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09.09.2016

01.12.19

Die Friedliche Revolution

Aus heutiger Sicht ist der friedliche Verlauf der 1989er-Revolte ein Wunder. Aus heutiger Sicht.

In den vergangenen Wochen durfte die deutsche Öffentlichkeit in aller Ausgiebigkeit den Untergang der DDR zelebrieren. In keiner Festrede, in keinem Bericht hat der Topos vom „Wunder der Friedlichen Revolution“ gefehlt, wobei die Verwunderung vor allem dem Faktum galt, dass unter den Aufständischen keine Toten zu beklagen waren. Würden morgen in Berlin, Leipzig, Frankfurt, Stuttgart und München Bürger (unangemeldet!) zu Zehntausenden auf die Straße gehen und gegen die Grundpfeiler der nicht mehr sozialisitschen sondern nun kapitalistischen Gesellschaft revoltieren: Sie stünden Hundertschaften von vollvermummten Polizisten in schweren Panzeruniformen mit verschiedenen Handfeuerwaffen gegenüber, wären von haushohen Wasserwerfern und Räumpanzern umzingelt, Helikopter dröhnten über ihren Köpfen, stets bereit, sie mit zentnerweise Rauch- und Tränengasgranaten einzudecken – und dies wäre nur die erste von drei möglichen Eskalationsstufen bis hin zum unangekündigten Schusswaffeneinsatz. Es wäre wahrlich ein Wunder, wenn derartige Proteste für die Demonstranten unblutig verlaufen würden.

Als sich im Oktober 1989 Bürger des vogtländischen Plauen in großer Zahl mit den Prager Botschaftsflüchtlingen solidarisierten, die im Zug durch die Stadt rollten, zog die örtliche Polizei rasch ihre Kräfte zusammen und erhielt auch bald Unterstützung von Kampfgruppen. Ein (!) Helikopter sollte die Demonstranten weiter einschüchtern. Auch die Feuerwehr wurde um Unterstützung gebeten und ging dann mit einem umgebauten Spritzenwagen gegen die Menge vor. Das Fahrzeug wurde jedoch rasch von den Protestierenden demoliert, und die Sicherheitskräfte resignierten vor deren schierer Masse und erhielten keinen Befehl zu entschiedenerem Vorgehen. Da hatten Demonstranten im freien Westen schon mehr auszuhalten gehabt: Bürger, die gegen die Atomindustrie in Grohnde, Brokdorf, Gorleben und zuletzt in Wackersdorf protestiert hatten, hatten zu Hunderten teils schwere Verletzungen von Wasserwerfern, Gasgranaten und Schlagstöcken davongetragen. Tieffliegende Polizeihubschrauber gehörten in der guten alten BRD zum repressiven Standardrepertoire gegen solche, die sich den Interessen der Wirtschaft oder eines korrupten Ministerpräsidenten entgegenstellten.

Auch in Dresden hatten sich Anfang Oktober 1989 kritische Situationen ergeben, in denen Tausende von Demonstranten der Volkspolizei gegenüberstanden, die sodann Unterstützung von Spezialeinheiten der NVA erhielten. Die Nerven lagen auf beiden Seiten blank, die Demonstranten hatten begründete Angst um ihr Leben und um ihre Freiheit. Es kam zu Prügelszenen, die nach den Berichten der Augenzeugen und dem spärlichen Filmmaterial aber eher den Charakter der Selbstverteidigung der zahlenmäßig unterlegenen Staatsmacht gegenüber der größeren Masse der Demonstranten hatten. Weiters kam es zu Verhaftungen in größerer Zahl, jedoch nicht zum Einsatz von Wasserwerfern oder anderen Waffen.
In Leipzig standen schließlich am 9. Oktober 1989 etwa 70000 Bürger 8000 Sicherheitskräften gegenüber. Zudem hatten sich Tausende von Stasi-Leuten unter die Demonstranten gemischt, mit dem Ziel, einzelne Agitatoren zu isolieren. Es kam zwar vereinzelt zu Verhaftungen, doch ernstlich behindert wurde die Demonstration dadurch nicht – obwohl der Tagesbefehl auf Unterdrückung der Demonstration gelautet hatte. Die meisten der Stasileute wurden indes von den Demonstranten entlarvt und weggebrüllt.

Auch in der BRD gibt es eine lange Tradition des Einschleusens von V-Leuten oder Mitgliedern des Repressionsapparates in die Reihen der Opposition. Anders als in der DDR ist hier jedoch bis heute stets das Ziel, diese als Agents Provocateurs einzusetzen, um die Versammlung dann mit enthemmter Gewalt auseinandertreiben zu können. Zuletzt geschehen beim G-8-Gipfel in Heiligendamm, mit einiger Wahrscheinlichkeit aber auch bei den G-20-Protesten in Hamburg. Dort haben Olaf Scholz, sein Innensenator Grote und ihr Oberpolizist Dudde vorgeführt, was in der BRD unter „moderner Polizeiarbeit“ zu verstehen ist: Gegen etwa 70000 angemeldete (!) Demonstranten wurden 21000 Polizisten aufgeboten, darunter auch schwerbewaffnete SEK-Kräfte. 32 willkürlich und unrechtmäßig an ihrer Arbeit gehinderte Journalisten, Tausende drangsalierte Demonstraten und Hunderte von zusammengeknüppelten und -gepfefferten Demonstrationsteilnehmern und unbeteiligten Zivilisten, denen jedes Recht genommen wurde, gegen ihre Peiniger vorzugehen und eine vulgäre wie lächerliche Hetze gegen links, die breite Teile der bundesdeutschen Bevölkerung apathisch abnickten sind einige der hier zu nennenden Stichworte.

Als dann im vergangenen Jahr Hunderttausende empörter Franzosen auf die Straße gingen, um für nicht mehr zu streiten als einen auskömmlichen Arbeitslohn, erging es ihnen nicht besser: Im Laufe der Proteste, die sich nun seit über einem Jahr hinziehen, wurden 2448 Demonstranten verletzt, Hunderte in Haft genommen, viele von ihnen wurden schwer verletzt durch sogenannte Gummigeschosse. Die Rede ist allein von 25 ausgeschossenen Augen bis Juli 2019. Die Tagesschau und ähnliche Nachrichtenformate beschränken sich weitgehend darauf, die Demonstranten als einen Haufen von „Chaoten“ darzustellen, dann wieder als Rechts- oder auch als Linksradikale. Die meisten Deutschen, die sich diesem Nachrichtenstrom hingeben, schütteln nur den Kopf über den bedauernswerten Macron in diesem so schwer regierbaren Land. Und so lässt sich der Auto-Nerd Jean Pierre Kraemer von einem Rheinmetall-Presseheinz wie ein Kind im Spielzeugladen erklären, dass ein 20-Tonnen-Stadtpanzer („Sonderwagen 5“, aka Survivor; in Sachsen auch gerne mit Nazi-Sitzstickerei ausgeliefert) mit „Reizgas- oder Nebelgranaten“ und „modularer Waffenstation mit Doppelbewaffnung“ („Ups, da hatten wir aus Versehen scharfe Munition im Rohr“) angesichts der „heutigen Sicherheitslage“ eben notwendig sei und durchaus gegen die Bevölkerung anzuwenden ist, sollte sich diese als unbotmäßig erweisen. Zur gleichen Zeit genießt das deutsche Fernsehpublikum die Bilder von den Demonstrationen in Hongkong, bei denen die Staatsmacht offen in Frage gestellt wird. Über Monate hinweg verhalten sich die dortigen Repressionsorgane zurückhaltender als dies in Hamburg und Frankreich der Fall gewesen war. Fast schon waren die westlichen Medien enttäuscht, bis – endlich – nach sechs Monaten am 8.11. der erste Tote zu vermelden war, dem am 15.11. ein weiteres Opfer folgte.

War die Friedliche Revolution in der DDR möglicherweise ein Wunder, verursacht wahlweise durch Unstimmigkeiten im Politbüro oder die Einsicht, dass das Proletariat das Staatssubjekt ist: Eine friedliche Revolution im alternativlosen Deutschland wäre definitiv eines.

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