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Der Freier

09.09.2016

26.06.15  | Theorie

Das Großkapital im Kaufrausch (die Rechnung kommt später)

Niedrigzinsen, steigende Aktienkurse und die weltweite Überproduktion führen zu einer neuen Welle von Mega-Unternehmensfusionen. Die Folgen sind absehbar: verschärfte Verdrängungskonkurrenz der Kapitale, Massenentlassungen und Überschuldung der Unternehmen. Die globale kapitalistische Reproduktion steht auf immer wackligeren Beinen.

Merke: Fusionitis kommt vor dem Zusammenbruch

Die Fusionen und Übernahmen („Mergers and Aquisitions“) haben im vergangenen Halbjahr neue Rekordwerte erreicht. Laut Handelsblatt vom 5.6. gab es weltweit allein in den ersten fünf Monaten des Jahres „Mergers and Aquisitions“ im Umfang von 1,8 Billionen US-Dollar. Der größte Anteil davon fällt auf die USA (800 Mrd. USD), wo der Umfang dieser Übernahmen gegenüber dem Vorjahr um fast 60% stieg. Aber auch im weltweiten Schnitt stieg das Übernahmevolumen um 30%, in Europa immerhin noch um 15%. Die Fusionen finden zurzeit insbesondere in der Computerchip-, IT- und Pharmaindustrie statt, z.B. die versuchte Übernahme des Schweizer Agrochemieunternehmens Syngenta durch BASF für 45 Mrd. US-Dollar.

Dieser neuerliche Anstieg der Mega-Fusionen wird von bürgerlichen Ökonomen als Wetterzeichen für den nächsten Kriseneinbruch gesehen und macht ihnen ein mulmiges Gefühl, und in dieser Ahnung haben sie ganz recht. Daniel Schäfer schreibt im Handelsblatt vom 25.6.:

Und so ist die derzeitige Fusionitis quer über alle Branchen nicht das Zeichen gesunder Volkswirtschaften, sondern ihr krasses Gegenteil. Sie ist ein Symbol dafür, was derzeit schiefgeht – an den Finanzmärkten wie auch in der Unternehmenswelt.“

Denn die „Fusionitis“ erinnert die Ökonomen – so lange reicht ihr historisches Gedächtnis tatsächlich – an den verheerenden Kriseneinbruch 2008:

Was folgte auf die Fusionitis Mitte der Nullerjahre? Der Finanzcrash von 2008.“ (Handelsblatt 5.6.)

Hier hört ihre Einsicht aber auf, denn schlussendlich sollen es nun falsche Finanzberater sein, die die Unternehmenschefs zu riskanten Übernahmen treiben, während Studien doch belegen, dass die meisten Fusionen „aufgrund von Kulturunterschieden und Missmanagement“ (ebd.) scheitern. Ihre Angst vor dem scheinbar grundlosen Übernahmefieber, und ihre Verbindung desselben mit dem Krach von 2009, ist schlussendlich empirisches Gefühl und verwechselt Ursache und Wirkung: nicht die Krise soll Ursache der Fusionen sein, sondern diese soll die Krise auslösen. Tatsächlich ist es aber genau andersherum. Es ist die massive weltweite Überproduktion, die nicht nur die „Fusionitis“, sondern auch die Mittel dazu erst hervorbringt: das „billige Geld“ der Notenbanken und die astronomischen Aktienpreise.

Das Nadelöhr der Konsumtion und die Überproduktion

Das Ziel der kapitalistischen Produktion ist bekanntlich nicht die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln (Konsumtionsmitteln), sondern die Produktion von Mehrwert, von Profit. Die Ausdehnung der Produktion um der Produktion willen ist daher erstes Gesetz des Kapitals, und gäbe es keine innere Schranke, würde sich die Produktion von Mehrwert beliebig ausdehnen. Aber die Produktion allein ist nur die halbe Geschichte, die Waren müssen auch verkauft werden, d.h., sie müssen schlussendlich konsumiert werden, denn nur dafür werden sie gekauft.

Und genau hier liegt der Haken und eine der schlagendsten Irrationalitäten der kapitalistischen Gesellschaft. Denn die Möglichkeiten dieser Gesellschaft zur Konsumtion ihrer eigenen Waren sind nicht beschränkt dadurch, dass es zuwenig Waren jeder Sorte gäbe (das ist bei den heutigen überfüllten Warenmärkten gerade nicht der Fall). Die Konsumtion ist auch nicht dadurch beschränkt, dass die Menschheit etwa zu wenig dieser Waren brauchen würde (das ist ebenfalls nicht der Fall, überall auf dem Globus mangelt es an grundlegenden Gütern). Sondern die Konsumtion der in immer größeren Massen ist selbst künstlich beschränkt, dadurch, dass sie selbst einem kapitalistischen Zweck dienen muss.

Der Kapitalismus selbst trägt unerbittlich dafür Sorge, dass alle hergestellten Waren im erweiterten Sinne produktiv konsumiert werden, und das geht nur auf eine von zwei Arten: die hergestellten Waren müssen entweder in die Produktion neuer Waren eingehen, oder aber sie müssen eingehen in die Konsumtion der ArbeiterInnen und KapitalistInnen (welche ja beide notwendig sind, damit die kapitalistische Produktion auch am nächsten Tag und im nächsten Jahr fortgesetzt werden kann). Beide Konsumtionsarten setzen aber entsprechende Zahlungsfähigkeit voraus – setzen voraus, dass entweder Nachfrage für die neue Ware, der die verkaufte als Rohmaterial etc. diente, da ist, oder aber, dass die ArbeiterInnen Lohn, die KapitalistInnen Profit genug haben, um diese Waren zu kaufen. Liegt beides nicht vor, so ist die Ware zwar erfolgreich produziert, aber sie verbleibt auf dem Warenmarkt.

Nun ist aber die erste Form der Warenkomsumtion, die Verwendung der produzierten Waren bei der Produktion neuer Waren (z.B. als Rohstoffe, Halbfabrikate usw.), auf jeder gegebenen Stufe der kapitalistischen Wirtschaft begrenzt und über diese hinaus nicht ausdehnbar. Zwar mag es so erscheinen, als ob ja nur mehr Roboter und Drehmaschinen produziert werden müssten, welche in der Folge neue Roboter und weitere Drehmaschinen herstellen usw. Aber diese Produktion um der Produktion willen, so gern das Kapital eine solche hätte, geht nie auf. Die “produktive Konsumtion” der Waren im neuen Produktionsakt bleibt immer daran gebunden, dass an irgendeiner Stelle eine Ware entsteht, die tatsächlich durch ArbeiterIn oder KapitalistIn konsumiert wird. Die Produktion von Maschinen und Rohstoffen ist kein technischer Selbstzweck. Soll die kapitalistische Produktion wachsen, so muss daher auch die kapitalistische Konsumtion wachsen, und in dem Moment, in dem es dem Kapitalismus nicht gelingt, seine Konsumtionsbasis genauso schnell auszudehnen wie die einzelnen Kapitale ihre Produktion erweitern, beginnt die Überproduktion.

Man könnte nun bezüglich der zweiten Form der Konsumtion, der Konsumtion durch KapitalistInnen und ArbeiterInnen einwenden, dass ja nur der Lohn der ArbeiterInnen erhöht werden müsste, oder die KapitalistInnen einen größeren Teil des Produkts verprassen müssten, oder dass das überflüssige Produkt einfach den Arbeitslosen und Elenden der Welt geschenkt werden könnte, um somit nicht nur die Konsumtion, sondern auch die Produktion auszudehnen. Natürlich wäre eine solche Lösung abstrakt möglich, aber sie vergisst, dass der Kapitalismus kein großer Weltstaat (und Weltkonzern) ist, sondern notwendig auf Konkurrenz basiert, und in dieser Konkurrenz der Kapitale und Staaten ist jede Lohnerhöhung, jede Erhöhung der Konsumtion durch die KapitalistInnen, und jede Verschenkung eines Teils der produzierten Waren notwendigerweise ein Abzug vom Mehrwert und vom Profit und damit nicht nur ein Nachteil in der Konkurrenz, sondern auch nach der kapitalistischen Logik absolut widersinnig – denn Zweck der Produktion war die Vermehrung des Kapitals, und nicht dessen erfolgreiche „Konsumtion“. Der Konsumtion des Warenprodukts sind innerhalb des Kapitalismus stets enge Grenzen gesetzt, und eine Ausdehnung der Produktion durch Lohnerhöhung und Staatskonsum, wie sie von KeynesianerInnen gefordert wird, ist somit keine Option.

Eine Weile kann die Expansion der Produktion aus sich selbst heraus und ungeachtet der Beschränkung durch die fehlende Massenkaufkraft nichtsdestotrotz munter weiter gehen, namentlich durch den Kredit der KaptialistInnen untereinander und durch den Kredit an die KonsumentInnen (die ArbeiterInnen), die durch Verschuldung mehr Waren konsumieren können, als ihr eigener Lohn gestatten würde. Letzteres war genau der Fall bei der durch Kredite, Hypotheken und Immobilienblasen aufrecht erhaltenen und ausgedehnten Konsumtion bis zum Krach von 2008. Die kapitalistische Produktion hatte das Maß der eigenen, kapitalistischen Konsumtionsfähigkeit schon längst überschritten, und was 2008 fällig gewesen wäre, wäre wie bei jeder Krise der große Krach, die Entwertung und der Bankrott allen Kapitals, das seine Waren nicht mehr absetzen kann. Ebenso die Entwertung der produzierten Warenberge, die zu kaufen niemand das Geld hat, aber auch die „Entwertung“ eines großen Teilsder  Arbeiterbevölkerung, der vom geschrumpften Kapital nicht mehr für die Produktion neuer Waren angewandt werden kann.

Anders als in vorangegangenen Krisen wurde dieser Krach allerdings verhindert – durch die massiven Staatseingriffe und staatliche Rettungspakete für Banken und Unternehmen, die verhinderten, dass die nicht mehr bezahlbaren Kredite tatsächlich ausfielen. Die Überproduktion wurde damit aber natürlich nicht aufgehoben, sondern vielmehr fortgesetzt. Die Überkapazitäten bestehen nach wie vor in allen industriellen Bereichen, und was seit 2008 daher notwendig einsetzte, war der verschärfte Konkurrenzkampf der Kapitale untereinander um den Absatz ihrer Waren auf einem schrumpfenden Markt, was sich notwendig in einer allgemeinen Preissenkung für fast alle Waren ausdrückte. Die von ÖkonomInnen heute beklagte Gefahr einer “Deflation”, also eines Steigens des Geldwerts, ist tatsächlich nur die oberflächliche Wahrnehmung dieses Preiskampfes, denn tatsächlich ist es nicht der Geldwert, der sich bewegt, sondern die Warenpreise, die sinken: dasselbe Geld kauft mehr Ware, der „Geldwert“ steigt also scheinbar gegenüber dem “Warenwert”.

Milliarden Euro, keiner will sie

Die Deflation, eine allgemeine Preissenkung, ist für das Kapital fatal und bringt es über kurz oder lang in massive Schwierigkeiten, denn mit jeder durch die Konkurrenz erzwungenen Senkung der Warenpreise schmelzen die Gewinne überproportional dahin. Die Notenbanken versuchten, darauf durch eine „expansive Geldpolitik“, das „quantitative easing“, zu reagieren. Seit März 2016 gibt z.B. die EZB monatlich zusätzliche Kredite in Höhe von 60 Mrd. Euro aus, ähnliche Programme gibt es seit geraumer Zeit auch in den USA, Großbritannien, Japan und seit kurzem in China. Das zu äußerst niedrigen Zinsen verborgte Geld soll die Produktion künstlich anfeuern, den für die Industrie desaströsen Preisverfall stoppen und das Kapital zu neuen Investitionen anregen. Was passiert, ist aber das Gegenteil, wie auch das Handelsblatt (25.6.) weiß:

Das Grundproblem: Die Firmen investieren zu wenig, weil auch acht Jahre nach Beginn der Finanzkrise kaum Vertrauen in einen nachhaltigen Aufschwung vorhanden ist. In den USA beispielsweise sind die Investitionen großer Unternehmen im Verhältnis zum Mittelzufluss binnen fünf Jahren von 29 auf 23 Prozent gefallen. Die Topmanager sitzen also auf hohen Bargeldbergen, die sie entweder durch Aktienrückkäufe abtragen oder eben in oft gewagte MA [Mergers and Aquisitions]-Deals stecken.“

Das mangelnde „Vertrauen in einen nachhaltigen Aufschwung“ ist natürlich eine hübsche Chiffre für die chronische Überproduktion. Aufgrund der allgemein niedrigen Zinsen bleibt das Geld bei den Banken liegen oder wird vom Kapital zweckentfremdet für die Übernahme der Konkurrenz.

Und hier kommt zu Überproduktion und Niedrigzinsen nun eine dritte Ingredienz dazu, nämlich die steigenden Aktienkurse, die aber schlussendlich aus demselben Zusammenhang herrühren. Der Wert der Aktien ist selbst eine fiktive Hochrechnung aus dem allgemeinen Zinsfuß: eine Aktie, die eine jährliche Dividende von 1 Euro abwirft, hat bei einem durchschnittlichen Zinsfuß von 2 % einen fiktiven Wert von 50 Euro: denn 50 Euro, zum Zinssatz von 2 % angelegt, würden ebenfalls diesen Betrag von 1 Euro abwerfen. Sinkt der Zinsfuß, z.B. auf 0,5 %, so stiege über Nacht der fiktive Wert dieser Aktie auf 200 Euro – denn bei einem Zinsfuß von 0,5 % bräuchte es 200 Euro, um einen jährlichen Zins von 1 Euro abzuwerfen.

Fressen oder gefressen werden

Diese drei Zutaten wirken nun als großer Motivator fürs Kapital in der Übernahmejagd: die Überproduktion fordert die Kostensenkung und den verschärften Konkurrenzkampf, und der wird am besten durch Übernahme der konkurrierenden Unternehmen erreicht: die Produktions-, Logistik- und Vertriebskosten sinken, die Preise können ohne Wirkung auf den Profit gesenkt werden, und damit erhöht sich die Chance, dass die in der jeweiligen Branche notwendige Entwertungen nicht das eigene Kapital, sondern das der verbleibenden Konkurrenten treffen.

Das erste Mittel für diese Übernahmen ist dann genau das billige Geld:

„Allein in den USA halbierten sich die Zinsen für Unternehmensanleihen seit 2007. Rund 100 Milliarden Dollar nehmen US-Firmen, so die Bank of America Merrill Lynch, seit Jahresbeginn jeden Monat am Kapitalmarkt auf.“ (Ebenda)

Dazu kommt dann ein weiterer Faktor, nämlich die Verwendung der eigenen, im fiktiven Wert enorm gestiegenen, Aktien als Deckung:

„Ein weiteres Warnsignal ist die Tatsache, dass die Übernahmen und Fusionen mit immer gewagteren Krediten bezahlt werden. Die globalen Anleihemärkte für Unternehmen sind auf Rekordwerten. […] Banken sind bei der Bereitstellung von Fremdkapital für Übernahmen wieder deutlich risikobereiter geworden. Kredite, bei denen die Zinsen mit neuen Schulden beglichen werden können, kommen wieder in Mode. […] Der Anteil an mit eigenen Aktien finanzierten Deals hat sich binnen zwei Jahren auf fast 30 Prozent verdoppelt.“

Auf diese Weise lassen sich in der Tat glorreiche Übernahmesiege finanzieren! Aber es gibt eine Kehrseite, und die betrifft die kapitalistische Reproduktion als ganze: die Übernahmen sind betriebswirtschaftlich höchst rational, sichern den einzelnen Unternehmen Vorteile auf dem Weltmarkt und zwingen die Konkurrenten zu ebensolchen kreditfinanzierten Fusionen. Damit aber steigt die Anfälligkeit der gesamten kapitalistischen Reproduktion gegen jede plötzliche Zinserhöhung. Denn jede Zinserhöhung wirkt ab sofort als Gift für die überschuldeten Unternehmen: sie würde nicht nur die Refinanzierung der von den Unternehmen aufgenommenen Kredite wesentlich verteuern, sondern auch die Aktienkurse über Nacht zusammenbrechen lassen. Die Notenbanken sind also zur Fortsetzung ihres „quantitative easing“ auf unbestimmte Dauer festgelegt, wollen sie es nicht zum großen Krach kommen lassen. Die Überkapazitäten bestehen damit aber nur weiter fort, und es entbrennt ein neuer Kampf nicht nur zwischen den Kapitalen, sondern auch zwischen den Staaten und Weltregionen, die sich gegenseitig den schwarzen Peter der Entwertung zuspielen wollen (was auch gelingt – die Zerstörung der syrischen Textilindustrie verschafft der chinesischen eine Atempause, die Zerstörung der irakischen Landwirtschaft stärkt die türkische usw.). Derweil aber mahlt auch in den Zentren, in Deutschland und anderswo, die Krise weiter fort, lähmt die Preise und äußert sich in Meldungen über Massenentlassungen und Bankrotte – zurzeit noch vergleichsweise selten, mit geringem Umfang und in großem Abstand, aber u.U. bald sich beschleunigend.

Die Handlungsspielräume der Politik, auch der Zentralbankpolitik, sind zunehmend eingeschränkt, und während alle den anstehenden Krach sehen, geben sie weiter Vollgas, weil sie keine andere Wahl haben. Die verschiedenen (nationalen) Kapitalfraktionen und ihre Fürsprecher unterscheiden sich nur darin, welche Exit-Option sie bevorzugen: Langsames Dahinsiechen oder ein großer Krach à la 1929 – mit jahrelanger Verelendung, Hunger und Krieg.

Vor dieser Wahl steht der Kapitalismus nicht nur in Griechenland, sondern global. Die aktuelle Fusionitis und die in ihr gefeierten Übernahmeerfolge sind nur der nächste Schritt der Zuspitzung der Krise, und zeigen an, dass der Kapitalismus schon längst über seine eigene Konsumtionsbasis hinausgewachsen ist. Wie Marx einmal schrieb:

„Das Geschäft ist immer kerngesund und die Kampagne im gedeihlichsten Fortgang, bis auf einmal der Zusammenbruch erfolgt.“ (Karl Marx, Kapital Bd. III, S. 502)

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