« Kritische Perspektive

Nachrichten und Kritik

Meistgelesen im November

Der Freier

09.09.2016

20.09.19

Rechtsextreme Biographien und bürgerliche Kontakte

Normalisierung und "Sachzwänge"

Das Sankt Florians Prinzip der Normalisierung und die Sachzwänge

In Deutschland gibt es momentan eine Diskussion über die extreme Vergangenheit rechtsextremer Politiker. Öffentlichkeit und Medien zeigen sich geschockt über die Details, die ans Tageslicht kommen. Der augenscheinliche verbale Ausrutscher einer Journalistin, die in einer Live-Sendung eine CDU-AfD Koalition als „bürgerlich“ tituliert hatte, sorgte für einen entsetzen Aufschrei der Öffentlichkeit.

Dabei wird übersehen, dass die Medien jahrelang die Verbindungen von deutschen Politikern zu Extremisten im Ausland ignorierten. Zudem hat Deutschland kein Alleinstellungmerkmal hinsichtlich solcher Vorgänge und deren Präsentation in den Medien.

Aus der jahrelangen Tätigkeit als Auslandskorrespondent weiß ich, dass dieser Missstand nicht unbedingt an den Journalisten liegt. In einer Version des altbekannten Sankt Florians Prinzips, werden von einem bürgerlichen Publikum extremistische Tendenzen gern so lange ignoriert, bis der Bezug zum eigenen Umkreis unübersehbar wird. Ein Beispiel dafür ist der Premierminister Ungarns, Viktor Orban, dessen offen rassistische und rechtsextreme Politik sehr lange von der Europäischen Volkspartei und vielen Medien in der EU ignoriert wurde.

Dagegen wurde im Fall des früheren Premiers Alexis Tsipras dessen kolportierte kommunistische Vergangenheit zum Politikum. Dass Tsipras Einstieg in die griechische Politik, zu Zeiten der Schüleraufstände in den Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts mit dem Ticket des Synaspismos, einem früheren Einheitsprojekt der Linken mit der Kommunistischen Partei Griechenlands stattfand, reichte der europäischen Boulevardpresse, um den im ersten Halbjahr 2015 renitenten Sparkursgegner zum „halbstarken Kommunisten“ zu erklären. Die sprachlichen Attribute, die der Person Tsipras und seinem Finanzminister Yanis Varoufakis seinerzeit verpasst wurden, dienten durchaus dazu, beide Politiker als fern von einer politischen Normalität zu präsentieren.

Dass der erwähnte Synaspismos 1989-1991 zusammen mit der konservativen Nea Dimokratia koalierte, abstimmte und arbeitete, um die Auswüchse der Korruptionsskandale der sozialdemokratischen PASOK aufzuarbeiten, wurde 2015 geflissentlich übersehen. Der damalige Vorsitzende der Nea Dimokratia hieß Konstantinos Mitsotakis. Der mittlerweile verstorbene, frühere Premier Griechenlands war Vater des heutigen Regierungschefs in Athen, Kyriakos Mitsotakis.

Sachzwänge und willkommene Reformer

Mitsotakis Junior, der im Juli die Wahlen gewann und Premier wurde, ist ein von den Medien gefeierter „Reformer“. Unter ihm, so scheint es gemäß den Medienberichten, wird Griechenland wieder zu einem normalen, gleichwertigen Mitglied der Europäischen Union. Wirtschaftspolitisch setzt Mitsotakis im Prinzip den Kurs seines Vorgängers fort. Er sorgt für Steuererleichterungen für Unternehmer, Privatisierungen und für Ausnahmen von den Tariflöhnen in Sonderwirtschaftszonen.

Innenpolitisch hingegen hält sich Mitsotakis an eine Agenda, die das befriedigt, was in den Medien gern als rechtspopulistische Politik bezeichnet wird. Mitsotakis, der persönlich eher als feingeistiger konservativer Liberaler bezeichnet werden kann, muss sich dem Druck der innerparteilichen Gleichgewichte der Nea Dimokratia beugen.

Eine „Vogelschiss“-Debatte auf Griechisch

„Was interessiert es einen heutigen 17-Jährigen, der zum ersten Mal wählen geht, was vor fünfzig Jahren geschah“, kommentierte Mitsotakis hinsichtlich einer Diskussion über den Geschichtsunterricht an griechischen Schulen. Dort sollen die Schüler nicht mehr die Hintergründe zur Ermordung von Grigorios Lambrakis erfahren. Lambrakis, ein führender Politiker der linken Oppositionspartei EDA (Eniea Dimokratiki Aristera – Vereinigte Demokratische Linke), Mediziner, Leichtathlet und Friedensaktivist wurde am 22. Mai 1963 Opfer eines politischen Attentats in Thessaloniki.

Als Sportler holte Lambrakis Medaillen für Griechenland, er hielt über 23 Jahre, bis 1959 den griechischen Rekord für Weitsprung (7,37 m). Als Mediziner wurde er zum lebenden Beispiel dafür, dass es auch in modernen Zeiten möglich ist, dem Eid des Hippokrates Folge zu leisten.

Er war somit bereits vor seinem Eintritt in die Politik ein Idol. Als Politiker initiierte er in Griechenland einen Friedensmarathon auf der historischen Strecke von Marathon nach Athen. Dieser wurde von der Regierung von Konstantinos Karamanlis im Sinn der Königinmutter Friederike von Hannover verboten. Karamanlis, der Ältere, ist der spätere Gründer der Nea Dimokratia.

Lambrakis lief, geschützt durch die parlamentarische Immunität, allein und mit einem Friedensplakat am 21. April 1963 den Marathon. Er erreichte damit national und international eine große Medienpräsenz. Dies war den Mächtigen in Athen ein Dorn im Auge. Anlässlich einer weiteren Friedensdemonstration, in Thessaloniki am 22. Mai wurde Lambrakis von zwei gedungenen, rechtsradikalen Schergen von einem fahrenden Piaggio APE Dreiradmotortransporter aus niedergeschlagen und verstarb wenige Tage später an den schweren Kopfverletzungen.

Vor Ort waren knapp 180 Polizisten, darunter der lokale Generalinspekteur der Gendarmerie Nordgriechenlands Vizegeneral, Konstantinos Mitsou, sowie der Polizeichef von Thessaloniki, Oberst Efthymios Kamoutsis.

Die geballte Polizeimacht schütze faktisch eine Horde gewaltbereiter rechtsextremer Demonstranten. Angesichts der Gefahr hatte Lambrakis noch in ein Megaphon gesprochen, „Achtung, Achtung. Hier ist der Abgeordnete Lambrakis. Als Vertreter der Nation und des Volkes klage ich an, dass es gegen mich einen Mordplan gibt. Ich rufe den Minister für Nordgriechenland, den Präfekten, den Staatsanwalt, den General der Gendarmerie Mitsou, den Direktor der Polizei und den Kommandeur des Staatschutzes auf, unsere Versammlung und mein Leben zu schützen.“

Statt dem Hilferuf zu folgen, ließen die Polizisten das Fahrzeug der Mörder durchfahren und hinderten die Attentäter auch nach dem Anschlag nicht an der Flucht. Außer Lambrakis wurde auch der linke Parlamentarier Giorgos Tsarouchas Opfer rechtsextremer Schlägertruppen. Selbst im Krankenwagen wurde Tsarouchas, dessen Leben nur durch das beherzte Eingreifen von Bürgern gerettet werden konnte, noch angegriffen. Die Polizei blieb bei all dem nur tatenloser Zeuge.

Die Causa Lambrakis landete auf dem Tisch des jungen Untersuchungsrichters Christos Sartzetakis (später Staatspräsident). Sartzetakis analysierte, von der Polizei und seinen Vorgesetzten systematisch behindert, die Fakten und kam zum Schluss, dass es sich um ein von höchsten Regierungskreisen initiiertes Attentat handelte. Der Fall wurde, mit geänderten Namen der Hauptdarsteller von Vasilis Vasilikos zum politischen Roman „Z“, und in der Verfilmung von Costas Gavras zu einem international bekannten Skandal der jüngeren griechischen Geschichte.

Als Reaktion auf den politischen Mord fragte sich der Premier Konstantinos Karamanlis im Parlament, „wer regiert dieses Land?“ Karamanlis, in dessen politischer Karriere Wahlfälschungen, systematische Jagd auf Linke und Sozialdemokraten, sowie zahlreiche Menschenrechtsvergehen der Polizei fielen, gab sich geschockt und überwarf sich mit dem Königshaus. Schließlich kam es zu Neuwahlen, welche der Zentrumspolitiker Georgios Papandreou am 3. November 1963 mit 42,04 Prozent gewann. Karamanlis floh unter falschem Namen (Triantafyllides) nach Paris und lebte dort bis zum Sturz der Militärdiktatur (1967-74) im Exil.

Der Machtwechsel von einer rechten Regierung zum Zentrumspolitiker Papandreou wurde vom „tiefen Staat“ als „kommunistische Gefahr“ gesehen. Es kam daher am 21. April 1967 zum Putsch faschistischer Obristen. Griechenland wurde Militärdiktatur und auch der gerade sechs Monate alte Kyriakos Mitsotakis kam mit seiner Familie unter Hausarrest. Ein Umstand, den der heutige Premier Griechenlands gern in Anekdoten erzählt. Er wäre mit sechs Monaten der jüngste „politische Gefangene“ gewesen, meint er.

Trotzdem möchte er den heutigen Schülern Griechenlands dieses geschichtliche Wissen vorenthalten.

Pars pro toto – rechtsradikale Lebensläufe in der Nea Dimokratia

Solch ein Widerspruch wirft Fragen auf. Cui bono? Wem nützt das (Ver)schweigen? Pars pro toto sei der Lebenslauf von Achilleas Lioulias genannt, der mit 309 Wahlstimmen beim letzten Parteikongress den 11. Platz des im 150 Plätze umfassenden politischen Ausschuss der Nea Dimokratia gewann. Lioulias ist „stellvertretender Sekretär für das ökumenische Griechentum“. Er hält diesen Posten seit 2016 inne. Damals wurde er sogar auf den zweiten Platz des politischen Ausschusses gewählt.

In öffentlichen Statements gibt sich Lioulias als Politiker, der in der Tradition von Konstantinos Mitsotakis steht. Schließlich ist er mit der religiös manifestierten Wahlverwandtschaft des „Koumbaros“ von Kyriakos Mitsotakis Lieblingsneffen und Berater eng mit der Familie des Premiers verbunden.

Lioulias vergisst dabei gern einige Details seines Lebenslaufes. Lioulias war in seiner Jugend führendes Mitglied der faschistischen Partei des „4. August“, welche vom bekennenden Faschisten Konstantinos Plevris gegründet wurde. Jener Plevris, der im Januar 2007 zu den Mitorganisatoren der Demonstration gehörte, welcher der aktuell in Deutschland vielbeachtete AfD-Politiker Andreas Kallbitz zusammen mit einer Abordnung der NPD beiwohnte.

Die „Partei des 4. August“ diente übrigens auch dem Führer der Goldenen Morgenröte, Nikolaos Michaloliakos, als Sprungbrett in die Politik. Sie verdankt ihrem Namen dem Putsch des Faschisten Ioannis Metaxas vom 4. August 1936 und symbolisiert dessen „Machtergreifung“. Metaxas, eigentlich ein Bewunderer von Goebbels und Hitler, hatte anders als die nationalsozialistischen Vorbilder hinsichtlich des Antisemitismus eine differenzierte Einstellung.

Ebenso wie Hitler und Mussolini ließ er im „Kampf gegen die kommunistische Gefahr“ tausende Bürger internieren und errichtete ein faschistisches Staatssystem. Im Weltkrieg verhielt sich Metaxas zunächst neutral, bevor es angesichts der Expansionsgelüste von Mussolini am 28. Oktober 1940 zum Krieg mit Italien und damit zum Eintritt Griechenlands in den Krieg an der Seite der Alliierten kam.

Die Partei des 4. August wählte als Emblem ein eckig gezeichnetes Omega auf weißen, runden Grund, welcher von einer roten Füllfarbe umgeben war. Im Prinzip handelt es sich um die Hakenkreuzfahne, mit eckigem, ans Hakenkreuz erinnerndem Omega anstelle des Symbols der NSDAP. Der Parteigründer Konstantinos Plevris ist bekennender Antisemit und Holocaustleugner.

Die Aktivitäten der Partei des 4. August wurden von den Sicherheitsorganen der faschistischen Obristen (1967-74) minutiös protokolliert, obwohl die Partei als eine der wenigen politischen oder gesellschaftlichen Vereine auch unter den Obristen zugelassen war. Schließlich arbeitete Plevris für den Putschisten und Innenminister der Diktatur, Ioannis Ladas, mit dem er „Koumbaros“ ist. Plevris selbst bezeichnet die Partei des 4. August als „Gebärmutter aller nationalistischen Bewegungen“, und hat damit offenbar Recht, zumindest wenn der spätere Werdegang der Mitglieder in der griechischen Politik als Grandmesser herangezogen wird.

Für Plevris liegt der Grund in der Beobachtung der Parteimitglieder durch die Geheimpolizei der Diktatoren im offenen Antisemitismus der Partei des 4. August begründet. So schreibt er jedenfalls in seiner eigenen Biographie. Heute ist Konstantinos Plevris Mitglied der rechtsextremen Partei LAOS, aus der sein Sohn Thanos Plevris in die Nea Dimokratia wechselte. Politiker, auch vom rechten Flügel der Nea Dimokratia, beschreiben das Phänomen der fliegenden Wechsel extrem rechter Nationalisten zwischen den Splitterparteien hin zur Nea Dimokratia und wieder zurück gern mit dem Stichwort, „das rechte Mehrfamilienhaus“. Die „50 shades of brown“ oder „50 shades of fascism“, wie Griechen frei dieses Phänomen gern sarkastisch kommentieren, sind in vielen Parteien vom rechten Rand bis zum politischen Zentrum präsent. Für sie sind so genannte „bürgerliche Koalitionen“ bereits Realität.

In der Personalie Lioulias gibt es dennoch Einträge, die auch hartgesottene Zyniker erschrecken können. Ein unter der Protokollnummer 9141/143554 vom 19.6.1970 von der Generaldirektion der Nationalem Sicherheit der Diktatoren gemachter Eintrag weist Lioulias als lokalen Parteiführer in Böotien der Organisation des 4. August aus.

Vor und während der blutig niedergeschlagenen Studentenaufstände von 1973 hatte Lioulias eine führende Rolle als Scherge der Obristen gegen die Studenten. Er versuchte auch, Studenten für den Verrat an ihren Kommilitonen zu rekrutieren. Er wurde von Zeugen beobachtet, wie er mit einer Pistole bewaffnet durch die Gebäude der Medizinischen Fakultät Athens schritt.

Wochen vor dem Militärputsch der Obristen auf Zypern, der 1974 zum Sturz der Obristenjunta in Athen und zu einem Krieg mit der Türkei führte, hatte Lioulias in der Universität über den nahenden Putsch referiert. Zeitgenossen beschreiben ihn als überzeugten Anhänger der Faschisten.

In einem Pressebericht beschreibt der Journalist Grigorios Papadatos nach dem Sturz der Obristen im Oktober 1974 Lioulias als einen Medizinstudenten, der neben einer Waffensammlung über Dienstausweise als Offizier der griechischen Armee und als Polizeiinspektor verfügte. Papadatos bringt Lioulias auch mit der Erschießung von Studenten bei der Niederschlagung des Studentenaufstands am 17. November 1973 in Verbindung.

Schließlich war Lioulias bei der Beerdigung des obersten Folterers der Diktatur, des Polizisten Evangelos Mallios im Dezember 1976 anwesend. Mallios gehörte zu den ersten Opfern der Terrorgruppe des „17. November“. Weil rechte Besucher der Beerdigung, darunter auch Nikolaos Michaloliakos, gewalttätig wurden, gab es im Anschluss daran staatsanwaltschaftliche Ermittlungen, bei denen auch Lioulias vorgeladen wurde.

Heute möchte Lioulias von all dem nichts wissen und behauptet steif und fest, er sei bei der Partei des 4. August lediglich Mitläufer gewesen und wäre seit 1974 treuer Anhänger der Nea Dimokratia.

Als solcher fand er es angebracht, seine Rede auf dem Parteikongress der Nea Dimokratia im Dezember 2018 mit einem Zitat von Perikles Giannopoulos (1869-1910) zu schließen. Giannopoulos war von der genetischen Überlegenheit der Griechen überzeugt und bekennender Nationalist. Heute würde man eine Person mit solchen Ansichten als Nazi bezeichnen. Für die heutigen Nazis Griechenlands, wie Michaloliakos, ist Giannopoulos ein gern gelesener Literat.

Beim Parteikongress der Nea Dimokratia, einer Mitgliedspartei der Europäischen Volkspartei, fielen solche Details den Anwesenden natürlich nicht auf, sie klatschten. Schließlich hatte Lioulias mit „Griechen, habt keine Angst vor der Wahrheit. Die Lügen begraben die Völker“, einen Spruch Giannopoulos zitiert. Die Anhänger der Nea Dimokratia sind überzeugt, dass ihre, von ihnen lästigen Details der Geschichte befreite „Wahrheit“ zur Glückseligkeit führt.

Meistgelesen im November

Der Freier

09.09.2016

Kritische Perspektive