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Der Freier

09.09.2016

26.04.19  | Theorie

Warum kommt es zur kapitalistischen Krise, lange bevor die gesamte Welt industrialisiert ist?

Frage und Antwort zum Marxschen „Kapital“

Die Frage wird oft gestellt, und ihre Beantwortung bildet ein wichtiges Puzzlestück in der Erklärung der kapitalistischen Krisen:

Das Kapital befindet sich derzeit erneut in einer Phase der Überproduktion, ablesbar an weltweit sinkenden Kapazitätsauslastungen, rückläufigem Produktionsvolumen, und schrumpfendem Nationalprodukt in allen wichtigen Industrieländern.

Schaut man sich in der Welt um, so finden sich überall noch Wachstumspotenziale. Nicht nur fehlt einem Großteil der Menschen das Nötigste, ebenso ist eine Vielzahl von Ländern noch immer industriell unterentwickelt. Warum kann das Kapital seine Krise nicht durch die Versorgung oder die Industrialisierung dieser Länder lösen?

Wir müssen zuerst die beiden Seiten der Frage unterscheiden. Was die Versorgung der Milliarden Bedürftigen angeht – und auch in den Industrieländern ist ein großer Teil der Bevölkerung unterversorgt –, so lässt sich recht einfach antworten: das Ziel der kapitalistischen Produktion ist nicht die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sondern der Profit. Für den einzelnen Kapitalisten muss der Verkauf seines Produkts nicht nur sein für Löhne sowie für Rohstoffe, Maschinen, Gebäude usw. vorgeschossenes Kapital ersetzen, sondern darüber hinaus den gesellschaftlich durchschnittlichen Profit liefern. Gelingt der Verkauf nur bei unterdurchschnittlichem Profit, so war die Produktion unrentabel und der Kapitalist hätte besser in einen anderen Produktionszweig investieren sollen. Gelingt der Verkauf gar nur mit Verlust, so hat der Kapitalist einen Teil seines für Rohstoffe usw. und Arbeitskräfte vorgeschossenen Kapitals verloren. Er wird im nächsten Jahr weniger Rohstoffe und weniger Arbeitskräfte auf dem Markt einkaufen können, muss seine Produktion also einschränken. Der Kapitalist kann, bei Strafe des Untergangs, seine Ware nicht verschenken und sie auch nicht unter ihrem Wert verkaufen. Solange den Milliarden Menschen, deren grundlegende Bedürfnisse nicht befriedigt werden, das Geld fehlt, sind sie keine potenziellen Konsumenten. In Besitz von Geld kommen sie allerdings nur durch Verkauf ihrer Arbeitskraft, der ihnen aber misslingt, weil es keine Nachfrage danach gibt. Die erste Seite der Frage mündet also in die zweite: warum findet die Industrialisierung, die allein Nachfrage nach Arbeitskräften schaffen könnte, in diesen Ländern nicht statt?

Diese Industrialisierung ist erstmal möglich, ohne dass die Bevölkerung dieser Länder über Geldmittel verfügen muss. Im gerade besprochenen Fall ging es um den Export des Kapitals als Ware: als Produkt, das an einen zahlungskräftigen Konsumenten verkauft werden muss, damit das für seine Produktion vorgeschossene Geld nebst Profit zum Kapitalisten zurückfließen kann. Beim nun zu untersuchenden Fall wird das Kapital als Kapital exportiert. Es geht in Form neuer Produktionsanlagen, Geldmittel zum Erwerb von Grundstücken und Rohstoffen, sowie von Arbeitslöhnen ins Ausland. Ziel ist nicht der Verkauf der exportierten Anlagen, sondern der Verkauf der mit ihnen hergestellten Waren. Warum findet dies nicht statt?

Das knifflige an dieser Frage ist, dass Kapitalexport und Industrialisierung seit Jahrhunderten stattfanden und immer noch stattfinden. Historisch war die Industrialisierung Indiens, Amerikas, Australiens, Südostasiens und seit den 1990er Jahren Chinas ein Abflusskanal für die kapitalistische Überproduktion. Die Errichtung einer kapitalistischen Produktion sorgte für eine große Nachfrage nach Arbeitern, die aus der bis dahin für sich selbst produzierenden Landbevölkerung rekrutiert wurden. Zur Versorgung der Fabrikarbeiter entwickelt sich ein innerer Markt, der wiederum einen Antrieb zur Entwicklung kapitalistischer Landwirtschaft liefert. Es spielt dabei keine Rolle, ob das betreffende Land vorher nichtkapitalistisch ist, oder ob die Bevölkerung z.B. aus kleinen Warenproduzenten besteht. Die zusätzliche Nachfrage nach Arbeitskräften vergrößert in jedem Fall den kapitalistischen Markt. Der Kapitalexport führt indirekt zu einer Ausbreitung kapitalistischer Produktion, wodurch neue Nachfrage entsteht und die kapitalistische Bevölkerungsbasis sich ausdehnt, was wiederum Möglichkeiten für weiteren Kapitalexport bereitete.

Warum fand diese Dynamik historisch statt, aber kommt heute ins Stocken, obwohl sowohl überschüssiges Kapital wie unterversorgte Bevölkerung, ja zum Teil noch Reste von kapitalistisch nicht erschlossenen Gebieten (z.B. in Indien, Zentralasien, Mittelamerika) vorhanden sind?

Die Antwort ist nicht schwer, aber sie wird meist an der falschen Stelle gesucht. Damit ein Kapitalexport stattfinden kann, muss die neu errichtete Produktion billiger sein als die bisherige. Der Grund, warum die Industrialisierung z.B. Zentralasiens nicht stattfindet, ist, dass bei Aufbau neuer Produktionsanlagen dort die Produktion nicht verbilligt, sondern verteuert würde gegenüber der bestehenden Produktion in Europa und Asien, u.a. weil die niedrigeren Arbeitslöhne die höheren Transport- und Kommunikationskosten sowie Zuschläge für politische Risiken meist nicht aufwiegen können.

Es lässt sich kein abstrakt-theoretischer Grund angeben, warum die gegenwärtige Überproduktion nicht auf ähnlichem Wege Abfluss findet, wie z.B. die der letzten zwanzig Jahre nach China. Die Antwort ist ähnlich wie auf die Frage, warum das Kapital einige Produktionsschritte automatisiert, während es andere, obwohl ihre Automatisierung technisch möglich wäre, weiter noch von Hand erledigen lässt. Fragen wir den einzelnen Kapitalisten, warum er den Aufbau neuer Produktionsanlagen oder die Automatisierung unterlässt, so wird er uns sein Bilanzbuch öffnen und uns genau dies vorrechnen.

Mehrere theoretische Schlüsse sind hieraus jedoch zu ziehen:

  1. Das Kapital kommt in die Krise, auch wenn abstrakt gesehen noch Ausdehnungsmöglichkeiten vorhanden sind. Es lässt sich kein abstrakter Grund angeben, warum die Industrialisierung der letzten nicht-kapitalistischen Gebiete nicht stattfindet, oder warum einige kapitalistisch unterentwickelte Regionen keinen Kapitalexport erhalten, außer eben dem, dass diese Industrialisierung für das einzelne Kapital nicht profitabel ist.

  2. Wesentlich für die Beschränkung der kapitalistischen Ausdehnung sind die hohen Transportkosten. Betrachten wir die Weltwirtschaftskrise 1929-1936, so trug zur Überwindung dieser Krise wesentlich die Entwicklung neuer Transport- und Kommunikationsmittel bei (Automobil, Straßenbau, Telefon). Die Senkung der Transportkosten ermöglichte die Einbeziehung neuer Landstriche und Länder in die kapitalistische Produktion, wodurch die Basis der kapitalistischen Produktion langfristig erweitert werden konnte.

  3. In diesem Sinne sind auch die derzeitigen Investitionen Chinas in die „Neue Seidenstraße“ zu verstehen, die die Landmasse von China bis Europa mit einem Netz von Straßen, Eisenbahnlinien und Häfen überziehen sollen. Sie sind genau ein solcher Versuch, die Transportkosten zu senken, und dadurch zum einen weiteres europäisches Kapital nach China zu ziehen, zum anderen die Investition chinesischen Kapitals in die zentralasiatischen Länder zu ermöglichen (vor allem Bergbau, Landwirtschaft).

  4. Die räumliche Expansion des Kapitals wird von der Überproduktion, der Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten, getrieben. Jede Ausdehnung fungiert als temporäre Kompensation für die Überproduktion, da sie mit einer großen zusätzlichen Nachfrage nach Produktionsmitteln, Infrastruktur, Geldmitteln für den Bodenerwerb und die Lohnzahlung usw. einhergeht. Zugleich findet diese Expansion aber nur statt, wenn die neuen Anlagemöglichkeiten profitabler sind als die alten, d.h., wenn sie langfristig gesehen die Profitrate und daher die Überproduktion steigern. Die neu aufgebauten Produktionsanlagen verlangen in der Folge nach einer noch größeren Expansion. Die Geschichte des Kapitalismus muss notwendig an einen Punkt kommen, wo diese Expansion nicht mehr möglich bzw. jede mögliche Expansion unzureichend ist. Dieser Zustand markiert das Ende des Kapitalismus, einen Übergang in eine letzte Phase von wirtschaftlicher Stagnation, Kriegen, Bürgerkriegen und Barbarei.

  5. Kapitalistische Akkumulation und Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise sind untrennbar verknüpft. Träger und Subjekt der kapitalistischen Ausbreitungsdynamik ist das einzelne Kapital. Jede Kapitalanlage muss durch das Nadelöhr der Profitabilität für dieses Einzelkapital hindurch: nicht nur gleicher, sondern höherer Profit. Hieraus ergibt sich allgemein die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Einzelkapitalen und Staat: der Staat wird benötigt, um die Voraussetzungen für die Profitabilität herzustellen (u.a. Ausbildung, Gesundheit und Kontrolle der ArbeiterInnenschaft; Infrastruktur; politische Sicherheit; Zugang zu Ressourcen). Diese Funktionen befinden sich außerhalb der Sphäre des einzelnen Kapitals, werden von ihm aber benötigt. Sie sind nur über territoriale Herrschaft herstellbar, die sich in der Moderne als Staat etabliert. Die Frage nach dem Zusammenhang von modernem Nationalstaat und Kapitalismus ist falsch gestellt; richtig ist die Frage nach der Abhängigkeit zwischen Staat und Einzelkapital.

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