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Der Freier

09.09.2016

05.08.16  | Nachrichten

Twitteruser an #TeamGinaLisa: Ein Beleg für die Existenz der Rape Culture in Deutschland

Nächste Woche Montag wird der Prozess gegen Gina Lisa Lohfink wegen angeblicher Falschaussage fortgesetzt. Allein der Prozess aber auch die antifeministischen Reaktionen darauf zeugen von der Existenz einer „Rape Culture“ in Deutschland. Von Melanie Schröder

Triggerwarnung: hässliche Twitterkommentare und Vergewaltigungsdrohungen.

 

 

 

 

 

 

Der Fall Gina-Lisa Lohfink polarisiert seit Wochen und wird breit medial rezipiert. Die 29-Jährige hatte 2012 eine Vergewaltigung angezeigt. Trotz einer Videosequenz, die die Ereignisse in der fraglichen Nacht dokumentiert, wurden die beiden Angeklagten freigesprochen. Nun steht Lohfink plötzlich selbst vor Gericht. Sie soll sich wegen angeblicher Falschaussage verantworten.

Mittlerweile haben sich viele Feminst_innen auf ihre Seite geschlagen. Und klagen an: Exemplarischer Beleg für eine Rape Culture in Deutschland sei der Fall Lohfink, der bei weitem keine Ausnahme sei.

Doch was genau heißt „Rape Culture“? Der Begriff wird in der Soziologie verwendet und ist auch im feministischen Diskurs gebräuchlich. Wörtlich übersetzt handelt es sich hierbei um eine „Vergewaltigungskultur“. Also eine Gesellschaft, in der sexuelle Gewalt geduldet ist und akzeptiert wird. Der Vorwurf einer Rape Culture in Deutschland beinhaltet demnach die Annahme, dass auch hierzulande sexuelle Gewalt verbreitet ist, toleriert und von gesellschaftlichen Strukturen begünstigt wird.

Dabei wird die Existenz der Vergewaltigungskultur von vielen bezweifelt oder gänzlich zurückgewiesen. Den Anhänger_innen dieser These wird teils sogar eine Geisteskrankheit unterstellt:

Trotz energischer Leugnung der Rape Culture sind es insbesondere die Twitter-User, die am vergangenen Prozesstag in aller Deutlichkeit beweisen, dass der Vorwurf einer Vergewaltigungskultur in Deutschland alles andere als an den Haaren herbeigezogen ist. Der Hashtag #TeamGinaLisa wurde an jenem 27. Juni auf Twitter tausendfach für Beleidigungen und Vergewaltigungsdrohungen genutzt. Eine kleine Auswahl dieser sexistischen Entgleisungen habe ich an dieser Stelle zusammengetragen. Scheinbar sind sich viele User darüber einig, dass Lohfink die Vergewaltigung verdient habe:

Selbst auf Ihre Kleidung wird immer wieder Bezug genommen:

Aus ihrem Recht sich so zu kleiden, wie sie es für richtig hält, wird nun eine Mitschuldigkeit an der Vergewaltigung konstruiert. Der „Argumentation“ der Twitter-User zufolge ist Lohfink, dank selbst gewählter Kleidung, selbst Schuld an der ihr widerfahrenen sexuellen Gewalt.

Aber nicht nur Lohfink, auch die Aktivist_innen, die sich für Lohfink stark machen, mussten sich besonders am vergangenen Prozesstag warm anziehen. Sie wurden bei der Solidaritäts-Demonstration vor dem Amtsgericht Tiergarten in Berlin aus den umliegenden Häusern mit Eiern beworfen. Vergewaltigungsdrohungen gegen Unterstützer_innen von Lohfink auf Twitter waren leider keine Seltenheit:

Dabei wurden die User nicht müde, die angebliche sexuelle Unattraktivität der Aktivist_innen zu betonen:

Immer wieder wird auf traditionelle Genderkonstruktionen zurückgegriffen, um die (meist weiblichen) Aktivist_innen dort zu treffen, wo es sie, zumindest der Meinung der Hetzer_innen nach, am meisten trifft. Diese Art der Beleidigung funktioniert nur unter der sexistischen Prämisse, dass die (sexuelle) Attraktivität und Jugend höchste Güter der Frau seien. Welche Frau sich dieser Genderrolle nicht fügt, erfährt in den Augen vieler Twitter-User die Höchststrafe: Bezichtigung sexueller Unattraktivität. Hier beklagt sich offenkundig eine patriarchale Subjektivität, die sich maßgeblich auf die scheinbare Verfügung von Frauen als Objekte der männlichen Sexualität stützt. Die Aktivist_innen werden als existenzielle Bedrohungen dieses verqueren Weltbildes betrachtet und als ebendiese Objekte disqualifiziert.

Selbst die alte Mär von Frauen, die gerne vergewaltigt werden wollen, wurde wieder aufgewärmt:

Dieser „faktenkundige“ User wiederholt ein Muster, dass Rousseau bereits 1762 erkannt zu haben glaubte:

Wenn die Frau dazu geschaffen ist, zu gefallen und sich zu unterwerfen, dann muss sie sich dem Mann liebenswert zeigen […]. Ihre Macht liegt in ihren Reizen, mit Ihnen muss sie ihn zwingen, seine Kraft zu entdecken und zu gebrauchen. Die sicherste Art, diese Kraft zu beleben, ist, ihre Anwendung durch Widerstand notwendig zu machen.“ (Rousseau – „Emile oder Über die Erziehung“, S. 386)

Der freieste und süßeste aller Akte läßt keine wirkliche Gewalt zu: Natur und Vernunft widerstreben ihr […].“ (Ebd., S. 388.)

Der angesichts dieser sexistischen Aussagen unverständlicherweise auch heute noch allseits anerkannte Pädagoge Rousseau, zeigt sich also schon über 250 Jahre vor diesem Tweet davon überzeugt, dass ein Widerstand der Frau beim Sex gesellschaftlich geboten, , bzw. Gewaltanwendung gar nicht möglich sei. Der Tatbestand der Vergewaltigung ist also erst gar nicht existent. Laut Rousseau hat die Frau also gar keine Chance „Nein“ zu sagen, da dieser Widerstand als „spielerisches Zieren“ ausgelegt wird. Oder anders gesagt: Frauen wollen vergewaltigt werden, wie dieser Twitter-User auch heute noch konstatiert.

Tweets, wie die hier gezeigten, sind ein Indiz dafür, dass es auch heute gesellschaftliche Strukturen geben muss, die sexuelle Gewaltphantasien begünstigen. Sei es die offen plumpe Behauptung, Frauen wollten vergewaltigt werden, oder die subtilere Variante, die, wie im Fall Lohfink geschehen, den Kleidungs- bzw. Lebensstil des Opfers zum Aufhänger nehmen. Es wird bezweifelt, ob eine Vergewaltigung einer sexuell aktiven und „aufreizend“ gekleideten Frau überhaupt möglich sei, oder das Opfer nicht zumindest mitschuldig an der an ihr begangenen sexuellen Gewalt sein muss.

Es ist also nur scheinbar ein Paradox, dass gerade diejenigen, die die Existenz einer Vergewaltigungskultur in Deutschland so vehement leugnen, diese öffentlich am lautesten reproduzieren. Letztlich sind die Hetzer_innen davon überzeugt, dass das Ausleben der männlichen Sexualität am, ihrer Meinung nach, eigens dafür existierenden weiblichen Körper, gar keine Vergewaltigung sein kann. Diese offenkundig real existierende Rape Culture gilt es bekämpfen.

Deshalb rufe ich dazu auf am nächsten Prozesstag am Montag, den 8. August (ab 8:30 Uhr, siehe Facebook) vor dem Amtsgericht Tiergarten in Berlin zur Solidaritätsdemo für Gina Lisa Lohfink zu erscheinen und der Vergewaltigungskultur in Deutschland offensiv entgegenzutreten

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