als unbefangen erscheinen möchten, und zwar insbesondere gegenüber ihren KlientInnen – als ein perfekter, schattenloser Spiegel –, ist dies in der Realität nicht der Fall. Es ist überhaupt gar nicht möglich. Wir alle haben eigene Ziele und Motive – und wie bewusst uns diese eigene Voreingenommenheit ist, spielt eine wesentliche Rolle in unserer Fähigkeit, effektiv und ethisch vertretbar als TherapeutInnen agieren zu können.

Daher möchte ich, dass ihr mich – und all meine Befangenheit und Motive – von Anfang an kennt.

Mein Name ist Hillary, und ich werde auf Feminist Current ab Februar 2016 jeden Monat eure Fragen beantworten – als Teil einer Kolumne, die wir „Feminist Therapy“ benannt haben.

Ich bin lizensierte Psychotherapeutin, arbeite in Vancouver und promoviere in Beratender Psychologie [Counselling Psychology] an der University of British Columbia. Ich verfüge über eine allgemeintherapeutische Ausbildung, d.h. ich bin ausgebildet, jede Person und die meisten Probleme zu behandeln, aber habe spezielle Ausbildung und Erfahrung in feministischen Therapien; den Erfahrungen von Frauen; und der Traumatherapie. Ich forsche auch auf diesen Gebieten und versuche, alles, was ich in meiner Forschung lerne, in meine Praxis einfließen zu lassen, und umgekehrt.

Obgleich dies wichtige Punkte in meiner Arbeit als lizensierte psychologische Expertin sind, ist es meist der wichtigste Punkt für Leute zu wissen, dass ich zurzeit und seit vielen Jahren, selbst in Therapie bin. Das bedeutet dass ich weiß wie es ist, sowohl auf als auch hinter der Couch zu sitzen – alles, was ich von meinen KlientInnen verlange, habe ich selbst durchgemacht. Das hilft mir, insbesondere über die Machtdynamiken, die Verletzlichkeit und das Vertrauen bewusst zu sein, die Bestandteil jedes TherapeutIn-KlientIn-Verhältnisses sind.

Eine Therapeutin zu sein, hat für mich nie bedeutet, einen Weg zu finden, ein Helfersyndrom an jemand anderem abzuarbeiten, von dem ich meine, dass er/sie mich braucht, um die eigene Ganzheit zu erlangen. Vielmehr sehe ich es als einen Raum, um gemeinsam voranzukommen – um nicht allein zu sein – mit was auch immer wir uns gerade herumschlagen.

Und ich denke, dass Therapie ein politischer Akt ist. Die meisten von uns wurden in unserem Leben immer wieder zum Schweigen gebracht, von der buchstäblichen Aufforderung, den Mund zu halten, bis dahin, dass uns einfach das Gefühl gegeben wurde, dass unsere Meinung und unsere Anwesenheit keinen Wert haben. Dass wir unsere Stimme finden, Raum beanspruchen, und fordern, dass uns zugehört wird, sind das leidenschaftliche Akte von Verweigerung und Befreiung.

Das ist, was im Verlauf von Therapie geschieht, und das ist, was wir in diese neuen Kolumne in Feminist Current einbringen möchten.

Am letzten Freitag jedes Monats werde ich eine Auswahl von Fragen beantworten, die mir per Email oder Twitter im Verlauf des Monats geschickt wurden. Falls sich besondere Themen in den Fragen herauskristallisieren, werde ich versuche, diese ebenfalls zu adressieren. Ich werde nicht alle Fragen beantworten können, aber ich werde mein bestes tun, eure Erfahrungen und Stimmen zu honorieren.

Dies wird keine 08/15-Ratgeberspalte sein – durch die gestellten Fragen, durch die geteilten Geschichten teilt und die Frage nach Hilfe kann dies zu einem Akt des Widerstands werden.

Ihr könnte eure Fragen an Hillary, unsere feministische Therapeutin, an info@feministcurrent.com oder hillarylmcbride@gmail.com schreiben (Betreff: „Feminist Therapy“), oder ihr auf Twitter an @hillarylmcbride, hashtag #feministtherapy schreiben. Wir anonymisieren alle Zuschriften, sofern ihr nicht speziell darauf hinweist, dass wir euren Namen nennen sollen.

(Anmerkung Kritische Perspektive: Hillary nimmt Fragen natürlich auch von deutschen LeserInnen entgegen, diese müssen allerdings auf Englisch geschrieben werden.)

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