Nachrichten und Kritik
29.07.16 | Theorie
Der Ausgangspunkt der Überlegungen zum Subjekt kann durch eine Paraphrase dargestellt werden: „Das soziale Getriebe der Gesellschaften, in welchen die Ordnung des Modernen Ensembles herrscht, erscheint als ungeheure Ansammlung von subjektiven Akten, das einzelne Subjekt als seine Elementarform.“
Von Gerold Wallner.
Mit dem Modernen Ensemble sind unsere gegenwärtigen herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse gemeint: kapitalistische Produktionsweise, Nationalstaatlichkeit, paradoxe Gesellschaftlichkeit, in der das einzelne Individuum durch seine Handlungen, die sein eigenes Glück befördern sollen, das Glück aller bewirken muss.
Diese Form paradoxer Gesellschaftlichkeit ist schon in den frühesten Dokumenten bürgerlicher Gesellschaft und Geselligkeit niedergelegt. Einen Tag nach der Deklaration der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung wurde diese in der deutschsprachigen Zeitung „Pennsylvanischer Staatsbote“ in Philadelphia abgedruckt, wo es im ersten Satz der Präambel heißt:
„Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“
Und nur ein paar Jahre später, 1785, formuliert Kant seinen Kategorischen Imperativ (in seinem Werk Grundlegung zur Metaphysik der Sitten), der ebenso berühmt und ebenso wichtig für das Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft werden soll. Er lautet in seiner so genannten Grundformel folgendermaßen:
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Auffallend ist in beiden Zitaten eine implizite und explizite Hinwendung und Aufforderung an ein Individuum, das als vernünftig und verantwortungsvoll gedacht wird. Mit dieser Vernunft und Verantwortung ist aber auch die völlige Abstraktheit und inhaltliche Leere des Gesellschaftlichen, der gesellschaftlichen Verhältnisse verbunden. Erst das vernünftige, verantwortungsvoll handelnde Individuum stellt Gesellschaft her. Die Präambel der Unabhängigkeitserklärung macht es klar: Das Streben nach Glückseligkeit (pursuit of happiness) ist nun ein individuelles Recht. Daraus folgt: Wer unglücklich ist, hat dieses sein Recht nicht in Anspruch genommen und ist an seinem Unglück selbst schuld. (Es rettet uns bekanntlich kein höh’res Wesen …) Kant zieht daraus die Konsequenzen auf drastische Art und aus dem Recht wird ein Imperativ. Nun ist die Schlussfolgerung: Sind die gesellschaftlichen Verhältnisse schlecht, ungerecht oder sonst unpassend, dann fällt auch dies auf das Individuum zurück, das offensichtlich sich nicht um die richtigen Maximen des Handelns bemüht hat. Goethe sagt dazu im Faust 1831:
„Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“
An diesen Zitaten fällt auf, dass sie eine Verpflichtung aussprechen, der keins entkommen kann, es sei denn um den Preis des gesellschaftlichen Ausschlusses, der Ächtung. Wer die Prämissen dieses gesellschaftlichen Handelns (Berechtigung und Verpflichtung zum eigenständigen Handeln) nicht erfüllen will, kann oder darf, ist bildlich und oft genug real zum Abschuss freigegeben. Wenn wir zusammenfassen, dann sprechen die Gründerväter und der Philosoph von einem Handeln, dem sich kei ns entziehen kann und das – gewaltsam, obligatorisch – gesellschaftlich ist.
Ich möchte noch hinzufügen: das öffentlich ist. Öffentlichkeit des Handelns ist es, was das Subjekt ausmacht. Es gibt ja auch gesellschaftlich notwendiges Handeln, das nicht öffentlich geleistet wird, nämlich das Handeln in der Privatheit, in der Abspaltung. Dieses wird zwar verschwiegen, negiert und nicht bezahlt, aber ich möchte jetzt beim Subjekt und der Öffentlichkeit bleiben.
Handeln in der Öffentlichkeit bedeutet, Ansprüche geltend zu machen, Unternehmungen zu formulieren. Diese sind deswegen subjektive Akte, weil sie individuell vorgetragen werden, und öffentliche, weil sich durch sie das Wohlergehen aller herstellen soll. Dieses Phänomen einer unsichtbaren Hand, die alles richtet, ist in der Beschreibung der bürgerlichen Gesellschaft, des Modernen Ensembles, eine gut eingeführte Figur. Eine Stammtischvariante dieser Vorstellung lautet beispielsweise: „Geht s der Wirtschaft gut, geht s allen gut.“ Dabei können wir auch sehen, dass das Subjekt nicht unbedingt ein empirisch einzelnes menschliches Individuum sein muss. Als Subjekte können auch Zusammenschlüsse wie Vereine, Klassen oder Staaten agieren. Wesentlich ist, dass sie dies mit eigener Unternehmung oder mit eigenen Interessen (also verallgemeinerten Unternehmungen) tun und dass sie dies notwendigerweise konkurrent tun.
Dieses Eintreten in die Öffentlichkeit mit der Definition der eigenen Unternehmung, dem Geltendmachen der eigenen Ansprüche – und, nebenbei bemerkt, der Formulierung der eigenen Geschichte – ist dann das, was schlechthin als Emanzipation bekannt ist. Emanzipation ist der erfolgte und erfolgreiche Kampf um die Anerkennung als Subjekt in der bürgerlichen Gesellschaft. Wir kennen dies als die Emanzipation des Dritten Stands zur Nation, als die Emanzipation der Arbeiterklasse von Rechtlosen, Ausgebeuteten, Randständigen zu Staatsbürgern, als die Emanzipation der Frauen zu Staatsbürgerinnen, als die Emanzipation unterdrückter Kolonialvölker oder Nationalitäten in Vielvölkerreichen zu Nationalstaaten.
Emanzipation ist der Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft, nicht deren Überwindung. Subjekte, die sich als solche konstituieren, formulieren zwar ihre Ansprüche und Unternehmungen, müssen aber dabei ihre Gleichförmigkeit gegenüber anderen Subjekten in Kauf nehmen. Als Subjekt in die bürgerliche Gesellschaft einzutreten, heißt logischerweise, seiner Eigenarten zu entraten, und bedeutet das Anerkennen der erzwungenen Gleichförmigkeit mit allen anderen, die sich ebenso als Subjekte konstituieren. So sind also Subjekt und Konkurrenz untrennbar verbunden und das betrifft nicht nur die einzelnen Individuen oder Familien, die ideologisch als Keimzelle von Staat und Gesellschaft auftreten. Es gilt ebenso für Großsubjekte wie Vereine, Klassen und Staaten. Auch diese handeln mit eigener Unternehmung, formulieren eigene Ansprüche und Legitimationen, verhalten sich gegenüber anderen konkurrent.
Das macht übrigens den Klassenkampf so zahnlos, wenn von ihm eine Überwindung und Transformation unserer gesellschaftlichen Verhältnisse erwartet wird. Hier handelt es sich ja schlicht nur um systemimmanente und systemkonstitutive Interessenskonkurrenz und wenn vom revolutionären Subjekt die Rede ist, dem die traditionelle Linke die Verantwortung für die Umwälzung der bestehenden Verhältnisse aufbürden will, zeigt ja schon diese Bezeichnung, dass keine neuen gesellschaftlichen Gedanken vorliegen, bloß die lineare Vorstellung von Verbesserung und Fortschritt.
Subjektivität ist also Ausdruck des blank abstrakten Gesellschaftlichen, zu dem sich alle Mitglieder der Gesellschaft verpflichten und bereitfinden müssen, es sei denn, sie wären von der bürgerlichen Gesellschaftlichkeit ausgeschlossen und so Objekt einer Behandlung durch eben diese Gesellschaft. Subjektivität ist nicht – entgegen dem alltäglichen Sprachgebrauch – der Ausdruck spezifischer empirischer Eigenschaften verschiedener empirischer Menschen, sondern im Gegenteil die abstrakte Form gesellschaftlichen Handelns, in die die Subjekte durch Emanzipation und freiwillige Unterwerfung (die Einsicht in die Notwendigkeit von Vernunft und Natur) gezwungen werden. So ist auch die eigene Meinung, die eins nun einmal haben darf, nicht nur Errungenschaft gegenüber früherer Willkür der Fürsten, nein, sie ist etwas, das das Subjekt haben muss, will es sich als Subjekt konstituieren und anerkannt werden.
Meinungen sind gesellschaftlich notwendige Aussagen und werden öffentlich geäußert und öffentlich der Konkurrenz ausgesetzt. Unnötig zu sagen, dass diese eigenen Meinungen, Teil und Ausdruck der Unternehmung, je nach Gelegenheit und Lage eine jeweils andere sein kann. Meinungen haben also keinen Anspruch auf Wahrheit, oder höchstens, solange sie nicht widerlegt oder überstimmt werden. Aber ohne Meinung geht gar nichts, es sei denn in Bereichen, die nicht öffentlich sind.
In diesen Bereichen – also in den Regimes der Produktion, der Ausbildung, der Abspaltung – nimmt die gesellschaftliche Äußerung die Form des Befehls an und erhebt Wahrheitsanspruch. Der Befehl wird aber freiwillig ausgeführt, das heißt, die Subjekte geben ihre Subjektivität auf und unterwerfen sich – oder sie stellen die Machtfrage, um das Regime zu ändern oder zu übernehmen. Dies ändert aber noch immer nichts daran, dass etwa in Fabrik und Büro befohlen wird, auch wenn der Betriebsrat dabei mitbestimmt.
Ebenso freiwillig und durch Einsicht entraten auch die Subjekte der Subjektivität, wenn Natur und Vernunft bedroht sind. Sie geben dann ihre eigene Unternehmung auf und verhalten sich nicht mehr konkurrent, sondern uniform, was sich dann auch in der Kleidung ausdrückt; von der Krankenschwester über den Feuerwehrmann bis zum Soldaten, von der Schuluniform bis zur Arbeitskluft der corporate identity wird die (temporäre) Aufgabe der Subjektivität ausgedrückt. Die empirischen Menschen sind nun Objekt des Notstands oder der Katastrophe oder auch nur der pädagogischen Zurichtung durch die Gesellschaft. Wo also Subjektivität die gesellschaftliche Form des öffentlichen Handelns ist, ist die Objektivität die gesellschaftliche Form der Behandlung. Mit Wahrheit haben beide nichts zu tun.
Es gibt aber noch eine Gelegenheit, die Subjektivität aufzugeben, und hier geschieht dies freiwillig. Wir sprechen von der Privatheit, die sich im Raum der Abspaltung entfaltet. Während in der Öffentlichkeit die gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten verrichtet werden, die mit Prestige, Ansehen, hierarchischem Rang und Entlohnung versehen sind, werden in der Abspaltung gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten verrichtet, die unbezahlt bleiben, deren Prestige, wenn sie denn doch entlohnt werden, gering ist und die aus Liebe und Engagement getan werden. Es sind dies Tätigkeiten, die vor allem weiblich konnotiert sind, Tätigkeiten der Pflege, der Aufzucht, der Rekreation. Wenn nun das Subjekt (gesellschaftlich maskulin) in diese Privatheit (nach getaner Arbeit) einkehrt, erhält es hier zum Arbeitslohn eine weitere Rekompensation für seine öffentlichen Bemühungen: Es kann nun es selbst sein, kann in seinen Vorlieben schwelgen und seine Eigenarten ausleben, wird dabei nicht behelligt und wiegt sich in der Illusion, hier Mensch zu sein.
Dass es sich dabei um Illusionen handelt, zeigt sich nicht nur an dem andauernden Wechsel zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, der also immer wieder das Verleugnen der Eigenarten und stattdessen das Verfolgen der Unternehmung erfordert. Es zeigt sich auch, wo Frauen durch Emanzipation selbst öffentlich auftreten und ihre eigenen Interessen und Unternehmungen verfolgen. Auch sie unterliegen nun, allerdings auf andere Weise, dem ruhelosen Wechsel zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, erhoffen von beiden Bereichen ihre Selbstverwirklichung und Erholung, aber bleiben dabei noch immer mit der Tatsache konfrontiert, dass die gesellschaftlichen notwendigen Tätigkeiten der Abspaltung von ihnen ausgeübt werden müssen, trotz Emanzipation an ihnen hängen bleiben und die geschlechtliche Konnotierung von Subjektivität und Abspaltung ungebrochen wirkt.