Nachrichten und Kritik
19.06.15 | Kritik
Der Prozess und die Berichterstattung zum gewaltsamen Tod der Studentin Tuğçe Albayrak ist eine widerliche Rechtfertigung der Gewalt gegen Frauen – und das eigentlich schon lange bevor Presse und Gericht nachwiesen, dass das Opfer doch eine Mitschuld an allem getragen hätte.
Es ist das Abbild einer ganzen Gesellschaft, zusammengezogen auf einen Abend und in Endlosfolge abgespielt. Folgen wir den in der Spiegel-Topstory wiedergegebenen Aussagen der Zeuginnen, so begann alles mit zwei jungen Mädchen, die Freitagnachts ohne Wissen ihrer Eltern auf Party gehen. Da beide ihren Eltern gesagt hatten, sie würden bei der jeweils anderen übernachten, und die Uhrzeit für sie zu spät geworden war, um nach Hause zu kommen, müssen sie die Nacht bis zum Morgen rumkriegen. Sie gehen auf die Frauentoilette im Keller eines McDonald’s, wo sie sich auf den Fließenfußboden setzen und die Zeit verquatschen.
Ein junger Mann Anfang 20 schaut durchs Bullauge der Damentoilette, sieht die beiden sitzen, kommt mit seinen zwei Freunden wieder, um sie anzumachen: ob sie einen Freund hätten, ob sie nicht mit ihnen trinken gehen wollten; sie könnten auch bei ihnen übernachten. Die drei angetrunkenen Männer werden aggressiver: einer von ihnen nimmt den Blumenstrauß, den eines der Mädchen bei sich trägt, und zerhackt ihn im Handtrockner. Die beiden Mädchen schreien schlussendlich die Jungen an, dass sie rausgehen sollen.
Tuğçe und ihre zwei Freundinnen, die sich eine Etage höher aufhalten, hören das, gehen hinunter, und geben den jungen Männern zu verstehen, dass sie sich vom Frauenklo verpissen sollen. Diese kommen der Aufforderung nicht nach, und beginnen stattdessen, Tuğçe und ihre Freundinnen anzupöbeln. Erst als zwei andere Männer zufällig vorbeikommen, gehen sie. Auf dem Weg nach oben beschimpfen und bedrohen sie die drei jungen Frauen, diese antworten mit Beschimpfungen.
Tuğçe und ihre Freundinnen verlassen später das McDonald’s, bleiben aber draußen noch stehen, um eine Zigarette zu rauchen. Die drei Jungen erscheinen plötzlich, und weitere Beschimpfungen werden ausgetauscht. Einer der jungen Männer tritt aus der Gruppe hervor, um Tuğçe nochmal besonders hart zu beschimpfen, dreht sich um und geht zum Auto eines seiner Freunde. Sie ruft ihm „Halt die Klappe du kleiner Hurensohn“ hinterher. Er dreht sich unversehens um, kommt zurück und schlägt sie ohne Vorwarnung so gewaltig, dass sie umfällt und beim Aufprall auf den Boden einen Schädelbruch und eine Gehirnblutung erleidet, an der sie stirbt. Der Täter flüchtet.
Wir haben diese Geschichte nicht wiedergegeben, weil wir uns an ihren im Grunde austauschbaren Details ergötzen, sondern weil sie wie unter einer Lupe all das enthält, was für Millionen Frauen in Deutschland und auf der ganzen Welt in der einen oder anderen Form tägliche Realität sein dürfte: die beständige latente Drohung der männlichen Gewalt, die auf Schritt und Tritt verfolgt und bei jedem „Fehler“ in tatsächliche Gewalt umschlagen kann. An jedem einzelnen Akt ließe sich die ganze Realität dieser Gesellschaft entfalten: Das Problem der beiden jungen Mädchen, abends zu spät nach Hause zu kommen – ein Problem, hinter dem eine Gesellschaft steht, die Frauen nur durch Einsperrung und Kontrolle schützen zu können glaubt. – Die Selbstverständlichkeit, mit der jeder x-beliebige, dahergelaufene Mann sich im Recht sieht, sie zu bedrängen (und aus seiner Sicht das ganze vielleicht noch als “Flirt” ansieht). Mit dem Wissen auf beiden Seiten, dass weder soziale Konvention noch Gesetze existieren, die Männern hier Einhalt gebieten könnten: zur Polizei hätten sie gehen können, wenn die Vergewaltigung, in die der Abend hätte auch münden können, passiert wäre, aber das hätte ihre Situation nur schlimmer gemacht, denn sie hätten die gesellschaftliche Schande zu tragen und ihr angebliches Fehlverhalten als Auslöser zu rechtfertigen gehabt. – Dann das bewusste Ignorieren der von Tuğçe und ihren Freundinnen gegebenen Aufforderung an diese Männer, zu gehen. Denn die Befolgung einer von Frauen gegebenen Anweisung wäre für jeden einzelnen in der Gruppe als Schwäche erschienen. Erst das Hinzutreten der anderen Männer ermöglicht einen Rückzug, der die männliche Ehre intakt lässt. – Die erneute Konfrontation durch die jungen Männer vor der Tür, die die Niederlage gegen Frauen immer noch nicht hinnehmen können und den Streit erneut aufrollen müssen. Aber es folgt eine weitere Antwort, und die imaginierte öffentlichen Ehrverletzung eines der Männer steigert sich. Als „kleiner Hurensohn“ hatte eine Frau ihn bezeichnet, und ihn damit öffentlich in den Status eines Kindes gestellt, von dem er sich doch durch all das, was soziale Männlichkeit heißt, emanzipieren wollte. Er kann diesen symbolischen Angriff, der ihn als männliches Subjekt infrage stellt, nur durch Gewalt rächen, durch absoluten Triumph über die Frau, die ihn bloßstellte: durch Vergewaltigung oder Mord, und es kommt zu letzterem, auch wenn die Geriche es nicht so bezeichnen.
Keiner dieser Ausschnitte ist zufällig, sondern jeder wirft ein Schlaglicht auf eine patriarchale Gesellschaft, in der junge Männer ihren Subjektstatus durch den Hass auf alles Weibliche und die Abwertung alles Weiblichen – an sich selbst und an anderen – erlangen. Und in der jede Begrenzung der männlichen Macht und „Freiheit“ durch eine Frau als absolute Infragestellung des männlichen Status erscheint.
An jedem dieser Punkte hätte diese Gewalt, diese beständige Bedrohung thematisiert und, wenn auch nicht die dahinterliegenden gesellschaftlichen Strukturen, so doch wenigstens die Mechanismen aufgeklärt werden können, auf dass derartiges sich nicht wiederhole. Dies wäre Aufgabe der Berichterstattung und der Gerichte gewesen, hätte man meinen können. Aber nichts dergleichen. Was machen die vom Staat bestellten Richter und Ankläger daraus, was macht die bürgerliche Presse daraus? – Zuallererst tun sie das, was sie in solchen Fällen immer tun: sie vergessen und verstecken den offensichtlichen, zum Himmel schreienden Fakt, dass die ganze Geschichte, spätestens der unvermittelte tödliche Schlag, irgendetwas damit zu tun haben könnte, dass hier ein Konflikt zwischen Männern und Frauen bestand, die ganze Auseinandersetzung also geschlechtlich aufgeladen war, und allein darin die Erklärung ihrer „Dynamik“ gelegen hätte.
Wie genau nun diese miese Verschleierungstaktik aussieht, ist tatsächlich die kreative Eigenleistung der einzelnen RichterInnen, JournalistInnen etc. Wir zitieren hier weiter den Spiegel als bloßes Beispiel, denn er deckt sich mit den meisten anderen Schmierblättern, wie er selbst in seinem Pressespiegel herausgefunden hat. Die Besonderheit der Spiegel-AutorInnen dürfte sein, dass sie ihnen die bloße Berichterstattung zu vulgär ist, und sie stattdessen die ganze Sache in ein literarisches Kunstwerk umweben. Sie haben herausgefunden, dass es einen höheren Sinn hinter der Sache gegeben haben muss, nämlich eine „Verkettung von Zufälligkeiten“ und eine Reihe von „verhängnisvollen Entscheidungen“: die Entscheidung von Tuğçe und ihren Freundinnen, überhaupt einzugreifen und die Männer dazu aufzufordern, die offensichtlich minderjährigen Mädchen in Ruhe zu lassen („Hatte sie recht? Ganz sicher. War das jetzt Zivilcourage? Sicher. Aber nötig?“). Dass Tuğçe und ihre Freundinnen vor der Tür stehen blieben („eine dieser verhängnisvollen Entscheidungen“). Dass sie den Beleidigungen antworteten. Dass sie etwas getrunken hatten („vielleicht genug, um nicht jeden Satz abzuwägen“). Den Höhepunkt erreicht diese schundhafte Ausschlachtung des Falls zum Möchtegern-Roman dann darin, dass auch der Tod Tuğçes zum Zufall wurde – und sie schlussendlich selbst daran schuld: denn die Gerichtsmediziner hätten gefunden, dass Tuğçe eine ungewöhnlich verdünnte Schädeldecke an genau der Stelle hatte, an der sie aufschlug, und sie trug dazu wohl noch einen scharfkantigen Ohrring, der sich vielleicht in ihren Kopf gedrückt und die Hirnblutung ausgelöst haben könnte. Wie anregend für die Phantasie einiger „Spiegel“-SchreiberInnen: „Wenn das stimmt, wäre es das letzte Glied in dieser verhängnisvollen Verkettung von Zufällen. Hätte sie keinen Ohrring getragen oder einen anderen, rund, biegsam – der Streit auf dem Offenbacher Parkplatz wäre vermutlich einer von vielen geblieben, die sich jedes Wochenende vor unzähligen Klubs, Discos, Imbisslokalen und Kinos dieser Republik ereignen. Mit Pöbeleien zwischen Jugendlichen, Motzen und Protzen und manchmal auch Schlägereien.“
Es ist zu widerlich, derartiges zu kommentieren. Recht hat der „Spiegel“ allerdings darin, dass derartiges „sich jedes Wochenende vor unzähligen Klubs, Discos, Imbisslokalen und Kinos dieser Republik“ (hinzuzufügen wäre u.a.: in Unterrichtsstunden, auf Schulhöfen, in Firmenmeetings, Chemielaboren, Uni-Seminaren und linken Diskussionszirkeln) wiederholt. Aber nicht als Balgerei, wie es verharmlosend dargestellt wird, sondern als Bedrohung von Frauen jedes Alters und jeder Herkunft, die den Fehler machen, Männern ihre Grenzen aufzuzeigen, und das vielleicht noch öffentlich.
Aber die Geschichte wird noch ekelhafter. Denn schließlich, so finden Presse und Gericht, hatte Tuğçe ja zurückgepöbelt, sie hatte die Beschimpfungen nicht hingenommen, sie hatte die Bande in der Toilette konfrontiert, und sie war draußen nicht weggelaufen. Dafür wurde sie dann totgeschlagen, und schuld ist sie dann doch selbst; vielleicht nicht zu 100%, aber vielleicht doch zu 20, 50 oder 70%? Gericht und bürgerliche Schmierpresse „entdecken“ nun, dass Tuğçe „keine nationale Heldin“ für Zivilcourage sei, wie der Oberstaatsanwalt (dessen Aufgabe in anderen Fällen die Anklage des Täters ist) sich zu äußern bemüßigt sah. Und der Spiegel deckt tabubrecherisch auf:
„Tuğçe Albayrak gilt seit jener Nacht als Musterbeispiel – für Zivilcourage, weil sie den Mädchen in der Damentoilette helfen wollte, als Sanel M. sich an sie heranmachte. […] Auf der anderen Seite steht der Serbe Sanel M.: durchgereicht von einer Schule zur nächsten. Mehrere Verurteilungen. […] Ein Gerichtsprozess ist allerdings keinem Idealbild verpflichtet, nur der Wahrheit. Er muss nicht den Wunsch der Öffentlichkeit bedienen, die Chancen und Probleme des Einwanderungslandes Deutschland auf zwei idealtypische Figuren herunterzubrechen, Gut gegen Böse. Er muss aufklären, was wirklich passiert ist. Und die Wirklichkeit ist dann doch nur selten so einfach wie die Wunschvorstellung davon.“
Leider kann man Tuğçe nicht mehr zur Rechenschaft ziehen. Man stelle sich vor, sie hätte überlebt und dürfte nun die Demütigungen von Gericht, „Spiegel“ & Co. sich anhören!
Aber auch in dieser letzten “kreativen” Wendung lügen diese Blätter, denn das Bild von Tuğçe als unschuldigen Engel und selbstloser Märtyrerin, das sie nun mit großer Geste und im symbolischen Bruch mit der „political correctness“ dekonstruieren, war ihr eigenes, mit dem sie in den Tagen nach Tuğçes Ermordung ihre Titelseiten füllten. Und auch dort schon war der Zweck der gleiche wie heute, nur in anderer Spielart: nämlich der durchschaubare Versuch, die ganze Angelegenheit von ihrer Geschlechtsspezifik zu befreien. Mit Männlichkeit, männlichem Subjekt und männlichen Rollen durfte der Konflikt nichts zu tun haben – ein einzelner Brutalo-Schläger, ein Einzeltäter, gegen eine unschuldige junge Frau. Die ganze Berichterstattung steht unter dem Bann, dass dieses dunkle Geheimnis nicht genannt werden darf, wie bei einer Sekte, die dann zusammenbrechen würde: dass derartige Gewalttaten System haben, dass sie sich “jedes Wochenende” unzählige Male wiederholen und dass sie aus dem grundlegend patriarchalen Charakter der modernen Gesellschaft entspringen. Der ideologische Zweck der Presse besteht offensichtlich darin, den Mantel über dieses unschöne Detail auszubreiten: dass hier etwas mit der gesellschaftlichen Männlichkeit im Argen liegen könnte. Dass Gewalt gegen Frauen auch nach Jahrzehnten “Geschlechtergleichheit” zur Normalität gehört, wirft ein Schlaglicht auf eine Gesellschaft, die schnell darin ist, alle diese Gewalttaten als schlimme Einzelfälle zu verurteilen, aber zugleich sich gegen jede systematische Bekämpfung wehrt, da diese ihren gesellschaftlichen Grundkonsens angreifen würde. It is still a men’s world, und das, was notwendig zur Sozialisierung der männlichen Subjekte dazugehört, steht außerhalb jeder gesellschaftlichen Debatte.
Die Analyse ließe sich dabei noch fortsetzen. Denn Presse und Gericht verschleiern nicht nur die Ursache der Gewalt im patriarchalen, auf der realen und symbolischen Abwertung von Frauen beruhenden Geschlechterverhältnis. Die Art und Weise, wie sie die ganze “Story” darstellen, ist eine selbst patriarchale Mythologisierung: gleich nach der Tat machten sie Tuğçe eine Art Mutter Maria, einen selbstlosen und unschuldigen Engel, eine Märtyrerin. Dass die reale Tuğçe (und niemand sonst) diesem Bild nicht entsprach, führte nicht zur Korrektur, sondern zum Umschlag ins gegenteilige Bild: aus Tuğçe wurde nun die männermordende, trinkende, bösartige Hydra, die zurückflucht und nichts auf sich sitzen lässt. Beide Bilder entspringen aus dem männlichen Unbewussten, das sich reale Frauen als Subjekte nicht vorstellen kann. Beide hängen zusammen, und beide durchziehen die westliche Kultur seit Jahrhunderten. Und beide tun den realen Frauen, die hier nicht mehr vorkommen, Gewalt an. Die Berichterstattung reproduziert die Weiblichkeitsbilder, die demselben männlichen Unbewussten entstammen, das Frauen nur totschlagen kann, wenn diese die eigene männliche Souveränität und Allmacht in Schranken weisen.
Damit ist „Verarbeitung“ von Tuğçes Tod für Justiz und Presse erfolgreich abgeschlossen. Aus einer Geschichte ist ein Mythos gemacht. Sie ziehen weiter zur nächsten “Story”, nämlich der Frage nach der Zukunft des Täters: war es korrekt, ihn “wegzusperren”? Wie ermöglicht man ihm wieder ein normales Leben angesichts des Zorns, den er auf sich zog? Usw. Irgendwelche Sorgen um die Gegenwart und Zukunft von Millionen Frauen und Mädchen in dieser Gesellschaft sind Gericht und Presse dagegen fremd. Dass sich ihre Situation nicht zum Besseren wandeln soll, dafür haben sie ihren schändlichen Beitrag geleistet.
Tuğçe, R.I.P.
Nachtrag: es ist stets einfach, männliches Fehlverhalten an anderen zu kritisieren und eloquent dessen Mechanismen etc. aufzuzeigen. Der Autor möchte anmerken, dass er in seiner eigenen Biographie seinen nicht geringen Anteil an der Ausgrenzung, Herabminderung und psychischen Gewalt gegen Frauen hatte. Derartiges kann nicht ungeschehen gemacht werden durch irgendwelche Zeitschriftenartikel. Aber vielleicht kann der Hinweis auf einige der hier wirksamen Strukturen und Mechanismen einen Beitrag leisten, dass sich derartiges irgendwann nicht mehr wiederhole.