Nachrichten und Kritik
10.07.15 | Theorie
Sonderausgabe. Es stimmt keineswegs, dass Marx zu aktuellen Phänomenen wie Börse, Finanzkapital und Zentralbankgeld nichts zu sagen hätte. Ganz im Gegenteil: Marx beschäftigte sich im „Kapital Band III“ auf mehreren hundert Seiten mit nichts anderem als mit Krise, Kredit und staatlicher Geldpolitik. Dieser Aufsatz ist ein Versuch, die von Marx eingeführten Begriffe und Unterscheidungen aufzugreifen und mithilfe derselben eine rationale Theorie der heutigen Krisensituation und ihrer weiteren Perspektive zu skizzieren.
Vorbemerkung der Redaktion:
Der nachfolgende Aufsatz stellt einen Versuch dar, die von Karl Marx im dritten Band des „Kapital“ entwickelte Krisentheorie sowie seine dortigen Anmerkungen zur Theorie des Finanzkapitals aufzuarbeiten und zu systematisieren. Nach unserer Kenntnis wurden diese Teile der Marxschen Theorie bisher, abgesehen von wenigen Ausnahmen, selbst im Marxismus und den verschiedenen Marx-Schulen ignoriert. Stattdessen grassieren die wildesten Theorien über das Finanzkapital, den „Finanzhimmel“, das von der Zentralbank geschöpfte Geld, die Ursachen der Krise etc. Eine theoretische Klärung scheint uns hier höchst notwendig, da sie entscheidend für die Bewertung der heutigen Situation ist.
Da dieser Artikel den theoretischen Hintergrund für einige unserer Einschätzungen zu aktuellen Entwicklungen bildet, z.B. bezüglich der langfristigen Folgen eines Grexits oder der (durch die Niedrigzinsen angeheizten) Welle der Mega-Fusionen, veröffentlichen wir ihn an dieser Stelle als Sonderausgabe. Da der Text recht umfangreich ist, haben wir eine PDF-Version hier hochgeladen.
Von Markus Winterfeld
Inhaltsverzeichnis
1 Sechzig Milliarden Euro im Monat
2 Die Marxsche Theorie des zinstragenden Kapitals
3 Die drei Ebenen der Marxschen Theorie
6 Zwischenresümee: die Zentralbank schöpft Leihkapital
7 Wirkliches Kapital, kapitalistische Reproduktion und die Schranke der Konsumtion
7.1 Die elastischen Grenzen der Produktion
7.2 Die Marxschen Reproduktionsschemata
7.3 Die beiden Abteilungen der kapitalistischen Produktion
7.4 Die produktive Konsumtion und ihre Grenzen
7.5 Die individuelle Konsumtion – das Nadelöhr der kapitalistischen Produktion
8 Das paradoxe Nebeneinander von überflüssigem Kapital und überflüssiger Bevölkerung
9 Überproduktionskrise und historische Ausdehnung der Konsumtion
10 Die Krise 2008 – am Wendepunkt von Expansion zur Kontraktion des Kapitals
11 Die direkten Folgen der EZB-Politik in der Überproduktionskrise
12 Keynesianismus als repressive Krisenverwaltung
14 Ausblick: die kommenden fünf Jahren
Der Chef der europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, hat Ende Januar angekündigt, dass die EZB ab März 2015 monatlich private Bonds und Staatsanleihen im Wert von mindestens 60 Milliarden Euro ankaufen wird. Das Programm soll mindestens bis September 2016 laufen und besitzt somit ein Gesamtvolumen von über 1,1 Billionen Euro.1 Die Bank begründet den Einsatz „des stärksten und wohl auch letzten Mittels im Kampf gegen Deflationsrisiken“ (Handelsblatt) mit der zu geringen Inflation im Euro-Raum, welche von der Zielmarke von 2 % immer weiter wegdriftet, zuletzt sich ins Negative gekehrt hat, so dass anstelle der gewünschten Preissteigerung der Waren ein allgemeiner Preisverfall (Deflation) vorliegt. Durch das Kaufprogramm der EZB sollen die Banken in die Lage versetzt werden, die Staatsanleihen in ihrem Besitz an die Zentralbank zu verkaufen, dadurch mehr Geldmittel flüssig zu haben, und dieses Geld als Kredit an die Wirtschaft weiterzugeben. Durch die vermehrten Unternehmenskredite soll die stagnierende Wirtschaft im Euroraum angekurbelt und der Preisverfall gestoppt werden. Soweit die offizielle Theorie. Was die Bank hier also tatsächlich macht, ist Geld zu drucken (bzw. digital zu „schöpfen“), um mit diesen vorher nicht dagewesenen Euros Staatspapiere und private Bonds zu kaufen. Ähnliche Programme wurden in den letzten Jahren in Japan, den USA, Großbritannien und Schweden aufgelegt.
Was nun sagt Marx dazu? – „Gar nichts“, antworten uns die meisten „MarxistInnen“, eilig darauf hinweisend, dass Marx ja die Staatseingriffe im Allgemeinen, ebenso die ganze Welt des Finanzkapitals und der Notenbanken nicht kannte und nicht hätte vorhersehen können. Worauf diese Erzählung meist hinausläuft, ist die Übernahme der bürgerlichen Ansicht, dass durch Staatseingriffe und die am Finanzmarkt erzeugten Profite die kapitalistische Krise überwunden oder doch beliebig herausgeschoben werden könnte, in einem Wort: Marx überholt sei. In welchem Verhältnis die hierin unterstellten finanzkapitalistischen Mechanismen zur Marxschen Theorie von Arbeit, Wert, Geld und Kapital stehen, wird dann i.d.R. noch nicht einmal versucht, darzustellen.
Wenn man sich in zwei, drei Jahren durch „Das Kapital“ Band I, II und III gearbeitet hat, stellt man allerdings mit Verwunderung fest, dass Marx sehr wohl über allerlei Phänomene der Finanzwelt spricht – im Band III geht es auf fast 300 Seiten um nichts anderes als um Kredit, zinstragendes Kapital („Leihkapital“), Zinsfuß, Zusammenhang zwischen Geldmenge und Warenpreisen, und immer wieder: um die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Akkumulation des „wirklichen Kapitals“ – d.h. des industriellen und Kaufmannskapitals – und der Akkumulation des Leihkapitals (Kreditsektor). Höchst spannend und höchst aktuell, möchte man meinen. Marx bespricht dabei, wie Engels im Vorwort vom Band III treffend schreibt, „so ziemlich alle damals gangbaren Ansichten über das Verhältnis von Geld und Kapital“ (MEW 25, S. 13), weshalb dieses Material von höchstem Interesse ist. Diese Ausführungen haben meiner Kenntnis nach in aktuellen marxistischen Diskussionen keinerlei Niederschlag gefunden, und auch die Wert(abspaltungs)kritik machte, soweit ich weiß, bisher einen Bogen um diese Ausführungen. Im Folgenden möchte ich daher den Versuch unternehmen, aufzuzeigen, wie die von Marx dort entwickelten Zusammenhänge geeignet sind, die heutige Situation auf den Begriff zu bringen und die Zentralbank-Politik in ihrer Motivation und in ihrer Wirkung zu bewerten. Es ist dabei keineswegs zufällig, dass Marx seine Theorie des Leihkapitals mit empirischen Material aus den großen Weltmarktkrisen der ersten Hälften des 19. Jahrhunderts unterlegt. Denn die Bewegungen des Leihkapitals, insbesondere die Schwankung des Zinsfußes, sind selbst Resultat des industriellen Krisenzyklus. Ich werde daher im zweiten Teil dieses Artikels versuchen, die Marxsche Krisentheorie aus Band III systematisch darzustellen und zu zeigen, wie aus diesen beiden m.E. vernachlässigten Bestandteilen der Marxschen Theorie – der Theorie des Leih- bzw. Finanzkapitals und der Krisentheorie – eine Beantwortung der theoretischen Fragen möglich ist, die sich mit der Zentralbankintervention verbinden:
Was ist es genau, was die Zentralbank druckt: Ist es Geld? Ist es Kapital? Hat es Wert, hat es keinen? Welchen Einfluss hat die Geldschöpfung auf die kapitalistische Ökonomie?
Was sagt es über die aktuelle Krisensituation aus, wenn die EZB zum finanzpolitischen „weapon of last resort“ (Handelsblatt) greift? Und ist damit die Krise langfristig überwindbar oder wenigstens verlustfrei weiter aufschiebbar? Was wird passieren, wenn das Geldschöpfungsprogramm der EZB im September 2016 ausläuft?
Wesentliches Leitmotiv der Marxschen Darstellung des Leihkapitals ist die Unterscheidung von drei Ebenen der kapitalistischen Reproduktion. Die erste Ebene bildet das „wirkliche Kapital“, welches den Umschlag G-W-G’ vollzieht (sei es als industrielles Kapital oder als Kaufmannskapital2). Als zweite Ebene kommt im Bd. III das zinstragende Kapital bzw. Leihkapital hinzu, das als Geld und gegen die Zahlung eines Zinses an die industriellen Kapitalisten verliehen wird, aber selbst außerhalb der Reproduktion steht. Drittens schließlich das aus Bd. I bekannte Geld als Zirkulationsmittel, welches beständig in der Zirkulation haust, die Warenkäufe und -verkäufe vermittelt. Aus dieser Aufzählung ergibt sich schon „Die Konfusion“ (so hatte Marx diesen Abschnitt im Manuskript zum Bd. III überschrieben), die aus diesen Begriffen folgen kann, und deren Darstellung und Kritik Marx einen Großteil jener 300 Seiten widmet: denn 1. und 2. sind beide „Kapital“ im Gegensatz zu 3. als „Geld“, und 2. und 3. sind anderseits „Geld“, im Gegensatz zu 1. als „Kapital“. Die Verwirrungen sollen uns hier nicht weiter kümmern, die Frage die sich stellt ist: was ist der Unterschied dieser drei Daseinsweisen von Geld bzw. Kapital, wie ist die Masse des in diesen Formen vorhandenen Geldes bzw. Kapitals bestimmt, und in welchem inneren Zusammenhang stehen ihre Bewegungen? Die Beantwortung dieser Fragen ist Voraussetzung für einen Begriff der heutigen Krisensituation und eine Bewertung der EZB-Politik, weil zuallererst geklärt werden muss, was es eigentlich ist, das die EZB hier in großem Umfang schöpft und wie sich diese Vermehrung auf die anderen Ebenen auswirkt. Wir beginnen beim Geld als Zirkulationsmittel.
Wie bereits angemerkt, vermittelt das Geld als Zirkulationsmittel die Zirkulation der Waren: Bauer verkauft Getreide an Viehzüchter, erhält vom Viehzüchter Geld, kauft mit diesem Geld neue HilfsarbeiterInnen und neues Benzin für die Traktoren usw. Nacheinander stellt das Geld den Waren ihre eigene Wertgestalt vor, in die diese sich verwandeln. Es wechselt dabei die Hände in einer der Bewegung der Waren entgegengesetzten Richtung.
Dasselbe Geldstück kann nacheinander eine ganze Reihe von Warenkäufen und -verkäufen vermitteln, ohne die Zirkulation jemals zu verlassen. Für die beständig stattfindende Zirkulation des gesellschaftlichen Warenprodukts ist eine gewisse Geldmenge erheischt, welche die Zirkulation nie verlässt. Wie nun ist die als Zirkulationsmittel benötigte Geldmenge bestimmt?
„Das Gesamtquantum des in jedem Zeitabschnitt als Zirkulationsmittel funktionierenden Geldes ist also bestimmt einerseits durch die Preissumme der zirkulierenden Warenwelt, andrerseits durch den langsameren oder rascheren Fluß ihrer gegensätzlichen Zirkulationsprozesse, von dem es abhängt, der wievielte Teil jener Preissumme durch dieselben Geldstücke realisiert werden kann. Die Preissumme der Waren hängt aber ab sowohl von der Masse als den Preisen jeder Warenart.“ (MEW 23, S. 135)
Oder als Formel:
„Preissumme der Waren / Umlaufsanzahl gleichnamiger Geldstücke
= Masse des als Zirkulationsmittel funktionierenden Geldes“ (MEW 23, S. 133).
Was passiert nun, wenn die Masse des in einem Land vorhandenen Geldes vermehrt oder vermindert wird? – Im Kapital Bd. I ist immer Geld immer als Gold gesetzt. Die Masse zirkulierender Goldstücke ergibt sich durch die insgesamt für die Zirkulation notwendige Goldmasse, welche durch die Wert- bzw. Preissumme der gleichzeitig zirkulierenden Waren gegeben ist. Die bloße Vermehrung des in einem Land vorhandenen Goldes ändert natürlich nicht den Wert einer Goldmünze, eines Barrens oder irgendeiner Quantität Gold, der in letzter Instanz stets durch die zur Herstellung dieses Goldquantums notwendige Arbeit bestimmt ist. Das für die Zirkulation aller Waren erheischte Goldquantum bleibt dementsprechend unberührt, und es ist gar nicht möglich, die Masse des als Zirkulationsmittel fungierenden Geldes künstlich, z.B. durch Ausgabe neuer Goldmünzen, zu vergrößern. Das von der Zirkulation nicht benötigte Geld (Gold) fällt sofort aus ihr heraus und versteinert zum Schatz, egal ob von den ZirkulationsteilnehmerInnen selbst aufbewahrt (Tresor oder Sparstrumpf) oder als Depositum in der Bank eingezahlt (Sparbuch etc.)
Marx kritisiert vor diesem Hintergrund die sogenannte „Currency Theorie“, auch bekannt als „Quantitätstheorie des Geldes“. Die Currency Theorie geht davon aus, dass die Menge des in einem Land vorhandenen Geldes dessen Wert bestimmt, d.h., bei Zustrom an Gold der Goldwert fallen, die gleiche Münze weniger Wert darstellen, somit die Preise der Waren steigen würden, was nach Marx eine begriffslos Vorstellung ist:
„Die Illusion, daß umgekehrt die Warenpreise durch die Masse der Zirkulationsmittel und letztre ihrerseits durch die Masse des in einem Lande befindlichen Geldmaterials bestimmt werden, wurzelt bei ihren ursprünglichen Vertretern in der abgeschmackten Hypothese, daß Waren ohne Preis und Geld ohne Wert in den Zirkulationsprozeß eingehn, wo sich dann ein aliquoter Teil des Warenbreis mit einem aliquoten Teil des Metallbergs austausche.“ (MEW 23, S. 137f)3
Implizit nimmt die Currency Theorie also an, dass alles Gold zirkulieren müsse, daher der Wert des Goldes gleich dem der Warenmasse sei. Auf diese implizite Voraussetzung werden wir bei der Betrachtung des heutigen Geldes zurückkommen.
Im Kapital Bd. III kommt zum Gold selbst die Banknote, das Kreditgeld hinzu: „Die Banknote ist nichts als ein Wechsel auf den Bankier, zahlbar jederzeit an den Inhaber“ (MEW 25, S. 417) D.h., anstelle des Goldes zirkuliert die Banknote, das Gold liegt im Tresor der Bank, der Besitzer der Banknote kann diese bei der Bank jederzeit in Gold (welches das eigentliche Geld bleibt) umtauschen. Die Bestimmung der Quantität des zirkulierenden Geldes wird dadurch allerdings nicht betroffen, wie Marx im Band III explizit anmerkt:
„Es ist bereits bei Betrachtung der einfachen Geldzirkulation (Buch I, Kap. III, 2) nachgewiesen worden, daß die Masse des wirklich zirkulierenden Geldes, Geschwindigkeit der Zirkulation und Ökonomie der Zahlungen als gegeben vorausgesetzt, bestimmt ist durch die Preise der Waren und die Masse der Transaktionen. Dasselbe Gesetz herrscht bei der Notenzirkulation.“ (MEW 25, S. 538)4
Neben Gold und Banknoten (die das Gold vertreten) erwähnt Marx noch ein drittes Zirkulationsmittel, nämlich das „Staatspapiergeld mit Zwangskurs“ (MEW 23, S. 141): „Papierzettel, denen Geldnamen, wie 1 Pfd. St., 5 Pfd. St. usw. aufgedruckt sind, werden vom Staat äußerlich in den Zirkulationsprozess geworfen.“ (Ebenda.)5 Diese besitzen selbst keinen Wert und stehen in keinem Verhältnis zum Gold; sie verhalten sich daher tatsächlich gemäß der Currency Theorie, d.h., sie entwerten sich mit steigender Masse. Sie besitzen den Wert der aufgedruckten Geldsumme nur, solange sie in der Zirkulation Waren von diesem Wert zirkulieren machen. Wird von dieser spezifischen Art von Papiergeld mehr ausgegeben als „natürlich“ zirkulieren würde, so verringert sich sein Wert. Im Kapital bleiben die Ausführungen dazu spärlich, in der Vorgängerschrift „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ geht Marx aber ausführlich auf die ökonomischen Gesetze dieser Sorte von Papiergeld ein:
„Die Quantität der Papierzettel ist also bestimmt durch die Quantität des Goldgeldes, das sie in der Zirkulation vertreten, und da sie nur Wertzeichen sind, sofern sie es vertreten, ist ihr Wert einfach durch ihre Quantität bestimmt. Während also die Quantität des zirkulierenden Goldes von den Warenpreisen abhängt, hängt umgekehrt der Wert der zirkulierenden Papierzettel ausschließlich von ihrer eigenen Quantität ab.
Die Einmischung des Staats, der das Papiergeld mit Zwangskurs ausgibt – und wir handeln nur von dieser Art Papiergeld -, scheint das ökonomische Gesetz aufzuheben. Der Staat, der in dem Münzpreis einem bestimmten Goldgewicht nur einen Taufnamen gab, und in der Münzung nur seinen Stempel auf das Gold drückte, scheint jetzt durch die Magie seines Stempels Papier in Gold zu verwandeln. Da die Papierzettel Zwangskurs haben, kann niemand ihn hindern, beliebig große Anzahl derselben in Zirkulation zu zwängen und beliebige Münznamen, wie 1 Pfd.St., 5 Pfd.St., 20 Pfd.St., ihnen aufzuprägen. Die einmal in Zirkulation befindlichen Zettel ist es unmöglich herauszuwerfen, da sowohl die Grenzpfähle des Landes ihren Lauf hemmen, als sie allen Wert, Gebrauchswert wie Tauschwert, außerhalb der Zirkulation verlieren. Von ihrem funktionellen Dasein getrennt, verwandeln sie sich in nichtswürdige Papierlappen. Indes ist diese Macht des Staats bloßer Schein. Er mag beliebige Quantität Papierzettel mit beliebigen Münznamen in die Zirkulation hineinschleudern, aber mit diesem mechanischen Akt hört seine Kontrolle auf. Von der Zirkulation ergriffen, fällt das Wertzeichen oder Papiergeld ihren immanenten Gesetzen anheim.“ (MEW 13, 98)
Und diese Gesetze stellen sich dar als proportionale Verringerung des „Werts“ der Papierzettel mit zunehmender staatlicher Ausgabe derselben:
„Wären 14 Millionen Pfd.St. die Summe des zur Warenzirkulation erheischten Goldes und würfe der Staat 210 Millionen Zettel, jeden mit dem Namen 1 Pfd.St., in Zirkulation, so würden diese 210 Millionen in Repräsentanten von Gold zum Belauf von 14 Millionen Pfd.St. umgewandelt. […] Da der Name Pfd.-St. jetzt ein 15mal kleineres Goldquantum anzeigte, würden alle Warenpreise um das 15fache steigen und nun wären in der Tat 210 Millionen Pfd.-St.-Zettel ganz ebenso notwendig, wie vorher 14 Millionen.“ (ebenda, 98f)
Der „Zwangskurs“ der Papierzettel bedeutet also nicht, dass der Staat ihren Wert dekretieren könnte, sondern dass der Staat allen ZirkulationsteilnehmerInnen den Zwang auferlegt, dieses Papiergeld anzunehmen. Auf diese Weise allein gelingt es, diese Papierzettel – neben dem weiterhin zirkulierenden echten Geld – in die Zirkulation zu werfen, andernfalls würden die ZirkulationsteilnehmerInnen die Annahme von Zetteln anstelle des Goldes schlicht verweigern.
Es stellt sich nun die Frage: welche der Gesetzmäßigkeiten gilt für das heutige Geld – verhält es sich wie Banknote bzw. Gold, oder wie Staatspapiergeld? Und damit verbunden muss sich die eigentliche Frage lösen: was passiert, wenn die europäische Zentralbank zusätzliches Geld in die Zirkulation gibt?
Die Antwort scheint auf den ersten Blick eindeutig: der Euro ist zum einen offenkundig keine Goldmünze, zum anderen ist er nicht gegen ein vorgeschriebenes Quantum Gold austauschbar, somit auch keine Banknote. Bliebe nur noch das Papiergeld; was hieße, dass durch Ausgabe neuer Euroscheine sich der Geldwert proportional verringern würde.
Das Problem an dieser Argumentation ist, dass eigentlich vorausgesetzt wird, was bewiesen werden sollte. Zwar ist es leicht zu begründen, warum Gold und Banknote sich bei vermehrter Ausgabe nicht entwerten, aber warum sich das heutige Geld entwertet, dies wird nicht begründet, sondern einfach unterstellt. Schauen wir also, wie Marx erklärt, warum es eigentlich dazu kommt, dass das Zirkulationsmittel entwertet wird:
„Wenn das Gold nur Geld ist, weil es als Zirkulationsmittel umläuft, wenn es gezwungen ist, in der Zirkulation zu verharren [!], wie vom Staat ausgegebenes Papiergeld mit Zwangskurs (und dies liegt Ricardo im Sinn) dann wird die Quantität des zirkulierenden Geldes im ersten Fall [bei gesunkener Preissumme der Waren] überschwellen im Verhältnis zum Tauschwert des Metalls; im zweiten [bei gestiegener Preissumme der Waren] würde sie unter ihrem normalen Niveau stehen.“ (ebenda, S. 146)
Hier also liegt die Begründung: von den drei Geldfunktionen (Maß der Werte, Zirkulationsmittel und Geld – letzteres nochmal zerfallend in Zahlungsmittel, Weltgeld und Schatz)6 besitzt das hier behandelte Papiergeld nur eine, nämlich die als Zirkulationsmittel, und ist daher in die Zirkulation eingesperrt. Es taugt nicht als Maß der Werte, denn es hat keinen Wert und braucht keinen Wert zu haben: neben ihm existiert und zirkuliert weiter das Gold als Geld, in dem die Waren ihre Werte ausdrücken. Das Gold bleibt Maß der Werte, aber zusätzlich wird vom Staat das Papiergeld in die Zirkulation gepresst. Das Staatspapiergeld mit Zwangskurs taugt auch nicht für die dritte Geldfunktion, als „Geld“ im eigentlichen Sinne – weder als Weltgeld und zum Export außer Landes, noch zur Schatzbildung. Insbesondere diese letztere Funktion als Schatz ist für die kapitalistische Produktion wichtig, da nur durch die Möglichkeit zur Aufschatzung des Geldes auch die Möglichkeit gegeben ist, dieses als Kapital zu verleihen (Geldkapital). Und genau hier ist der Unterschied: während das „Staatspapiergeld mit Zwangskurs“ nur als Zirkulationsmittel taugt, jeder es loswerden will für neue Ware, es daher immer in der Zirkulation verbleiben muss, niemand es zu Hause aufbewahren mag, – dagegen hat der Euro tatsächlich die Möglichkeit, aufbewahrt, bei der Bank deponiert, als Kapital angewandt oder in Weltgeld (US-Dollar) umgetauscht zu werden. Der Fehler der „Currency Theorie“ dagegen ist allgemein, dass sie „das Geld in seiner flüssigen Form als Zirkulationsmittel isoliert“ (MEW 13, S. 158). Wenn daher behauptet wird, dass sich das heutige Geld mit zunehmender Geldmenge entwertet, so dass sich das heutige Geld nach Wegfall der Goldbindung wie „Staatspapiergeld mit Zwangskurs“ verhält – dann wäre gerade zu beweisen, dass das heutige Geld vollständig in der Zirkulation haust und keine anderen Geldfunktionen (Maß der Werte, Schatz) wahrnehmen kann.7 Dies ist aber gerade nicht der Fall. Die für die Zirkulation überflüssigen Euros werden nicht entwertet, sondern fallen aus der Zirkulation heraus und werden aufgeschatzt. Sie verhalten sich nicht wie Staatspapiergeld mit Zwangskurs, sondern wie Banknoten.
Was passiert also heute bei einer zusätzlichen Ausgabe von Geld mit der Zirkulation? – Nichts; denn es gelten die gleichen Gesetze wie für Banknoten, die da sind: „Die Menge der zirkulierenden Noten richtet sich nach den Bedürfnissen des Verkehrs, und jede überflüssige Note wandert sofort zurück zu ihrem Ausgeber.“ (MEW 25, S. 540) Das von der Zirkulation nicht aufgenommene Geld bildet Schatz, wird von den BesitzerInnen bei der Bank deponiert, welche daher über ausreichend große Mengen verfügt, um es verborgen zu können. Das überschüssige Geld entwertet sich also gerade nicht, sondern verwandelt sich in leihbares Geldkapital.8
Das Leihkapital – oder zinstragende Kapital – ist Geld, welches gegen Zins verliehen wird. Damit Geld als Kapital effektiv verliehen werden kann, muss es als entsprechend große Summe gesammelt vorliegen. Diese Konzentration des brachliegenden Geldes geschieht durch die Banken, welche alles kurzzeitig brachliegende Geld ebenso wie alle Ersparnisse und Zahlungsreserven der ZirkulationsteilnehmerInnen sammeln.9 Die Banken verleihen das Geld an die industriellen Kapitalisten, welche damit auf dem Markt Waren kaufen: sie kaufen Arbeitskraft und Produktionsmittel, um neue Ware zu produzieren. Da die produzierte Ware höheren Wert als ihre Bildungselemente (Produktionsmittel und Arbeitskraft) besitzt, also einen Mehrwert, erzielen die industriellen Kapitalisten durch diese Operation einen Profit, von dem sie einen Teil als Zins an die Besitzer des geborgten Geldkapitals zahlen. Was den fungierenden Kapitalisten nach Abzug des Zinses vom Profit verbleibt, ist der Unternehmergewinn:
„Im Gegensatz zum Zins, den er aus dem Bruttoprofit an den Verleiher wegzuzahlen hat, nimmt der ihm [dem industriellen Kapitalisten] zufallende noch übrige Teil des Profits also notwendig die Form des industriellen resp. kommerziellen Profits an, oder, um ihn mit einem deutschen Ausdruck zu bezeichnen, der beides einschließt, die Gestalt des Unternehmergewinns.“ (MEW 25, S. 386)
Oder kurz: Profit minus Zins = Unternehmergewinn. Der Teil des Profits, der den fungierenden Kapitalisten als Unternehmergewinn zur Akkumulation oder zum Verzehr verbleibt, ist damit gegeben durch ihre individuelle Profitrate und die Höhe der von ihnen zu zahlenden Zinsen. Die Höhe des Zinsfußes hat damit eine unmittelbare Wirkung auf den Reproduktionsprozess, da sie bei gegebener Profitrate den Umfang der Akkumulation des industriellen Kapitals bestimmt. Die Frage ist daher: wie bestimmt sich die Höhe des Zinsfußes?
Eine Obergrenze für den Zinsfuß scheint sich zu ergeben durch die Profitrate selbst: wenn der Zins größer als der Profit wird, so verschwindet der Unternehmergewinn, die Anwendung des Kapitals erzeugt Verlust. Über längere Zeiträume hinweg ist dies nicht möglich, denn die fungierenden Kapitalisten würde bankrott gehen. Aber kurzzeitig kann dies vorkommen und kommt vor, namentlich in der Krise, wenn die fungierenden Kapitalisten Geld brauchen, nicht um das Geschäft auszudehnen, sondern um bestehende Verbindlichkeiten zu zahlen, während die Rückflüsse aus ihren eigenen Warenverkäufen stocken. Sie sind dann gezwungen, hohe Zinsen in Kauf zu nehmen, um überhaupt zahlungsfähig zu bleiben und nicht bankrott zu gehen.
Unabhängig von dieser elastischen Obergrenze existiert für den Zinsfuß keine allgemeine Bestimmung; einen „natürlichen“ Zinsfuß gibt es nicht:
„Die in einem Lande herrschende Durchschnittsrate des Zinses – im Unterschied von den beständig schwankenden Marktraten – ist durchaus durch kein Gesetz bestimmbar. Es gibt in dieser Art keine natürliche Rate des Zinses in dem Sinn, wie die Ökonomen von einer natürlichen Profitrate und einer natürlichen Rate des Arbeitslohns sprechen.“ (MEW 25, 374)
Es sind allein die jedesmaligen Konkurrenzverhältnisse zwischen Geldverleihern und Geldborgern, wodurch der Zinsfuß festgelegt wird. D.h., es sind „Nachfrage und Angebot von Geldkapital, die den Zinsfuß bestimmen“ (MEW 25, S. 534).10
Diese Bestimmung des Zinsfußes aus dem jedesmaligen Verhältnis von Angebot und Nachfrage ist aber noch nicht hinreichend, denn beide Seiten – Angebot und Nachfrage – sind selbst direkt oder indirekt abhängig vom Stand der kapitalistischen Produktion.
Woher kommt das Angebot an Leihkapital und wie wird es verändert? – Leihkapital ist brachliegendes Geld, das verborgt wird. Das Angebot an Leihkapital wächst erstmal durch alle Mechanismen und Umstände, die eine Brachlegung, Konzentration und Nutzbarmachung von Geld herbeiführen. Solche Umstände können z.B. sein ein Schrumpfen der Zirkulation (in Folge eines Falls der Warenpreise, einer Senkung der Warenmasse, oder einer Erhöhung der Umlaufgeschwindigkeit bzw. eines Ersatzes von Geld durch bloße Buchungen). Geld wird dann aus der Zirkulation herausgeworfen und auf der Bank deponiert, wo es als Leihkapital verwendbar ist. Andere Ursachen sind insbesondere die Ausgabe von Banknoten, der Einstrom von Geld aus dem Ausland, aber auch, bei ungünstigem Stand der industriellen Reproduktion und hohem Stand der Spekulation, ein Rückzug der Kapitalisten aus der Produktion und die Verwandlung ihres Kapitals (oder wenigstens des zur Akkumulation vorgesehenen Teils des Profits) in Geldkapital. Der industrielle Kapitalist wird dann Geldkapitalist, Börsenspekulant etc.
Aber auch die Nachfrage nach Geldkapital (Leihkapital) ist abhängig vom Krisenzyklus, denn sie ist abhängig vom Stand der industriellen Reproduktion. Die Nachfrage nach Leihkapital ist bestimmt durch zweierlei, zum einen durch die Nachfrage nach Geld als Kapital, zur Gründung oder Ausdehnung eines Geschäfts, zum anderen durch die Nachfrage nach Kapital als Geld, als Zahlungsmittel zum Begleichen bestehender Verbindlichkeiten.
Es ist klar, dass die Nachfrage nach Kapital zur Geschäftsgründung oder -ausdehnung direkt abhängt vom Stand der kapitalistischen Reproduktion. Die Nachfrage nach Leihkapital als Zahlungsmittel hingegen ist in erster Instanz abhängig vom Stand des kommerziellen Kredits, d.h. dem Umfang, in dem sich die fungierenden Kapitalisten bei Kauf und Verkauf der Waren Kredit geben, auf sofortige Zahlung verzichten und dem Käufer Zeit für die Geldbeschaffung lassen. Laufen die Geschäfte allgemein gut, sind die Rückflüsse des Geldes durch verkaufte Ware sicher, so braucht der Zahlungsverkehr der Kapitalisten untereinander kein Geld. Jeder gibt und nimmt gleichermaßen Kredit. Dies ändert sich schlagartig mit Eintreten der Krise, wo jeder nur für bares Geld verkauft.11 Die Nachfrage nach Leihkapital, sowohl als Geld wie als Kapital, ist also abhängig vom Krisenzyklus des industriellen Kapitals:
„Hat der Reproduktionsprozeß wieder den Stand der Blüte erreicht, der dem der Überanspannung vorhergeht, so erreicht der kommerzielle Kredit eine sehr große Ausdehnung, die dann in der Tat wieder die “gesunde” Basis leicht eingehender Rückflüsse und ausgedehnter Produktion hat. In diesem Zustand ist der Zinsfuß immer noch niedrig, wenn er auch über sein Minimum steigt. Es ist dies in der Tat der einzige Zeitpunkt, wo gesagt werden kann, daß niedriger Zinsfuß, und daher relative Reichlichkeit des verleihbaren Kapitals, zusammenfällt mit wirklicher Ausdehnung des industriellen Kapitals. Die Leichtigkeit und Regelmäßigkeit der Rückflüsse, verknüpft mit einem ausgedehnten kommerziellen Kredit, sichert das Angebot von Leihkapital trotz der gesteigerten Nachfrage und verhindert das Niveau des Zinsfußes zu steigen. Andrerseits kommen jetzt erst in merklichem Grad die Ritter herein, die ohne Reservekapital oder überhaupt ohne Kapital arbeiten und daher ganz auf den Geldkredit hin operieren. Es kommt jetzt auch hinzu die große Ausdehnung des fixen Kapitals in allen Formen und die massenhafte Eröffnung neuer weitreichender Unternehmungen. Der Zins steigt jetzt auf seine Durchschnittshöhe. Sein Maximum erreicht er wieder, sobald die neue Krisis hereinbricht, der Kredit plötzlich aufhört, die Zahlungen stocken, der Reproduktionsprozeß gelähmt wird und, mit früher erwähnten Ausnahmen, neben fast absolutem Mangel von Leihkapital, Überfluß von unbeschäftigtem industriellem Kapital eintritt.
Im ganzen also verläuft die Bewegung des Leihkapitals, wie sie sich im Zinsfuß ausdrückt, in umgekehrter Richtung zu der des industriellen Kapitals. Die Phase, wo der niedrige, aber über dem Minimum stehende Zinsfuß mit der “Besserung” und dem wachsenden Vertrauen nach der Krise zusammenfällt, und besonders die Phase, wo er seine Durchschnittshöhe erreicht, die Mitte, gleichweit entfernt von seinem Minimum und Maximum, nur diese beiden Momente drücken das Zusammenfallen von reichlichem Leihkapital mit großer Expansion des industriellen Kapitals aus. Aber am Anfang des industriellen Zyklus ist der niedrige Zinsfuß zusammenfallend mit Kontraktion und am Ende des Zyklus der hohe Zinsfuß mit Überreichlichkeit von industriellem Kapital. Der niedrige Zinsfuß, der die “Besserung” begleitet, drückt aus, daß der kommerzielle Kredit nur in geringem Maß des Bankkredits bedarf, indem er noch auf seinen eignen Füßen steht.“ (MEW 25, S. 505f)12
Der Zinsfuß zeigt somit verlässlich den Stand der industriellen Reproduktion an: niedriger Zinsfuß drückt Überangebot von Leihkapital aus, und zeigt an, dass die Nachfrage nach Leihkapital seitens der industriellen Kapitalisten gering ist. Sie benötigen zusätzliches Geld weder zur Zahlung bestehender Verbindlichkeiten, noch zur Ausdehnung des Geschäfts. Die Ursache ist die stockende, nur langsam expandierende Reproduktion. Der in den darauffolgenden Phasen steigende Zinsfuß zeigt eine gewachsene Nachfrage nach Leihkapital, verbunden mit hohen Profiten, eine sich verlässlich ausdehnende, dann sich zur Überproduktion und schließlich zur Krise steigernde Reproduktion an. Das Maximum des Zinsfußes ist wiederum Ausdruck der Überproduktion, des nicht gelingenden Verkaufs der Waren. Die allgemeine Verunsicherung lässt hier den kommerziellen Kredit der Kapitalisten untereinander aufhören. Um zahlen zu können, müssen sie Geld borgen, daher hohe Nachfrage nach Geldkapital bei Überfluss an Warenkapital, und hoher Zinsfuß.
Wir können an dieser Stelle zur Gelddruckerei der Zentralbank zurückkommen und ein erstes Ergebnis festhalten. Wenn die Zentralbank Geld ausgibt, so vergrößert sie damit nicht die Masse des Geldes als Zirkulationsmittel, sondern die Masse des Geldes als Leihkapital. Das ausgegebene Geld wird nicht von der Zirkulation aufgesogen, sondern geht erstmal an die Banken, von wo es verliehen werden soll. Damit ist zugleich klar, dass die Ausgabe neuen Geldes überhaupt keine Wirkung auf die Masse der Zirkulationsmittel hat, denn „[d]ie Masse des Leihkapitals ist übrigens durchaus verschieden von der Quantität der Zirkulation.“ (MEW 25, S. 515)13
Es kommt weder zur sofortigen Geldentwertung, noch bildet sich eine Blase wertlosen Geldes o.Ä. Derartige Vorstellungen bleiben schlussendlich beim Bd. I des „Kapitals“ und der abstrakten Betrachtung der einfachen Warenproduktion stehen, und nehmen die offensichtliche Wertlosigkeit der Papierzettel zum willkommenen Anlass, auf die Currency Theorie zurückzufallen. Wie gezeigt, ist es aber gerade nicht so, dass das von der Zentralbank ausgegebene Geld vollständig zirkuliert, und gerade dadurch kommt es nicht zur Entwertung.14
Das Paradoxe an der heutigen Ausgabe von „billigem Geld“, von Leihkapital durch die Zentralbank ist nun, dass sie bei einem bereits bestehenden Überangebot an Leihkapital erfolgt, welches sich durch allgemein niedrigen Zinsfuß anzeigt. Dass ein Überangebot an Leihkapital den Zinsfuß senkt, macht sich gegenüber der Zentralbank (und jedem anderen Leihkapitalgeber) dadurch geltend, dass sie den marktgängigen Zinsfuß unterbieten muss, will sie nicht auf ihrem Geld sitzen bleiben – was bei einem bereits bestehenden extrem hohen Überangebot an Leihkapital zur paradoxen Situation von Negativzinsen führt. Dies ist eine neuartige Situation auch deshalb, weil der eigentliche Zeitpunkt für eine Notenausgabe durch die Zentralbank der Zeitpunkt der Krise, namentlich der Geldklemme und Geldpanik (übergroße Nachfrage nach Geld als Zahlungsmittel, daher gewaltiger Zinsfuß) war, wo die Bank durch Ausgabe neuer Noten die Geldklemme zu lindern und die Panik zu brechen versuchte.15 Dies soll nun umgekehrt erfolgen: durch die Gelddruckerei der EZB soll keine Geldklemme beseitigt werden, sondern die industrielle Reproduktion selbst soll angekurbelt, d.h. ausgedehnt, werden.16
Bevor wir nun der Frage nachgehen können, ob diese Rechnung aufgeht, welche Folgen die Geldschwemme auf die industrielle Reproduktion hat und ob diese dadurch erweitert werden kann („Wirtschaftswachstum“), müssen wir uns fragen, woher die offensichtliche gegenwärtige Schranke dieser Reproduktion überhaupt rührt, und durch welche Mittel sie prinzipiell überwindbar ist.
Das industrielle oder „wirkliche“ Kapital unterscheidet sich vom zinstragenden Kapital dadurch, dass seine Bewegung zugleich Produktion von Waren ist; nicht nur G-G’, sondern G-W-G’. Mit dem vorgeschossenen Geld (das geborgt sein kann) werden Produktionsmittel und Arbeitskraft gekauft, die in der Produktion von neuen Waren vernutzt werden. Diese Waren werden anschließend verkauft, wodurch zugleich der in ihnen vorhandene Wert und Mehrwert realisiert wird, als vermehrtes Geld zurück in die Tasche des Kapitalisten fließt.
Betrachten wir das Gesamtkapital, die Summe aller einzelnen im Land bzw. global vorhandenen einzelnen Kapitale, so vollzieht es genau diesen Kreislauf der Produktion von Waren, der Realisation und der Reinvestition. Was nun hindert das Gesamtkapital, den Umfang, die Stufenleiter dieses Kreislaufs weiter auszudehnen? Warum zirkuliert auf diese Weise ein Gesamtkapital von sage 100 Billionen, aber nicht von 120, nicht von 200 Billionen? Schließlich ist das Wachstum immanentes Gesetz der kapitalistischen Produktion; wodurch wird diese Ausdehnung begrenzt? Die Beantwortung dieser Frage ist entscheidend für die Krisentheorie – und für die Bewertung der Gelddruckerei der Zentralbank.
Die Ausdehnbarkeit des industriellen Kapitals ist natürlich stofflich und wertmäßig begrenzt durch die in einem Land bereits vorhandene Masse an Kapital bzw. dessen stofflichen Elementen (durch die Masse an Rohstoffen, Maschinen usw.), ebenso durch die vorhandene Arbeiterbevölkerung. Schon diese scheinbar fixen stofflichen und wertmäßigen Grenzen sind aber höchst elastisch:
„Indem das Kapital sich die beiden Urbildner des Reichtums, Arbeitskraft und Erde, einverleibt, erwirbt es eine Expansionskraft, die ihm erlaubt, die Elemente seiner Akkumulation auszudehnen jenseits der scheinbar durch seine eigne Größe gesteckten Grenzen, gesteckt durch den Wert und die Masse der bereits produzierten Produktionsmittel, in denen es sein Dasein hat.“ (MEW 23, S. 630f)
Diese von der eigenen absoluten Größe unabhängige Expansionskraft des Kapitals steigert sich mit dem Fortschritt der kapitalistischen Produktion, allen voran mit dem Fortschritt von Produktivkraft der Arbeit, Transport, Kommunikation, aber auch der Freisetzung der Bevölkerung und nicht zuletzt der Entwicklung des Kreditwesens. Überhaupt wäre ein solcher Mangel an tatsächlichem, produktiven Kapital höchst untypisch:
„Von wirklichem Mangel an produktivem Kapital, wenigstens bei kapitalistisch entwickelten Nationen, kann nur gesprochen werden bei allgemeinen Mißernten, sei es der Hauptnahrungsmittel, sei es der hauptsächlichsten industriellen Rohstoffe.“ (MEW 25, S. 501)
Dies gilt umso mehr heute, wo ein Überfluss an allen Ingredienzen der Produktion vorhanden ist. Die für eine beliebige, neu zu eröffnende Produktion vorzuschießende Wert- bzw. Geldsumme ist als Leihkapital im Überfluss vorhanden. Die stofflichen Bestandteile des Kapitals (Rohstoffe, Maschinen, Gebäude usw.), in welche sich die vorgeschossene Geldsumme umsetzen muss, sind ebenso in Überzahl vorhanden bzw. in kurzer Zeit produzierbar. Schlussendlich ist überschüssige Arbeiterbevölkerung vorhanden. Einer Ausdehnung der Produktion steht von Seiten des Produktionsprozesses, abstrakt für sich betrachtet, nichts im Wege.
Mit dem Produktionsakt ist die Bewegung des Kapitals nicht abgeschlossen. Die produzierte Ware muss verkauft werden, muss auf ein gesellschaftliches Bedürfnis und eine zahlungskräftige Nachfrage treffen, muss den Schlussakt W’-G’ vollziehen und in die Konsumtion wandern. Nur dann kann der in der Ware steckende Wert und Mehrwert realisiert werden:
„Nun kommt der zweite Akt des Prozesses. Die gesamte Warenmasse, das Gesamtprodukt, sowohl der Teil, der das konstante und variable Kapital ersetzt, wie der Teil, der den Mehrwert darstellt, muss verkauft werden. Geschieht das nicht oder nur zum Teil oder nur zu Preisen, die unter den Produktionspreisen stehen, so ist der Arbeiter zwar ausgebeutet, aber seine Ausbeutung realisiert sich nicht als solche für den Kapitalisten. Das kann mit gar keiner oder nur teilweiser Realisation des abgepressten Mehrwerts, ja mit teilweisem oder ganzem Verlust seines Kapitals verbunden sein.“ (MEW 25, S. 254)
Bei der Betrachtung der Bewegung des einzelnen Kapitals in der Form G-W-G’ wurde stets unterstellt, dass der Verkauf der produzierten Ware erfolgreich stattfand, der gesamte Wert realisiert wurde. Wer diese Ware kauft, woher diese dritte Person das Geld hat, wofür sie diese Ware benötigt usw. – das alles spielte hier keine Rolle, und liegt überhaupt außerhalb des Horizonts des/der einzelnen KapitalistIn. Wir können hierbei aber nicht stehen bleiben, denn offensichtlich ist das Gelingen des Kaufs und Verkaufs selbst an bestimmte gesamtgesellschaftliche Voraussetzungen gebunden, über die Gesamtheit der einzelnen KapitalistInnen keine Kontrolle hat, die sie aber zu spüren bekommen namentlich in der Krise, wenn alle Verkäufe plötzlich ins Stocken geraten. Wenn wir untersuchen wollen, welche Grenzen die kapitalistische Reproduktion hat, warum sie scheinbar über einen gewissen Punkt hinaus nicht ausdehnbar ist, so müssen wir diese notwendige Äquivalenz von Produktion und Konsumtion auf Basis der kapitalistischen Produktionsweise weiter untersuchen.
Die Frage, wer die produzierten Waren kauft, führt uns zu den Reproduktionsschemata der kapitalistischen Gesellschaft im Kapital Bd. II. Dort zeigt Marx, wie und unter welchen Bedingungen alle innerhalb des kapitalistischen Gesellschaft produzierten Waren ihre Käufer innerhalb ebendieser kapitalistischen Gesellschaft finden. Die stoffliche und wertmäßige Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft muss sich in einen Austausch, eine Zirkulation der Waren innerhalb ihrer selbst auflösen. Dieser Austausch, die Verkettung aller Produktions- und Konsumtionsakte muss für die Gesamtgesellschaft aufgehen. Nachfrage und Zufuhr müssen sich für den normalen Gang der kapitalistischen Reproduktion ausgleichen, und diese Betrachtung des Gesamtkapitals, d.h. der Summe aller Einzelkapitale, stellt einen entscheidenden Fortschritt der Marxschen Theorie dar. Wenn Marx im Kapital Bd. II den Begriff des Gesamtkapitals einführt, so schreibt er:
„Daß das gesellschaftliche Kapital Summe der individuellen Kapitale […], und daß die Gesamtbewegung des gesellschaftlichen Kapitals = der algebraischen Summe der Bewegungen der individuellen Kapitale ist, schließt in keiner Weise aus, daß diese Bewegung als Bewegung des vereinzelten individuellen Kapitals andre Phänomene darbietet, als dieselbe Bewegung, wenn sie unter dem Gesichtspunkt eines Teils der Gesamtbewegung des gesellschaftlichen Kapitals, also in ihrem Zusammenhang mit den Bewegungen seiner andren Teile betrachtet wird, und daß sie zugleich Probleme löst, deren Lösung bei der Betrachtung des Kreislaufs eines einzelnen individuellen Kapitals vorausgesetzt werden muß, statt sich daraus zu ergeben.“ (MEW 24, S. 101)
Die Untersuchung des Gesamtkapitals, sofern sie neue Gesichtspunkte hereinbringen soll, kann nicht nach der Formel G-W-G’ erfolgen, denn in dieser Form ist der Verkauf als gelungen unterstellt, die Verkettung und Äquivalenz von Produktions- und Konsumtionsakten, von Zufuhr und Nachfrage gerade ausgelöscht. Das Gesamtkapital ist in dieser Form nur als abstraktes Einzelkapital vorgestellt. Um dagegen die notwendigen Bedingungen für den gelingenden Kauf und Verkauf zu untersuchen, ist die Reproduktion des Gesamtkapitals nicht als Kreislauf des Geldkapitals (G-G’), sondern als Kreislauf des Warenkapitals (W’-W’) zu betrachten: die Kapitalisten betreten den Markt mit ihrem Warenprodukt (W’), das bereits Ergebnis des Produktionsakts ist. Es wird verkauft (G’) und für das erhaltene Geld werden neue Arbeitskräfte und Produktionsmittel gekauft (produktives Kapital P’), womit ein neuer Produktionsakt stattfindet, an dessen Ende eine neue Ware W’ steht:
In Figur W´… W´ erscheint die Bewegung des Warenkapitals, d.h. des kapitalistisch produzierten Gesamtprodukts, sowohl als Voraussetzung des selbständigen Kreislaufs des individuellen Kapitals, wie ihrerseits durch denselben bedingt. Wird diese Figur daher in ihrer Eigentümlichkeit aufgefaßt, so genügt es nicht mehr, sich dabei zu beruhigen, daß die Metamorphosen W´- G´ und G – W einerseits funktionell bestimmte Abschnitte in der Metamorphose des Kapitals sind, andrerseits Glieder der allgemeinen Warenzirkulation. Es wird notwendig, die Verschlingungen der Metamorphosen eines individuellen Kapitals mit denen andrer individuellen Kapitale und mit dem für den individuellen Konsum bestimmten Teil des Gesamtprodukts klarzulegen.“ (MEW 24, S. 102)
Diesen Kreislauf des Warenkapitals, diese „Totalbewegung des industriellen Kapitals“17, müssen wir nun betrachten, um zu erfahren, welche notwendigen Voraussetzungen in seinem Aufgehen eingeschlossen sind, und welche Grenzen seine Ausdehnung daher hat. Wer kauft die produzierten Waren W’ und warum?
Der Kauf und Verkauf aller produzierten Waren innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft stellt sich in der allgemeinsten Form dar als der Austausch zweier Abteilungen, in welche die kapitalistische Produktion zerfällt: Abteilung I produziert Produktionsmitteln, Abteilung II produziert Konsumtions- oder Lebensmitteln.18 Letztere gliedert sich nochmal auf in die Produktion von Konsumtionsmitteln für den produktiven Teil der Arbeiterklasse, der vom Kapital exploitiert wird (Abteilung IIa), und in die Produktion von Konsumtionsmitteln für die Kapitalistenklasse (Luxuskonsum, Abteilung IIb). In Abteilung IIb gehört auch die Produktion von Konsumtionsmitteln für alle anderen unproduktiven Klassen: für die Staatsbeamten, für die Soldaten, aber auch für die Arbeitslosen, sofern sie staatliche Sozialhilfe erhalten. Schlussendlich ist hier auch alle sonstige, weder der Herstellung von Produktionsmitteln noch der Versorgung der Arbeiterklasse dienende Produktion, z.B. von Kriegsmaterial usw., enthalten.
Beide Abteilungen vollziehen für sich die Bewegung W’-W’, wobei sie einen Teil der produzierten Waren (Produktions- bzw. Lebensmittel) untereinander austauschen: I produziert Produktionsmittel (konstantes Kapital) für Abteilungen I und II, II produziert Lebensmittel für die in I und II exploitierten ArbeiterInnen (nebst KapitalistInnen etc.) Die ArbeiterInnen tauschen ihren Arbeitslohn gegen diese Lebensmittel, wobei sie ihren Arbeitslohn von den KapitalistInnen erhalten, die ihn als variables Kapital v vorschießen. Abteilung II produziert also die Lebensmittel, in die sich das vorgeschossene variable Kapital in beiden Abteilungen umsetzt, liefert ein Äquivalent für v.19
Wie bereits ersichtlich, werden die Produkte dieser Abteilungen auf verschiedene Art und Weise bzw. von verschiedenen Klassen konsumiert. Die Konsumtion gliedert sich daher ebenso in Konsumtion von Produktionsmitteln (produktive Konsumtion), und Konsumtion von Konsumtions- und Lebensmitteln für den individuellen Verzehr (individuelle Konsumtion), welche nochmal zerfällt in die Konsumtion durch die fungierende Arbeiterklasse und in die unproduktive Konsumtion durch die sonstigen Klassen. Es ist klar, dass die Ausdehnung der kapitalistischen Produktion eine ebensolche Ausdehnung der kapitalistischen Konsumtion voraussetzt. Wir müssen daher untersuchen, inwieweit die Konsumtion in den drei genannten Abteilungen beschränkt ist.
Die produktive Konsumtion (Konsumtion der Produkte von Abteilung I) verzehrt die Waren im Prozess der Herstellung neuer Waren. Die konsumierten Waren dienen hier selbst als Produktionsmittel, fungieren als konstantes Kapital. Eine Ausdehnung der produktiven Konsumtion ist somit nichts anderes als eine Ausdehnung der Produktion selbst.
Die von Abteilung I produzierten Produktionsmittel werden sowohl in Abteilung I (Produktions von neuen Produktionsmitteln) als auch in Abteilung II (Produktion von Konsumtionsmitteln) vernutzt. Die Nachfrage nach zusätzlichen Produktionsmitteln in Abteilung II ist selbst beschränkt dadurch, dass dadurch natürlich mehr Konsumtions- und Lebensmittel produziert werden, die wiederum KäuferInnen finden müssen (dazu gleich mehr). Ein Teil des von Abteilung I produzierten konstanten Kapitals geht aber erneut in Abteilung I ein, denn die Produktion von Produktionsmitteln (Maschinen, Rohstoffe usw.) benötigt selbst Produktionsmittel (Maschinen, Rohstoffe usw.). Neben dem Austausch zwischen beiden Abteilungen findet eine beständige Zirkulation des konstanten Kapitals, der Produktionsmittel, in Abteilung I statt. Wie verhält es sich nun mit dieser Vernutzung von Produktionsmitteln für die Produktion neuer Produktionsmittel: ist diese nicht beliebig ausdehnbar, so dass eine grenzenlose Ausdehnung von Produktion und Konsumtion in Abteilung I z.B. auf die Weise möglich ist, dass die einen Kapitalisten Rohstoffe produzieren, aus denen andere Kapitalisten Maschinen herstellen, die sie wieder vollständig an die Rohstoffproduzenten verkaufen, damit diese neue Rohstoffe fördern usw.? – Aber dieser offensichtlich sinnlose Kreislauf geht nicht auf. An irgendeinem Punkt muss eine Ware entstehen, die nicht mehr neues Produktionsmittel ist, sondern aus dem Kreislauf herausfällt und in die individuelle Konsumtion übergeht. Die produktive Konsumtion ist daher nicht beliebig ausdehnbar, sondern bleibt von der individuellen Konsumtion abhängig, wie Marx schreibt:
„Außerdem findet, wie wir gesehn haben (Buch II, Abschn. III), eine beständige Zirkulation statt zwischen konstantem Kapital und konstantem Kapital (auch abgesehn von der beschleunigten Akkumulation), die insofern zunächst unabhängig ist von der individuellen Konsumtion, als sie nie in dieselbe eingeht, die aber doch durch sie definitiv begrenzt ist, indem die Produktion von konstantem Kapital nie seiner selbst wegen stattfindet, sondern nur, weil mehr davon gebraucht wird in den Produktionssphären, deren Produkte in die individuelle Konsumtion eingehn. Dies kann jedoch eine Zeitlang ruhig seinen Weg gehn, durch die prospektive Nachfrage gereizt, und in diesen Zweigen geht das Geschäft bei Kaufleuten und Industriellen daher sehr flott voran. Die Krise tritt ein, sobald die Rückflüsse der Kaufleute, die fernab verkaufen (oder deren Vorräte auch im Inlande sich gehäuft haben), so langsam und spärlich werden, daß die Banken auf Zahlung dringen oder die Wechsel gegen die gekauften Waren verfallen, ehe Wiederverkauf stattgefunden. Dann beginnen Zwangsverkäufe, Verkäufe, um zu zahlen. Und damit ist der Krach da, der der scheinbaren Prosperität auf einmal ein Ende macht.“ (MEW 25, S. 316f)
Eine Steigerung der Konsumtion von Produktionsmitteln ist somit selbst nur Folge einer allgemeinen Ausdehnung der Produktion und bedingt somit stets eine gesteigerte indivdiuelle Konsumtion. Auch die bei Fortschritt der Produktivkraft der Arbeit wachsende Masse an konstantem Kapital, also die relativ steigende Konsumtion von Produktionsmitteln, bleibt gebunden an eine ebenso steigende Konsumtion der hergestellten Lebensmittel etc.: die Einführung neuer Maschinen findet nur dann statt, wenn die Warenmasse stärker wächst als die Summe des vernutzten konstanten und variablen Kapitals, d.h., wenn der Wert der Einzelware dabei sinkt. Man kann es drehen und wenden wie man will, die Produktion von Produktionsmitteln kann aus sich heraus nicht wachsen, ohne dass die Konsumtion in Abteilung II wächst. Welche Schranken existieren also für die individuelle Konsumtion durch Arbeiter- und Kapitalistenklasse (IIa und IIb)?
Der Umfang der Konsumtion der Arbeiterklasse (IIa) ist begrenzt durch die Höhe des Lohns der ArbeiterInnen. Dieser Lohn ist bestimmt durch die Summe der Preise aller zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Lebensmittel, worunter neben Nahrungsmitteln, Kleidung, Wohnung usw. auch Ausgaben für eine mehr oder weniger standesgemäße soziale Teilhabe eingeschlossen sind. Der Umfang der Konsumtion der Arbeiterklasse ist daher stofflich bestimmt. Wie immer Wert und Preis der notwendigen Lebensmittel wechseln mögen, so wechselt auch der Arbeitslohn:
„Der Wert der Arbeitskraft löst sich auf in den Wert einer bestimmten Summe von Lebensmitteln. Er wechselt daher auch mit dem Wert dieser Lebensmittel, d.h. der Größe der zu ihrer Produktion erheischten Arbeitszeit.“ (MEW 23, S. 186)
Der Fortschritt der Produktivkraft der Arbeit senkt nun beständig den Wert dieser Lebensmittel, da sich die Arbeitszeit für ihre Herstellung verringert. Aufgrund des gesunkenen Werts der notwendigen Lebensmittel sinkt auch der Lohn der ArbeiterInnen, der nur die Geldform dieser Lebensmittel darstellt. Die ArbeiterInnen können sich ja auch mit geringerem Lohn weiterhin dieselben notwendigen Lebensmittel kaufen, da ihr Wert und daher ihr Preis gefallen ist. Aber ihr Konsum erhöht sich nicht, nur weil der Wert der Lebensmittel fällt: Arbeiterin und Arbeiter müssen nicht drei Brote essen statt einem, nur weil die notwendige Arbeitszeit je Brot auf ein Drittel gesunken ist. Sie brauchen weiterhin nur ein Brot, erhalten daher auch nur ein Drittel ihres früheren Lohnes gezahlt. Dies ist unabhängig vom Willen der einzelnen KapitalistInnen und wird ihnen durch die Konkurrenz aufgezwungen.
In einer rational eingerichteten Gesellschaft würde mit der verringerten notwendigen Arbeitszeit zur Herstellung der Lebensmittel auch die jedem Individuum abverlangte Arbeitszeit sinken (sofern man hier überhaupt noch von „Arbeitszeit“ im kapitalistischen Sinne sprechen kann). Jede solche Reduktion der Arbeitszeit würde sich im Kapitalismus aber als Verringerung des täglich produzierten Werts – dessen Substanz die verausgabte Arbeit ist – niederschlagen, und in einer noch stärkeren Verringerung des Mehrwerts, welche Quelle allen Profits, aller Dividenden, Renten, Staatshaushalte usw. ist. Dies passiert also nicht, stattdessen bleibt der Arbeitstag unter kapitalistischen Bedingungen unverändert (z.B. 8 h) auch bei gesteigerter Produktivität. Der unverändert bleibende Arbeitstag führt bei gestiegener Produktivität aber dazu, dass von der Gesamtgesellschaft beständig mehr Waren produziert werden. Da der von den Arbeitern konsumierte Anteil am stofflichen gesellschaftlichen Gesamtprodukt absolut konstant bleibt, sinkt er relativ im Vergleich zum gesteigerten Produktenausstoß. Oder, dasselbe Resultat in Wertkategorien ausgedrückt: der von der Gesellschaft produzierte Gesamtwert bleibt konstant, da die verausgabte Arbeitsmasse konstant bleibt. Zugleich sinkt der von der Arbeiterklasse konsumierte Wertteil in dem Maße, wie der Wert der konsumierten Lebensmittel sinkt. Der Konsum der Arbeiterklasse stellt damit einen beständig schrumpfenden Teil des Gesamtkonsums dar, und wenn dieser Schrumpfungsprozess nicht kompensiert wird, wird diese absolute und relative Konsumtionsbeschränkung der Arbeiterklasse selbst ein Hemmnis für die weitere Ausdehnung der Produktion. Immer größerer stofflicher Ausstoß bei unveränderter Konsumtion – dies ist ein Widerspruch, der nicht nur zur Krise führen muss, sondern der nach Marx der „letzte Grund aller wirklichen Krisen“ ist:
„Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde.“ (MEW 25, S. 501)
Die Frage drängt sich nun auf: kann nicht auch die Konsumtion der Produkte von Abteilung IIb, d.h. die Konsumtion durch KapitalistInnen, Beamte, Arbeitslose und den Staat im Allgemeinen wachsen? Natürlich kann (und tut) sie das, aber niemals im gleichen Verhältnis wie die stoffliche Produktion wächst. Denn diese dritte Art der Konsumtion ist eine unproduktive. Während die Konsumtion der Waren als Produktionsmittel oder als Lebensmittel der Arbeiterklasse notwendiger Bestandteil des Reproduktionsprozess selbst ist (der Produktionsmittel und ArbeiterInnen braucht), ist diese dritte Form der Konsumtion nicht notwendig und stellt immer einen Abzug vom Mehrwert dar, also eine Verringerung der Akkumulation und der Fähigkeit des Kapitals, sich auszudehnen. Die Ausdehnung der produktiven Konsumtion und der Konsumtion der Arbeiterklasse folgen direkt aus der Ausdehnung der kapitalistischen Produktion selbst; die Ausdehnung des unproduktiven Konsums dagegen vermehrt nur den Ballast der kapitalistischen Produktion, und ist nicht zuletzt ein Nachteil in der internationalen Konkurrenz der Staaten. Darüber hinaus ist auch die Konsumtion des Staates und seiner Beamten wie auch die der Arbeitslosen in ihrem Umfang stofflich bestimmt; bei sinkendem Wert der dafür notwendigen Waren sinkt der Anteil dieser Konsumtion am gesellschaftlichen Gesamtprodukt. Für den Luxuskonsum der Kapitalistenklasse gilt dies zwar nur bedingt; die Verprassung wächst natürlich mit den ihr zur Verfügung stehenden Geldsummen, aber auch nicht schneller als der produzierte Profit, was notwendig wäre, um die relative Schrumpfung der Konsumtion durch die ArbeiterInnen zu kompensieren. Die Behauptung einer solchen Möglichkeit vergisst überhaupt den spezifisch kapitalistischen Charakter der Produktion:
„Wird endlich gesagt, daß die Kapitalisten ja selbst nur unter sich ihre Waren auszutauschen und aufzuessen haben, so wird der ganze Charakter der kapitalistischen Produktion vergessen und vergessen, daß es sich um die Verwertung des Kapitals handelt, nicht um seinen Verzehr.“ (MEW 25, S. 267f)
Damit sind wir zu einem entscheidenden Resultat gelangt. Wir waren ausgegangen von der Frage, warum die Produktion scheinbar nicht über ein gewisses historisches Maß ausdehnbar ist, warum also das „Wirtschaftswachstum“ stockt. Die Betrachtung der Produktion und ihrer Bedingungen lieferte das Ergebnis, dass es offenbar keine Begrenzung der Produktion selbst war. Alle Ingredienzen der Produktion sind heute gerade im Überfluss vorhanden. Das produzierte Warenprodukt muss aber innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft auch verkauft werden, eine zahlungskräftige Nachfrage finden. Wir wandten uns also den Marxschen Reproduktionsschemata zu, um zu untersuchen, wie sich die Nachfrage nach Waren im kapitalistischen Gesamtkreislauf bestimmt. Dabei unterscheidet Marx zwei Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion und Konsumtion, die jede für sich den Kreislauf W’-W’ vollziehen: Abteilung I produzierte Produktionsmittel, Abteilung II Konsumtionsmittel. Wie sich zeigte, war die Konsumtion von Produktionsmitteln (der Produkte von Abteilung I) schlussendlich limitiert durch die gesellschaftliche Nachfrage und Konsumtion von Konsumtions- und Lebensmitteln (der Produkte von Abteilung II). Diese Nachfrage nach Lebensmitteln aber ist in der kapitalistischen Gesellschaft notwendig begrenzt, da jede Ausdehnung der Konsumtion eine Erhöhung des Arbeitslohns fordern würde, welche aber auf den Mehrwert drückt, und daher in der Konkurrenz weder von einem einzelnen Kapital, noch von einem einzelnen Staat durchsetzbar ist. Die unproduktive Konsumtion durch den Staat und die KapitalistInnen etc. ist hierbei kein Ersatz.
Die Dynamik der kapitalistischen Gesellschaft stößt also notwendig an die Schranken ihrer eigenen Konsumtionsfähigkeit. Der tiefere Grund dafür ist der Widerspruch zwischen Stoff und (Wert-) Form: da Wert und Mehrwert, und damit der in Geld ausgedrückte Profit, allein abhängig sind von der verausgabten Arbeitszeit, bleiben sie bei Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit konstant, sofern dieselbe Anzahl Arbeitskräfte über dieselbe Arbeitszeit vernutzt wird. Eine Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit und somit des stofflichen Ausstoßes ändert die produzierte Wertmasse nicht, diese verteilt sich lediglich auf mehr Waren, so dass der Wert jeder Einzelware sinkt. Die Konsumtion aber ist stofflich bestimmt, und wird sich nie in gleichem Maße ausdehnen. Sie sinkt daher absolut dem Wert nach. Dieser Widerspruch zwischen stofflich maßlos wachsender Produktion und stofflich beschränkter Konsumtion stellt sich zugleich dar als Widerspruch zwischen einer scheinbar und tatsächlich beliebig ausdehnbaren Wertproduktion, und einer nicht gelingen wollenden Realisation:
„Die ungeheure Produktivkraft, im Verhältnis der Bevölkerung, die innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise sich entwickelt und, wenn auch nicht im selben Verhältnis, das Wachsen der Kapitalwerte (nicht nur ihres materiellen Substrats), die viel rascher wachsen als die Bevölkerung, widerspricht der, relativ zum wachsenden Reichtum, immer schmaler werdenden Basis, für die diese ungeheure Produktivkraft wirkt, und den Verwertungsverhältnissen dieses schwellenden Kapitals. Daher die Krisen.“ (MEW 25, S. 277)20
Es handelt sich bei diesen Krisen nicht um Fehlplanungen, sondern um einen inneren Widerspruch der Produktionsweise selbst. Natürlich ist die Überproduktion, als Produktion von Waren weit über die durch den Arbeitslohn beschränkten Konsumtionsmöglichkeiten der Gesellschaft eine Fehlplanung. Zugleich aber war die Produktion für alle Beteiligten bis kurz vor dem Zusammenbruch immer höchst profitabel und konnte durch Kreditoperationen munter weitergehen, während die realen Bedürfnisse der Konsumtion schon lange überschritten waren. Die schrankenlose Ausdehnung der Produktion war vom kapitalistischen Standpunkt der Profitvergrößerung daher höchst „korrekt“, sinnvoll und notwendig – bis plötzlich der Krach da ist.
Ein wesentliches Charakteristikum der Überproduktionskrisen ist das Nebeneinander eines Überflusses an Kapital (d.h., an Produktions- und Konsumtionsmitteln) und eines Überflusses an Bevölkerung: während aufgrund der gesteigerten Produktivität ein immer kleinerer Teil der Arbeiterklasse in der Lage ist, die gesamte Gesellschaft zu ernähren, ist der restliche Teil zur Arbeitslosigkeit und zu einem Konsum am Existenzminimum verdammt. Diese Situation ist für den Alltagsverstand schwer begreifbar: denn wenn hier Kapital brachliegt und dort Arbeit brachliegt – was läge da näher, als beide zusammenzubringen? –
„Es ist auf dieser widerspruchsvollen Basis durchaus kein Widerspruch, daß Übermaß von Kapital verbunden ist mit wachsendem Übermaß von Bevölkerung; denn obgleich, beide zusammengebracht, die Masse des produzierten Mehrwerts sich steigern würde, steigert sich eben damit der Widerspruch zwischen den Bedingungen, worin dieser Mehrwert produziert, und den Bedingungen, worin er realisiert wird.“ (MEW 25, S. 255)
Wenn nur abstrakt die Produktion von Wert und Mehrwert betrachtet wird, ist diese Situation schlichtweg unerklärlich. Denn selbst wenn der Fortschritt der Produktivkraft der Arbeit den Wert der einzelnen Ware senkt, so könnte durch entsprechende Erhöhung der ausgestoßenen Warenmasse die Produktion von Wert und Mehrwert aufrecht erhalten werden. Es ist erst die direkte und indirekte stoffliche Beschränkung der Konsumtion, die zur Krise führt.
Die Märkte sind bereits gesättigt (ablesbar an geringen Auslastungen der Großbetriebe, aber auch an fallenden Warenpreisen, die die Überproduktion anzeigen). Um nun z.B. 1 Mio. ArbeiterInnen in Arbeit zu stellen, wäre eine gewisse Kapitalsumme als Geld notwendig. Diese aufzutreiben ist nicht das Problem – sie ist als Leihkapital vorhanden, oder durch staatliche Kredite schöpfbar. Die ArbeiterInnen sind da, ebenso wären die Produktionsmittel (Gebäude, Maschinen, Rohstoffe usw., in welche das Geld umgesetzt werden muss) und die Lebensmittel für diese ArbeiterInnen vorhanden oder rasch hergestellt. Aber die 1 Mio. ArbeiterInnen würden nun bei der gegebenen Produktivität Waren produzieren, für deren Konsumtion es nicht bloß 1 Mio., sondern 2, 3 oder eher 10 Mio. ArbeiterInnen braucht. Nun gibt es in jeder Krise tatsächlich viele Millionen Menschen, die am Existenzminimum vegetieren, von staatlicher Hilfe oder den herunterfallenden Brocken der kapitalistischen Mühlen leben und die ein dringendes Bedürfnis nach diesen Waren hätten. Aber hier liegt das Problem: diese Herausgefallenen stellen keine kaufkräftige Nachfrage dar, denn sie haben kein Geld für die Bezahlung dieser Waren. Um an das Geld zu kommen, müssten sie selbst arbeiten, in die Produktion integriert werden, würden damit aber noch mehr Waren produzieren, für die es nun weitere KonsumentInnen bräuchte, diesmal 4, 9, oder 100 Mio.
Die Gleichung geht nie auf, die Reproduktion bleibt beschränkt und findet ihr tatsächliches Gleichgewicht an dem Punkt, wo ein Teil der Arbeiterklasse bis zum Umfallen schuftet, während der andere Teil von staatlichen Almosen lebt, und damit dazu beiträgt, einen Teil des Mehrprodukts unproduktiv zu verzehren. Jede Erweiterung der Produktion muss an dieser Äquivalenz von Angebot und zahlungskräftiger Nachfrage scheitern.
Dass die Produktion nicht um weitere ArbeiterInnen ausdehnbar ist, bedeutet auf der anderen Seite, dass das in der Produktion angewandte Kapital nicht erweiterbar ist. Ein Gutteil des gesellschaftlichen Kapitals ist dazu gezwungen, in der Form von Geldkapital – d.h., als Leihkapital – zu verharren, auf seinen Abruf und seinen Einsatz wartend. Die Folge dieses Überflusses an Leihkapital ist – wie oben dargestellt – ein niedriger Zinsfuß. Diese Unmöglichkeit, das angewandte Kapital auszudehnen, drückt eine Überakkumulation von Kapital aus: jedes zusätzliche, produktiv angewandte Kapital würde das Überangebot an Waren vergrößern, müsste seine Waren unter ihrem Wert losschlagen oder würde darauf sitzen bleiben. Die Vergrößerung des angewandten Kapitals würde somit keinen zusätzlichen Profit erzeugen. In Marx’ Worten:
„Es wäre eine absolute Überproduktion von Kapital vorhanden, sobald das zusätzliche Kapital für den Zweck der kapitalistischen Produktion = 0. Der Zweck der kapitalistischen Produktion ist aber Verwertung des Kapitals, d.h. Aneignung von Mehrarbeit, Produktion von Mehrwert, von Profit. Sobald also das Kapital gewachsen wäre in einem Verhältnis zur Arbeiterbevölkerung, daß weder die absolute Arbeitszeit, die diese Bevölkerung liefert, ausgedehnt, noch die relative Mehrarbeitszeit erweitert werden könnte […]; wo also das gewachsene Kapital nur ebensoviel oder selbst weniger Mehrwertsmasse produziert als vor seinem Wachstum, so fände eine absolute Überproduktion von Kapital statt; d.h., das gewachsene Kapital C + Delta C produzierte nicht mehr Profit, oder gar weniger Profit, als das Kapital C vor seiner Vermehrung durch Delta C.“ (MEW 25, S. 261f)
Was sich gegenüber der Gesamtheit der KapitalistInnen in der Überproduktionskrise geltend macht, ist das Wertgesetz selbst: es wurden absolut zu viel Hemden, Kochtöpfe usw. produziert, so dass, obwohl auf jede einzelne Ware nur das gesellschaftlich notwendige Quantum Arbeit verausgabt worden sein mag, die Gesamtmasse überflüssige Arbeit enthält:
„Gesetzt endlich, jedes auf dem Markt vorhandne Stück Leinwand enthalte nur gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Trotzdem kann die Gesamtsumme dieser Stücke überflüssig verausgabte Arbeitszeit enthalten. Vermag der Marktmagen das Gesamtquantum Leinwand, zum Normalpreis von 2 sh. per Elle, nicht zu absorbieren, so beweist das, daß ein zu großer Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeitszeit in der Form der Leinweberei verausgabt wurde. Die Wirkung ist dieselbe, als hätte jeder einzelne Leinweber mehr als die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit auf sein individuelles Produkt verwandt. Hier heißt’s: Mitgefangen, mitgehangen.“ (MEW 23, S. 121f)
Hieraus erklärt sich schlussendlich auch die Deflation, die keinesfalls Zeichen eines Mangels an Geld oder Kapital ist, sondern Ausdruck der Überproduktion selbst. Was als Steigen des Geldwerts erscheint, ist in Wirklichkeit ein Fall der Warenpreise:
„So drückt sich in der Krisenphase des industriellen Zyklus der allgemeine Fall der Warenpreise als Steigen des relativen Geldwerts, und in der Prosperitätsphase das allgemeine Steigen der Warenpreise als Fall des relativen Geldwerts aus.“ (MEW 23, S. 648)
Die Grenzen der kapitalistischen Produktion sind also nicht durch einen Mangel an Kapital – Geldkapital oder stofflichem Kapital – oder gar Arbeiterbevölkerung gegeben, sondern durch die Äquivalenz von Produktion und Konsumtion, die auf Basis der kapitalistischen Produktionsweise notwendig in Widerspruch geraten müssen.
Die von Marx im Kapital Bd. III dargestellten Krisen (1827, 1836, 1847, 1857) sind allesamt Überproduktionskrisen, hervorgebracht durch die schnellere Ausdehnung der Produktion gegenüber dem nur langsamen Wachstum der Konsumtion.21 Die erste Folge war immer eine vermehrte Verschiffung der Waren nach Übersee, die Ausdehnung des Weltmarkts, wodurch die Ausdehnung der Produktion weiter befeuert wurde, bis auch die indischen, chinesischen usw. Märkte von englischen Waren gesättigt und schließlich überfüllt waren. Es kam zum Krach, zur Stilllegung und Entwertung eines Teils des Kapitals, immer verbunden mit massiver Verelendung der Arbeiterklasse und sozialen Unruhen. Anschließend begann das Kapital einen neuen Zyklus: nach dem Zusammenbruch dehnte sich die Produktion wieder aus, erst langsam und stockend, dann immer schneller, bis das Maximum des letzten Zyklus überwunden war, schritt fort zur erneuten Überproduktion und zum nächsten Krach.
Wir müssen uns nun die Frage stellen: warum konnte der Kapitalismus die Überproduktionskrisen bisher immer überwinden? Warum zeigte sich stets, dass die Produktion über das Maximum des letzten Zyklus hinaus noch ausdehnungsfähig war? – Die Antwort ist: dadurch, dass sich der Kapitalismus selbst noch ausdehnte. Das Wachstum der kapitalistischen Produktion läuft immer ohne Rücksicht auf Ausdehnung oder Schrumpfung des äußeren und inneren Marktes ab, wurde aber immer zum Teil kompensiert durch die historische Ausdehnung des Weltmarktes und die sich auch im Inneren der Länder vollziehende Umwandlung aller nicht-kapitalistischen Produktion in Warenproduktion, also eine absolute Ausdehnung der gesellschaftlichen Konsumtion, sowohl nach außen als nach innen. Während sich diese Ausdehnung der Konsumtion aber langsam und linear vollzog, strebt die kapitalistische Produktion zum exponentiellen Wachstum, und musste dieses langsame Wachstum ihrer Konsumtionsbasis beständig überholen, um schließlich durch den Krach gewaltsam auf sie zurückgesetzt zu werden.
Die Krisenzyklen stellen dabei aber einen fortschreitenden Prozess dar, der sich auf immer größerer Stufenleiter entlädt. Denn auch wenn es periodisch zur Krise kommt, so ist der nächste Zyklus kein Neustart bei Null, sondern ein Neustart auf höherem Niveau: der Fortschritt der Produktivkräfte wird nicht zurückgedreht, die Produktivität bleibt erhalten und wird in jeder Krise nochmal immens vorangetrieben. Gegenüber dem unablässig wachsenden stofflichen Ausstoß verkleinert sich die selbst kaum wachsende Konsumtionsbasis im Lauf jedes Zyklus relativ. Es kommt notwendig der Wendepunkt, wo die absolute Ausdehnung der Konsumtionsbasis nicht mehr ausreicht, um ihre relative Schrumpfung infolge der Produktivkraftentwicklung zu kompensieren.
Kommen wir zurück zur aktuellen Situation. Wo stehen wir heute? – Wir befinden uns gerade inmitten einer verschleppten Überproduktionskrise. Diese setzte bereits vor dem Krach von 2008/2009 an; durch Verschuldung der ArbeiterInnen – insbesondere in den USA – wurde die Konsumtion der Arbeiterklasse eine zeitlang künstlich aufrecht erhalten oder gar erweitert, wodurch die Produktion auf einem hohen Niveau fortgesetzt bzw. weiter gesteigert werden konnte. 2009 wäre eigentlich die Bereinigung dieser massiven Überkapazitäten fällig gewesen: eine Bankrottwelle, Massenentlassungen, Verelendungen und sozialer Tumult, größer noch als zur Wirtschaftskrise 1929. Das wurde verhindert, durch Staatskredite und direkten, staatsfinanzierten Konsum (in Deutschland z.B. durch die Abwrackprämie), welche die Produktion weiter aufrecht erhielten auf einem Niveau, für das der Kapitalismus eigentlich keine Nachfrage mehr generieren kann.
Der anstehende Krach wurde und wird zu Recht gefürchtet, denn auch wenn er den Beginn eines neuen Zyklus ankündigen würde, wäre das historisch neue, dass dieser Zyklus nur auf stark verminderter Stufenleiter stattfinden könnte. Der Krach würde zwar alle Überkapazitäten zeitweilig beseitigen, aber die bestehende Produktivität nicht zurückschrauben, welche vielmehr auch während der Krise weiter erhöht wurde. Der nächste Zyklus würde auf einer stark verkleinerten Konsumtionsbasis beginnen, nicht nur weil die Löhne nach der Krise dramatisch gesunken wären, sondern vor allem, weil aufgrund der erhöhten Produktivität ein noch kleinerer Teil der Arbeiterklasse in der Lage sein wird, die gesamte kapitalistische Menschheit zu versorgen, der Rest der Arbeiterklasse also „überflüssig“ und arbeitslos bleibt, zur Konsumtion daher kaum beiträgt. Dabei sind die historischen Kompensationsmechanismen ausgelaufen: im Gegensatz zu den vorherigen Zyklen ist die Ausdehnung des Weltmarkts praktisch beendet; weder warten neue Erdteile, noch die ehemaligen Ostblockstaaten darauf, mit Waren zugeschüttet zu werden. Der Widerspruch zwischen unbeschränkter stofflicher Produktion und stets notwendig beschränkter Konsumtion muss umkippen von einer Welle aufsteigender Zyklen in eine Abwärtsspirale. Das Gleichgewicht zwischen Konsumtion und Produktion würde sich bei fortgesetzt steigender Produktivität und Abwesenheit einer absoluten Ausdehnung der Konsumtion notwendig auf immer niedrigeren Stufen einstellen, da immer weniger ArbeiterInnen in der Lage sind, den arbeitslosen Rest nebst KapitalistInnen und Staat zu versorgen. Der historische Punkt, an dem wir stehen, ist dieser Umschlag von krisenbehafteter, wellenförmiger Aufwärtsbewegung zur wellenförmigen Abwärtsbewegung. Was heute erreicht ist, ist der Zusammenfall von zyklischer Krise und „wahrer Schranke des Kapitals“:
„Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind. Die Schranken, in denen sich die Erhaltung und Verwertung des Kapitalwerts, die auf der Enteignung und Verarmung der großen Masse der Produzenten beruht, allein bewegen kann, diese Schranken treten daher beständig in Widerspruch mit den Produktionsmethoden, die das Kapital zu seinem Zweck anwenden muß und die auf unbeschränkte Vermehrung der Produktion, auf die Produktion als Selbstzweck, auf unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit lossteuern. Das Mittel – unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte – gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandnen Kapitals. Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen.“ (MEW 25, S. 260)
Der hier skizzierte weitere Verlauf als Welle von Abwärtszyklen ist allerdings unwahrscheinlich. Die kreditfinanzierte Fortsetzung er Produktion über den tatsächlichen Bedarf hinaus war zwar Moment jeder historischen Krise, aber der seit den 1970er Jahren mit staatlicher Hilfe betriebene Ausbau des Kreditsektors stellt alle historischen Vorläufer in den Schatten. Der Schlag, den die abrupte Entwertung verursachen wird, wird heute gegenüber der Weltwirtschaftskrise 1929 wesentlich stärker sein und eine wesentlich größere Entwertung und Brachlegung von Kapital, wie eine wesentlich größere Freisetzung von Bevölkerung zur Folge haben. Es ist daher absehbar, dass sich der Niedergang des Kapitalismus nicht in friedlichen Etappen vollzieht, bis der/die letzte ArbeiterIn den Hungertod stirbt, sondern eher in einen umfassenden Krieg und Bürgerkrieg münden wird.
Darin, dass bei der bestehenden Überproduktion eine absolute Ausdehnung der Produktion ausgeschlossen ist, zeigt sich das Dilemma der EZB: denn das Geld, das die Wirtschaft wachsen machen und eine Deflation verhindern soll, wird von den KapitalistInnen nicht gebraucht. Geldkapital ist bereits im Überfluss vorhanden. Wie bezüglich des Zirkulationsmittels gezeigt, ist es auch nicht die bloße Ausgabe von Währung, die diese entwertet, und daher zu einer Inflation führen würde, sondern eine Inflation wäre selbst Ausdruck einer gestiegenen Nachfrage nach Waren, also einer allgemein wachsenden Produktion und Konsumtion.
Was passiert also tatsächlich, wenn die EZB die Masse des Leihkapital und das Überangebot desselben vermehrt?
Da bereits ein Überfluss an Leihkapital besteht, wird ein Großteil des neu gedruckten Geldes nicht weitergereicht; denn auch das zusätzliche Geld ändert nichts an den mangelnden Profitabilitätsaussichten der Unternehmen. Das zusätzliche Leihkapital der EZB drückt damit auf den Zinsfuß:
„Eine weitere Hoffnung ist, dass die Banken mehr Kredite vergeben, weil sie aufgrund der großen Liquidität kaum noch wissen, wohin mit ihren flüssigen Mitteln.“ (Handelsblatt, 23.01.2015) „Allerdings ist nicht zu erkennen, warum Europas Banken mehr Kredite an Unternehmen vergeben sollten, nur weil die Notenbank ihnen Staatsanleihen aus den Büchern nimmt.“ (Handelsblatt 23.01.2015) „Eigentlich hatte die EZB aber darauf gesetzt, dass die Kreditinstitute Staatsanleihen in großem Stil an sie verkaufen, und die frei werdenden Bilanzkapazitäten für die Vergabe von mehr Krediten nutzen werden.“ (Handelsblatt, 26.01.2015)
Die Niedrigzinsen lassen die Preise von Wertpapieren, Aktien, Immobilien, allgemein allen fiktiven Kapitals steigen. Der fiktive Preis von Wertpapieren, Immobilien und Aktien richtet sich nicht nach ihrem Wert (sofern sie überhaupt einen haben, d.h. überhaupt vergangene Arbeit repräsentieren). Ihr scheinbarer Wert entspringt einer fiktiven Hochrechnung aus dem Zinsfuß: ein Wertpapier, das jährlich 1.000 € abwirft, entspricht bei einem allgemeinen Zinsfuß von 5 % einer Kapitalsumme von 20.000 € – denn 20.000 € würden bei 5 % Zinsfuß genau 1.000 € abwerfen. Sinkt der Zinsfuß nun auf 1 %, so steigt der „Wert“ dieser Dividende auf 100.000 € – denn beim gesunkenen Zinsfuß würde erst ein solches Kapital die 1.000 € abwerfen.22
„Dennoch bezweifeln Volkswirte, dass Draghis Strategie aufgeht. Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, warnte vor Blasenbildung an den Märkten. ‘Die Maßnahmen ändern wenig am schwachen Wachstum und an der niedrigen Inflation. Sie treiben aber die Vermögenspreise.’“ (Handelsblatt 23.01.2015) „Außerdem dürfte die Geldschwemme die Kurse von Anleihen und Aktien weiter nach oben treiben, was Unternehmen mit Zugang zum Kapitalmarkt nutzt.“ (Handelsblatt 26.01.2015)
Inzwischen wurde auch entdeckt, wem die neuen EZB-Mittel vor allem dienen:
„Der neudeutsch Quantitative Easing (QE) genannte Erwerb von Staatsanleihen hat Vermögenswerte angetrieben und dadurch die Depots der ohnehin schon Reichen weiter aufgebläht. Die USA sind ein gutes Beispiel. Dort hat sich die Schere zwischen Arm und Reich in den vergangenen fünf Jahren mit zunehmendem Tempo geöffnet – nicht zuletzt wegen des als “Portfolio-Effekt” bekannten Anheizens der Aktienkurse durch QE. Noch kausaler jedoch waren die Befunde aus Großbritannien und Japan. Dort haben Studien ergeben, dass durch Liquiditätsschwemme die Aktienkurse angetrieben wurden und die Ungleichheit verstärkt wurde. In Großbritannien war es sogar die Bank of England selbst, die das Phänomen auf Geheiß des Parlaments untersuchte. Ihr Fazit: Das Kursfeuerwerk kam vor allem den obersten fünf Prozent der Bevölkerung zugute, da diese 40 Prozent der privaten Vermögenswerte besitzen.“ (Handelsblatt, 27.01.2015)
Es ist klar, dass hiermit allein der Luxuskonsum angekurbelt wird.
Da der Zins, den die fungierenden Kapitalisten zahlen müssen, einen Abzug von ihrem Profit darstellt, vergrößert sich bei verkleinertem Zinssatz der verbleibende Teil des Profits (der Unternehmergewinn). Die niedrige Profitrate aufgrund der Überproduktion (Verkauf unter dem Warenwert) wird dadurch zum Teil ausgeglichen, die Rentabilität der fungierenden Kapitale wird künstlich aufrecht erhalten:
„Ob BMW, VW, Toyota oder General Electric: Unternehmen, die sich am Anleihemarkt in Euro verschulden, zahlen Anlegern nur noch wenig Zinsen. Die vier Konzerne haben in diesem Jahr neue Anleihen mit jährlichen Zinskupons von unter einem Prozent begeben (siehe Tabelle). Und sie dürften nicht die Einzigen bleiben.“ (Handelsblatt, 26.01.2015)
Durch den geringen Zinsfuß sinken auch die vom Staat für neu ausgegebene Schuldverschreibungen aufzubringende Zinsen. Die Folge ist eine Verringerung der Steuern, d.h., der zur Finanzierung des Staates notwendige Abzug vom gesellschaftlichen Mehrwert wird kleiner oder steigt wenigstens nicht im gleichen Maße wie die steigenden Staatsausgaben. Auch dies erhöht die Unternehmergewinne:
„Nach dem EZB-Beschluss sanken die Renditen aller [staatlichen] Anleihen“ (Handelsblatt, 23.01.2015).
Durch die sinkenden Zinsen sinken zugleich die laufenden, nicht-spekulativen Einnahmen der Banken, was allerdings z.T. kompensiert wird durch die steigenden Aktien- und Wertpapierpreise:
„ „Das Programm bedeutet sehr niedrige Zinsen, und eine reale Zerstörung der Nettozinsmarge, was natürlich eine enorme Herausforderung ist“, räumt Anshu Jain, der Co-Chef der Deutschen Bank, ein.“ (Handelsblatt 26.01.2015)
Die Niedrigzinsen führen zu einer Abwertung des Wechselkurses, aber nicht aufgrund einer Entwertung des Geldes (der Wert des Euro bleibt konstant, die in Euro ausgedrückten Warenpreise bleiben unverändert).23 Ursache für diese Veränderung des Wechselkurses ist die verringerte Nachfrage nach Euro auf den internationalen Geldmärkten, da mit Anlagen in Euro, allgemein im Euroraum, nur geringe Zinsen zu machen sind:
„Mit dem angekündigten Kauf von Staatsanleihen will die Europäische Zentralbank (EZB) nun die Inflation indirekt auf das gewünschte Niveau hochdrücken. Und das soll so funktionieren: Zunächst werden die Maßnahmen das Zinsniveau in Europa noch weiter drücken. Ergo wird Kapital ins Ausland fließen, wo die Zinsen höher sind, wodurch der Euro-Kurs weiter fällt. Dadurch werden Importwaren in Europa teurer – und die Inflation könnte steigen.“ (Handelsblatt, 23.01.2015)
Die geringen Zinsen führen natürlich auch zu vermehrten Investitionen seitens der Unternehmen. Aufgrund der gesättigten Märkte und des hohen Konkurrenzdrucks werden diese Investitionen aber in Sachkapital stattfinden (modernisierte Maschinen). D.h., mittelfristig führt die EZB-Politik zur Beschleunigung der Produktivkraftentwicklung und damit zur Verschärfung der Überproduktion.
Schlussendlich ist die Folge der Niedrigzinsen auch die Ausdehnung von Spekulation und Kreditschwindel. Spekulation, als Anlage von Geld in höchst riskante Geschäfte, wird stets befördert durch ein Überangebot an Leihkapital. Der Kreditschwindel – das Aufnehmen von Krediten, nicht um das Geld als Kapital zu investieren, sondern um es zu verbrauchen, um laufende Kosten eines ansonsten unrentablen Betriebs zu decken, oder um die Zinsen alter Kredite zu zahlen – ist ebenso absehbar.
In einem Wort: die Ausgabe neuer Banknoten und die Versorgung der Geschäftswelt mit Leihkapital ändert natürlich nichts am Zustand der Überproduktion. Der grundlegende Widerspruch zwischen kapitalistischer Produktion und kapitalistischer Konsumtionsbasis wird gewissermaßen überspielt, aber durch Maßnahmen, die ihn nur weiter zuspitzen. Der fällige Krach kann dadurch nicht vermieden werden:
„Das ganze künstliche System gewaltsamer Ausdehnung des Reproduktionsprozesses kann natürlich nicht dadurch kuriert werden, daß nun etwa eine Bank, z.B. die Bank von England, in ihrem Papier allen Schwindlern das fehlende Kapital gibt und die sämtlichen entwerteten Waren zu ihren alten Nominalwerten kauft.“ (MEW 25, S. 507)
Angesichts der Überproduktionskrise haben sich zwei entgegengesetzte politische Programme herausgebildet: zum einen die Austeritätspolitik, als massive Verbilligung der Arbeitskräfte mit dem Ziel, durch Exportüberschüsse die Krisenfolgen – Brachlegung und Entwertung – den anderen, konkurrierenden Staaten aufzuhalsen. Es liegt nach der bisherigen Darstellung auf der Hand, dass diese aktuelle, insbesondere von Deutschland getriebene Sparpolitik am Krisenzustand nichts ändert, diesen vielmehr verschärft: durch die drastischen Kürzungsprogramme hat sich die Profitabilität der deutschen Kapitale zwar kurzzeitig erhöht, gleichzeitig bricht aber die Binnenkonsumtion weg. Dies wird zur Zeit noch temporär ausgeglichen durch den massiven Export der billigeren deutschen Waren, welche den Weltmarkt überschwemmen und so den nationalen Kapitalen anderswo den Markt weg nehmen. Die Krise fördert auch hier die Ungleichheiten der Kapitale und der nationalen Standorte. Das Resultat mag nun kurzzeitig als „Aufschwung“ in Deutschland erscheinen (gleichwohl dieser angesichts der winzigen „Wachstumsraten“ lächerlich ist), ist aber nichts anderes als eine Ungleichverteilung der Folgen der Überproduktion. Dieser gefeierte „0,2 %-Aufschwung“ muss spätestens dann zusammenbrechen, wenn die ausländischen Märkte überfüllt sind oder selbst zahlungsunfähig werden.
In der Opposition gegen diese „neoliberale“ Spar- und Austeritätspolitik, und in der Erkenntnis der eklatanten Widersprüche derselben, scheint die linke Antwort nun in einer Wiederbelebung der „keynesianistischen“ Wirtschaftspolitik zu liegen24. Diese fordert, anstatt weiterer Sparmaßnahmen, eine Stärkung der Binnennachfrage zum Anheizen der Wirtschaft. Die durch verschiedenste staatliche Mittel (Erhöhung er Löhne, der Staatsausgaben, Steuersenkungen, Subventionen usw.) angestoßene Nachfrage, so diese Ansicht, soll sich schlussendlich in einen selbsttragenden Aufschwung verwandeln. Verwiesen wird hierbei meist auf die erfolgreiche Lösung der Weltwirtschaftskrise 1929 und den Nachkriegsaufschwung in Deutschland und Europa, welche tatsächlich einen breiten Einsatz keynesianistischer Maßnahmen zeigten.
Vergessen werden hierbei allerdings eine wichtige historische Voraussetzung für die Wirksamkeit dieser Wirtschaftspolitik. Sie funktioniert nämlich nur in einer bestimmten Situation, und zwar in der Phase nach dem Krach (und funktionierte historisch auch nur nach der Weltwirtschaftskrise 1929-32 und nach der massiven Zerstörung von produktivem Kapital durch den zweiten Weltkrieg). In dieser Phase, wo die kapitalistische Produktion zwar am Boden liegt, sich aber langsam und zaghaft wieder ausdehnt, können staatliche Hilfen zusätzliche Nachfrage generieren, andererseits durch Modernisierung der Infrastruktur die stofflichen Voraussetzungen für den beginnenden Zyklus schaffen, und die Folgen der am Boden liegenden Wirtschaft für die Bevölkerung auch abmildern. Die anstehende Expansion der kapitalistischen Produktion kann durch die billige Kreditvergabe beschleunigt werden.
Es ist aber andererseits nicht begründbar, aus der Anwendung dieser Wirtschaftspolitik in der heutigen Situation nicht nach dem Krach, sondern davor, also während der akuten Überproduktion, einen „Aufschwung“ zu erwarten. Die aktuelle Depression ist nicht die langsame Erholung kurz nach dem Krach, sondern Folge des künstlich aufgeschobenen Krachs und Entwertungsschocks.
Welche Folgen hätten keynesianische Eingriffe (und die Gelddruckerei der EZB ist darunter zu rechnen) daher heute? – Zuallererst viel geringere, als sich die Propheten des Keynesianismus ausmalen. Egal, ob man die Löhne erhöht oder Arbeitslose für öffentliche Tätigkeiten zahlt, und dadurch ihre Konsumtion über das absolute Elendsniveau hebt, die Wirkung auf die Produktion wird ungleich geringer ausfallen. Grund dafür ist die hohe Produktivität, die in dem oben bereits beschriebenen umgekehrten „Hebeleffekt“ resultiert: 10 Mio. vom Staat mit Lohn versehene ProletarierInnen würden Waren konsumieren, zu deren Produktion vielleicht 1 Mio. ArbeiterInnen ausreichen. Aus einer solchen künstlichen Erweiterung der gesellschaftlichen Konsumtionsbasis folgt keinerlei selbsttragende Ausdehnung der kapitalistischen Reproduktion. Sobald die staatliche Lohnzahlung wegfällt, sinkt der Zustand aufs alte Niveau zurück. Diese notwendige Unterscheidung zwischen den beiden Krisenphasen drückt auch Marx klar aus:
„Es ist eine reine Tautologie zu sagen, daß die Krisen aus Mangel an zahlungsfähiger Konsumtion oder an zahlungsfähigen Konsumenten hervorgehn. […] Will man aber dieser Tautologie einen Schein tiefrer Begründung dadurch geben, daß man sagt, die Arbeiterklasse erhalte einen zu geringen Teil ihres eignen Produkts, und dem Übelstand werde mithin abgeholfen, sobald sie größern Anteil davon empfängt, ihr Arbeitslohn folglich wächst, so ist nur zu bemerken, daß die Krisen jedesmal gerade vorbereitet werden durch eine Periode, worin der Arbeitslohn allgemein steigt und die Arbeiterklasse realiter größern Anteil an dem für Konsumtion bestimmten Teil des jährlichen Produkts erhält. Jene Periode müßte – von dem Gesichtspunkt dieser Ritter vom gesunden und “einfachen” (!) Menschenverstand – umgekehrt die Krise entfernen. Es scheint also, daß die kapitalistische Produktion vom guten oder bösen Willen unabhängige Bedingungen einschließt, die jene relative Prosperität der Arbeiterklasse nur momentan zulassen, und zwar immer nur als Sturmvogel einer Krise.“ (MEW 24, S. 409f)
Die Steigerung der Löhne ist Begleiterscheinung der Zuspitzung der Überproduktion, solange es noch nicht zur Krise kommt. Es ist daher falsch, in den niedrigen Löhnen die Ursache und nicht die Wirkung der Krise zu sehen.
Damit aber ist klar: der Keynesianismus ist nicht mehr als eine ökonomische Ideologie, die den bestehenden Zustand niemals aufheben kann (und will), sondern ihn bestenfalls verlängert, damit er über seine eigenen Schranken hinaus „profitabel“ bleiben soll. Es ist eine künstliche Aufrechterhaltung nicht nur der Überproduktion, sondern allgemein des Zustands der Massenarmut bei gleichzeitigem absoluten Überfluss an Produktions- und Lebensmitteln; eine Fortsetzung von staatlicher Gängelung, imperialistischem Verteilungskrieg, des Ausschlusses der Massen von den Produktionsmitteln, und allgemein der Vernutzung aller natürlichen Ressourcen des Planeten für den Zweck der Profitmacherei. Ganz zu schweigen von den Grundlagen dieses „schönen Systems“ im patriarchalen Geschlechterverhältnis und der rassistischen Ausgrenzung. In dem Moment, wo diese Gesellschaft an ihre immanenten Schranken stößt, wollen ihre „linken“ FreundInnen sie nun mit staatlicher Hilfe noch weitervollziehen lassen – auf dass der Schock weiter aufgeschoben wird, bis er wirklich gewaltig wird, und vom Planeten Erde und seinen BewohnerInnen wohl kaum noch was übrig sein dürfte. Wie oben gezeigt, führt diese Aufschiebung gerade zur Verschärfung der Widersprüche, die sie selbst für keinen Moment still stellen kann.
Von daher steht heute ein unbedingter radikaler Bruch mit dem Keynesianismus in allen seinen Varianten an – egal ob deutsche Linkspartei oder griechische Syriza. Diese Parteien mögen für eine kurze Weile eine Milderung der staatlichen Repression liefern, verfolgen aber ein grundlegend falsches Ziel: nämlich die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems, das ihrer Ideologie nach nur etwas mehr staatliche Wirtschaftshilfe braucht. Die traurige Realität der „linksalternativen“ Wirtschaftsprogramme dieser neuen kapitalistischen Eliten und ExpertInnen wird ein Zustand der fortgesetzten Massenverarmung und schlussendlich auch politischer Repression sein. Selbst für den Fall, dass der ausstehende Krach tatsächlich mit Hilfe keynesianischer Gelddruckerei, welche gegen die stetig weiter schrumpfende reale Konsumtionsbasis ankämpfen müsste, verzögert werden könnte, steht für die Menschheit hiermit nur die schleichend fortschreitende Verelendung an, gegen die die griechischen Zustände von 2015 bald als rosige Vergangenheit erscheinen dürften. Schon die bloße Fortsetzung des bestehenden Null-Wachstums bedeutet für den Kapitalismus eine notwendige Beschränkung der Reproduktion und damit eine Verelendung der Massen. Die radikale Linke sollte unter diesen Umständen nicht falsche Hoffnungen in die x-te Wiederauflage des Parlamentarismus setzen, sondern die verbleibende Zeit nutzen, um ihre eigene Basis zu erweitern – durch verstärkte öffentliche Denunziation der staatlichen Propaganda, und überhaupt durch verstärkte öffentliche Präsenz.
Bevor ich einen kurzen Ausblick wagen werde, möchte ich die theoretischen Ergebnisse kurz zusammenfassen. Der bisherige Durchgang sollte zeigen, dass die von Marx im Bd. III getroffene Unterscheidung von Zirkulationsmittel, Leihkapital (zinstragendem Kapital) und wirklichem Kapital notwendig ist, um die aktuelle Krisensituation und die wirtschaftlichen Maßnahmen seitens der EZB zu begreifen. Insbesondere ist die vulgäre Vorstellung, dass durch Ausgabe zusätzlichen Geldes der Geldwert direkt sinken müsste, m.E. falsch. Was die EZB ausgibt, ist nicht Zirkulationsmittel, sondern zusätzliches Leihkapital, wodurch die eigentliche Überproduktion aber nicht aufgelöst, sondern fortgesetzt und mittelfristig sogar weiter zugespitzt wird. Diese Klärung des Verhältnisses von wirklichem Kapital, Leihkapital und Zirkulationsmittel ist Voraussetzung für jede rationelle Krisentheorie, die damit auch die vielfältigen Mythen übers sogenannte Finanzkapital und dessen scheinbar aus sich selbst heraus gelingender Profitproduktion zerstäuben muss.
Jede kapitalistische Krise muss sich als Überproduktion äußern – als Nebeneinander von überflüssigen Waren und überflüssigem Kapital auf der einen Seite, überflüssiger Bevölkerung auf der anderen. Dieser paradoxen Situation zugrunde liegt der grundlegende Widerspruch in der kapitalistischen Entwicklung, nämlich der Widerspruch zwischen Stoff und Form – zwischen der stofflich beschränkten Konsumtion der Arbeiterklasse unter kapitalistischen Bedingungen, und dem Verwertungsziel der kapitalistischen Produktion, welches eine beständige Ausdehnung der Produktion bedingt. Hieran tritt die Armut und die historische Begrenztheit dieser Produktionsweise selbst zutage:
„Wird gesagt, daß die Überproduktion nur relativ, so ist dies ganz richtig; aber die ganze kapitalistische Produktionsweise ist eben nur eine relative Produktionsweise, deren Schranken nicht absolut, aber für sie, auf ihrer Basis, absolut sind. Wie könnte es sonst an Nachfrage für dieselben Waren fehlen, deren die Masse des Volks ermangelt, und wie wäre es möglich, diese Nachfrage im Ausland suchen zu müssen, auf fernern Märkten, um den Arbeitern zu Hause das Durchschnittsmaß der notwendigen Lebensmittel zahlen zu können? Weil nur in diesem spezifischen, kapitalistischen Zusammenhang das überschüssige Produkt eine Form erhält, worin sein Inhaber es nur dann der Konsumtion zur Verfügung stellen kann, sobald es sich für ihn in Kapital rückverwandelt. […]
Es werden nicht zuviel Lebensmittel produziert im Verhältnis zur vorhandnen Bevölkerung. Umgekehrt. Es werden zuwenig produziert, um der Masse der Bevölkerung anständig und menschlich zu genügen.
Es werden nicht zuviel Produktionsmittel produziert, um den arbeitsfähigen Teil der Bevölkerung zu beschäftigen. Umgekehrt. Es wird erstens ein zu großer Teil der Bevölkerung produziert, der tatsächlich nicht arbeitsfähig, der durch seine Umstände auf Ausbeutung der Arbeit andrer angewiesen ist oder auf Arbeiten, die nur innerhalb einer miserablen Produktionsweise als solche gelten können. Es werden zweitens nicht genug Produktionsmittel produziert, damit die ganze arbeitsfähige Bevölkerung unter den produktivsten Umständen arbeite, also ihre absolute Arbeitszeit verkürzt würde durch die Masse und Effektivität des während der Arbeitszeit angewandten konstanten Kapitals.“ (MEW 25, S. 267f)
Dabei zeigt sich auch, dass eine Krisentheorie unbedingt die Konsumtionsbeschränkung der Massen, überhaupt die notwendige Äquivalenz von Produktion und Konsumtionsbasis innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zum Ausgangspunkt nehmen muss. Dabei laufen angesichts des fortgeschrittenen Stadiums des Widerspruchs und der heutigen akuten Überproduktion alle keynesianistischen staatlichen Versuche, die Nachfrage anzukurbeln, ins Leere. Wenn 1 Mio. ArbeiterInnen die Konsumtionsmittel für 2, 3, oder 10 Mio. herstellen, so ist es angesichts der bestehenden Überproduktion eine notwendige Bedingung für ihre „Beschäftigung“, dass sie zugleich weitere 2, 3 oder 10 Mio. zahlungskräftige KonsumentInnen mitbringen – welche aber das Geld nur hätten, wenn sie selbst in der Produktion exploitiert würden, selbst Waren herstellen würden, wozu weitaus mehr neue KonsumentInnen notwendig wären usw. Hierin zeigt sich wesentlich das Dilemma des Keynesianismus, dass er zwar zum Anschieben der kapitalistischen Reproduktion nach der Krise taugt, aber keinesfalls dazu, den notwendigen und heute überfälligen Krach zu verhindern.
Wenn in Finanzkreisen die Geldschöpfung der EZB als „weapon of last resort“ bezeichnet wird, ist das ungenügend. Die kapitalistische Wirtschaft steht nicht vor irgendeiner Entscheidungsschlacht, die mit Sieg oder Niederlage enden könnte, sondern sitzt auf einer immer steiler werdenden Abwärtsrutsche und versucht ihren Fall mit immer stärkeren Mitteln zu bremsen. Tatsächlich handelt es sich bei der Schöpfung von Leihkapital eher um eine Droge: die Senkung des Zinsfußes erhöht die Profitabilität jeder Produktion künstlich und ist gewissermaßen eine permanente „30 % auf alles”-Aktion im Kreditgeschäft. Das Problem: die Zinsen müssen so niedrig sein, weil die Profite so niedrig sind. Stiegen die Zinsen, würden sie die Profite auffressen, es würde zur sofortigen massiven Entwertung von Kapital kommen und der ganze Laden würde kippen. Das Mittel der Zentralbank ist also das letzte Mittel zur kurzzeitigen Aufrechterhaltung des Status Quo, welches aber, wie oben bemerkt, mittelfristig die Überproduktion gerade noch verstärken wird. Eine Aussicht auf ein „Kick-Starten” der Wirtschaft ist dagegen nicht absehbar.
Wenn die bürgerlichen „WirtschaftsexpertInnen“ die Gelddruckerei als „geldpolitische Atomwaffe“ und die EZB-Maßnahmen gar als „Endspiel um den Euro“ (Handelsblatt) betiteln, sind sie sich offenbar unbewusst der Brenzligkeit der Lage bewusst:
„Aber genau wegen dieser Vertrauensprobleme sei der EZB gar nichts anderes übrig geblieben, als ihr billionenschweres Anleihekaufprogramm auf den Weg zu bringen, meint ein Ex-Notenbanker: “Was würde denn passieren, wenn eine Zentralbank sagen würde, wir können zwar unser Mandat nicht mehr erfüllen, aber wir wissen nicht mehr, was wir noch tun sollen?”“ (Handelsblatt, 26.01.2015)
Die kapitalistische Profitproduktion wird von dieser Droge nicht mehr runterkommen. Das projektierte Ende der Niedrigzinspolitik der EZB im September 2016 würde unweigerlich den Krach nach sich ziehen. Gleichwohl ist es auch nicht unwahrscheinlich, dass dieser Krach bereits in den nächsten 1,5 Jahren einsetzt, denn ungeachtet aller keynesianischen Maßnahmen rüttelt die Überproduktion weiter fort, frisst sich durch die einzelnen Kapitale durch, lässt mal hier einen Großbetrieb, mal dort einen Nationalstaat über die Klinge springen. Auch wenn die Folgen der Krise zwischen den Staaten und Kapitalen ungleich verteilt sein mögen (ebenso zwischen den Geschlechtern), bricht die Konsumtionsbasis schlussendlich für alle weg.
Es wird viele LeserInnen verwundert haben, dass ich auf die marxistische Literatur der letzten 150 Jahre zu Krisen- und Geldtheorie mit keinem Wort eingegangen bin. Das hat den Grund, dass ein kritischer Durchgang durch diese (mehrere 10.000 Seiten umfassende) Literatur nicht nur den Rahmen dieses Textes gesprengt hätte, sondern auch zu schreiben unmöglich gewesen wäre. ich habe es daher vorgezogen, in einem ersten Schritt eine Rekapitulation und Systematisierung der Marxschen Theorie des Leihkapitals und der Marxschen Krisentheorie aus Bd. III zu versuchen, und darauf aufbauend eine Anwendung dieser Theorie auf unsere heutige Situation als theoretisches Grundgerüst darzustellen. In anschließenden Texten bleibt das sich daraus ergebende theoretische Gebäude zu prüfen an einer Auseinandersetzung mit den bisherigen marxistischen Theorien. Natürlich wird es dabei auch nicht zu vermeiden sein, einige Punkte des vorliegenden Textes zu präzisieren oder zu korrigieren.
Literatur
MEW 23: Karl Marx: Das Kapital, Band I. Der Produktionsprozess des Kapitals.
MEW 24: Karl Marx: Das Kapital, Band II. Der Zirkulationsprozess des Kapitals.
MEW 25: Karl Marx: Das Kapital, Band III. Der Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion.
1Handelsblatt, 23.01.2015
2Der Unterschied zwischen industriellem Kapital (welches die Waren produziert) und Kaufmannskapital (welches die Waren vom industriellen Kapitalisten kauft und an Zwischenhändler oder die KonsumentInnen weiterverkauft, dafür einen Teil des Mehrwerts erhält) spielt in der Gegenüberstellung beider zum leihbaren Geldkapital keine Rolle. Zur Vereinfachung werde ich daher im Folgenden vom Kaufmannskapital absehen. Zum Kaufmannskapital siehe MEW 25, S. 278-326.
3Auf empirisches Material zur Widerlegung der „Currency Theorie“ verweist Marx in „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ (MEW 13, S. 159)
4Hinweise auf empirisches Material dazu bei Marx in MEW 25, S. 565.
5Engels führt bei Herausgabe des Bd. III als Beispiel für eine solche reine Zirkulationswährung das in Russland zirkulierende Staatspapiergeld an (MEW 25, S. 539).
6MEW 23, S. 109ff
7MEW 13, S. 95
8Die Frage nach dem Charakter des heutigen Geldes ist mit diesen Ausführungen noch nicht abschließend geklärt. Insbesondere bleiben die Fragen, wie sich der Wert des Geldes nach Wegfall der Goldbindung bestimmt und wie die großen Geldentwertungen des 20. Jahrhunderts zu erklären sind. U.U. kippt das Geld von der Banknote zum Staatspapiergeld immer dann, es nicht mehr nur in der Form des Kredits geschöpft wird, sondern direkt vom Staat gedruckt und für dessen Konsumtion ausgegeben wird. Dies bleibe anhand von empirischem Material zu untersuchen.
9Darüber hinaus erhalten die Banken gegen Einlagerung von Sicherheiten Geld von der Zentralbank. Wo genau das Leihkapital herkommt, ist an dieser Stelle ohne Bedeutung.
10Diese Bestimmung scheint der sonstigen Marxschen Theorie zuwider zu laufen, welche von Angebot und Nachfrage zumeist abstrahiert, um die Marktpreise den Produktionspreisen gleichzusetzen. Die Bestimmung des Zinsfußes aus den Marktverhältnissen ist also nicht selbstverständlich, sondern muss selbst aus der Natur des Zinses begründet werden: „Fragt man nun weiter, warum die Grenzen des mittlern Zinsfußes nicht aus allgemeinen Gesetzen abzuleiten sind, so liegt die Antwort einfach in der Natur des Zinses. Er ist bloß ein Teil des Durchschnittsprofits. Dasselbe Kapital erscheint in doppelter Bestimmung, als leihbares Kapital in der Hand des Verleihers, als industrielles oder kommerzielles Kapital in den Händen des fungierenden Kapitalisten. Aber es fungiert nur einmal und produziert selbst den Profit nur einmal. Im Produktionsprozeß selbst spielt der Charakter des Kapitals als verleihbares keine Rolle. Wie sich die beiden Personen darin teilen, die Ansprüche auf diesen Profit haben, ist an und für sich eine ebenso rein empirische, dem Reich des Zufälligen angehörige Tatsache wie die Teilung der Prozentanteile des gemeinschaftlichen Profits eines Kompaniegeschäfts unter die verschiednen Teilhaber. Bei der Teilung zwischen Mehrwert und Arbeitslohn, worauf die Bestimmung der Profitrate wesentlich beruht, wirken zwei ganz verschiedne Elemente, Arbeitskraft und Kapital, bestimmend ein; es sind Funktionen zweier unabhängigen Variablen, die sich gegenseitig Grenzen setzen; und aus ihrem qualitativen Unterschied geht die quantitative Teilung des produzierten Werts hervor. […] Bei dem Zins findet nichts Derartiges statt. Hier geht die qualitative Unterscheidung, wie wir gleich sehn werden, umgekehrt aus der rein quantitativen Teilung desselben Stücks des Mehrwerts hervor.“ (MEW 25, S. 376f)
11Dies bekannt als das „Umschlagen aus dem Kreditsystem in das Monetarsystem“ (MEW 23, S. 152).
12Ähnlich: MEW 25, S. 511f. In den von Marx zitierten Quellen bewegt sich der Zinsfuß im industriellen Zyklus zwischen 1,75 und 6 % (MEW 25, S. 566), erhöht sich während der akuten Krise und Geldknappheit bis auf 8,5 % (MEW 25, S. 544).
13Auch umgekehrt hat die Masse des zirkulierenden Geldes übrigens keine Wirkung auf den Zinsfuß: „Die absolute Quantität der Zirkulation wirkt bestimmend auf den Zinsfuß nur in Zeiten der Klemme. […] Sonst wirkt die absolute Masse der Zirkulation nicht auf den Zinsfuß, da sie – Ökonomie und Geschwindigkeit des Umlaufs als konstant vorausgesetzt – erstens bestimmt ist durch die Preise der Waren und die Masse der Transaktionen (wobei meist ein Moment die Wirkung des andern paralysiert) und endlich durch den Stand des Kredits, während sie keineswegs umgekehrt den letztren bestimmt; und da zweitens Warenpreise und Zins in keinem notwendigen Zusammenhang stehn.“ (MEW 25, S. 545f)
14Gleiches würde sich übrigens ergeben, wenn bei reiner Goldwährung die Menge des im Land befindlichen Goldes durch äußerliche Umstände vermehrt würde, z.B. durch staatliche Raubzüge, aber auch durch Einsparung von Zirkulationsmitteln infolge der Ersetzung von Geldzahlungen durch bloße Buchungen. Überhaupt stellen sich die meisten mit dem heutigen ungedeckten Geld assoziierten Fragen schon bei Goldwährung. Es ist m.E. schon aus diesem Grund ein Fehler, sich von der Wertlosigkeit der Papierzettel blenden zu lassen und alle ökonomischen Gesetze fahren zu lassen.
15So bei den historischen Krisen 1825 (MEW 25, S. 571), 1847 und 1857 (ebd., S. 579) Motiv für das Einschreiten der „Bank of England“ zu diesen Zeitpunkten waren nicht zuletzt die ruinösen Folgen, die der extrem hohe Zinsfuß auf die fungierenden Kapitalisten hatte, die dadurch von den Geldverleihern zum Bankrott getrieben und schrittweise enteignet wurden. (MEW 25, S. 560)
16In der „heißen“ Krisenphase 2009/2010, als das Umkippen in die massive Entwertung von Kapital unmittelbar drohte, hatte die Geldschöpfung allerdings tatsächlich noch die Funktion, die Banken mit dringend benötigtem Geld als Zahlungsmittel zu versorgen, genauso aktuell in Griechenland. Mit der zwischenzeitlichen Stabilisierung der meisten Euroländer ist die Geldschöpfung nun nicht mehr Feuerwehrpolitik, sondern soll aktiv zum Wirtschaftsaufschwung beitragen.
17MEW 24, S. 101
18Vgl. MEW 24 S. 391-518
19Je nach organischer Zusammensetzung des angewandten Kapitals in beiden Abteilungen (Verhältnis zwischen c und v) ergibt sich somit ein bestimmtes Verhältnis zwischen der Abteilung, die c produziert, und der, die schlussendlich v produziert. Darauf möchte ich an dieser Stelle aber nicht weiter eingehen.
20Ähnlich MEW 25, S. 267: „Da nicht Befriedigung der Bedürfnisse, sondern Produktion von Profit Zweck des Kapitals, und da es diesen Zweck nur durch Methoden erreicht, die die Produktionsmasse nach der Stufenleiter der Produktion einrichten, nicht umgekehrt, so muß beständig ein Zwiespalt eintreten zwischen den beschränkten Dimensionen der Konsumtion auf kapitalistischer Basis und einer Produktion, die beständig über diese ihre immanente Schranke hinausstrebt.“ Siehe auch MEW 25, S. 254f, wo es u.a. heißt: „Der innere Widerspruch sucht sich auszugleichen durch Ausdehnung des äußern Feldes der Produktion. Je mehr sich aber die Produktivkraft entwickelt, um so mehr gerät sie in Widerstreit mit der engen Basis, worauf die Konsumtionsverhältnisse beruhen. (MEW 25, S. 255)
21Es ist daher m.E. falsch, wenn Marx immer wieder eine „widersprüchliche“, „fragmentarische“, „unvollendete“ usw. Krisentheorie unterstellt wird. Tatsächlich weisen die krisentheoretischen Stellen im Bd. II und Bd. III des Kapitals alle auf eine Überproduktionskrise hin, bzw. ergeben nur Sinn, wenn man sie vor einem solchen Hintergrund liest. – Die m.E. wesentlichen Stellen sind in MEW 24: 80f, 409f, in MEW 25: 191, 254f, 260 („Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion“), 261-269, 276, 316f, 501 („Der letzte Grund aller wirklichen Krisen“), 505-507, 523. Hinzuzufügen wäre noch das gesamte siebzehnte Kapitel in den „Theorien über den Mehrwert II“ (MEW 26.2, S. 471-547).
22Siehe dazu MEW 25, S. 484f
23Siehe dazu die Ausführungen von Engels in MEW 25, S. 589f.
24Benannt nach dem britischen Ökonom John Maynard Keynes (1883-1946).