Nachrichten und Kritik
15.12.18
In einer neuen italienischen Netflix-Serie, „Baby“, werden Kinderprostituierte als gierige Upper Class-Mädchen dargestellt, die ältere Männer austricksen
Von Sonia Giovanotti.
Seit Anfang Dezember können Netflix-AbonnentInnen im Internet die neue Serie „Baby“ anschauen. In der italienischen Serie geht es um junge Mädchen aus bestem Hause in Rom, die in eine Welt von Sex, Drogen und Geld abrutschen.
Internationale Medien sind vor Empörung außer sich. Die Plattform „End Sexual Exploitation“ ruft zum Boykott der Serie auf und startete eine Petition, um das Unternehmen öffentlich anzuprangern und es dazu zu bewegen, die Serie aus dem Programm zu nehmen.
Das Ausmaß der Entrüstung ist für ItalienerInnen nicht in seiner Gänze nachvollziehbar. Wer in Italien aufwächst, wird ab dem Kindesalter von der Pädo/Porno-Propaganda beschallt und ist mit den Schlagzeilen – die schon lange keine Neuigkeiten mehr sind – um die sogenannten „Baby Squillo“ (jugendliche Escort-Prostituierte) vertraut. Wie besonders kann dieses Phänomen schon sein – in einer Gesellschaft, in der Frauenmorde unkritisch als Eifersuchtsdramen dargestellt auf der Tagesordnung stehen, Migrantinnen ganz selbstverständlich von Menschenhändlern durch das Land verschleppt werden und junge Mädchen kein Konzept von körperlicher Distanz erlernen dürfen (“Es wäre doch so unhöflich dem Onkel das sabbernde Abknutschen zu verwehren, du willst doch nicht, dass er weint..?“).
Es ist die altbekannte Narrative der gelangweilten, verwöhnten Mädchen mit der distanzierten, sozial ambitionierten Mutter und dem hart arbeitendem und daher abwesendem Vater. Zwischen Pubertät und jugendlichem Leichtsinn kulminiert die Identitätssuche schließlich in der Gier nach dem neuesten Smartphone – und damit der Prostitution.
Aktivistinnen aus den USA unterstreichen, dass laut amerikanischer Gesetzgebung jegliche Beteiligung an der Sexindustrie unter 18 Jahren per Definition Menschenhandel ist.
Ich persönlich kann nicht einmal mehr schätzen, wie häufig ich in italienischen Zeitungen über die Jahre Artikel zu den angeblich gierigen, sexverrückten Baby Squillo gelesen habe. Die Mär ist jedoch immer gleich. Diese Mädchen hätten sich im Verborgenen vor den Eltern gemeinsam mit anderen jungen Mädchen einen Spaß daraus gemacht sich mit älteren Männern zu treffen. Grund sei ihr Wunsch nach Luxusklamotten, schicken Handtaschen und neuester Elektronik. Jede einzelne Berichterstattung kommt schließlich – gira e rigira, über kurz oder lang – auf das Smartphone zurück. Sie werden als etwas dümmlich dargestellt, immerhin darf eine paternalistische Arroganz im Hinblick auf die ihnen unterstellte Kurzsichtigkeit nicht fehlen. Gleichzeitig schreibt man ihnen aber auch eine ungewöhnliche Raffiniertheit zu – diese jungen Lolitas spielen mit ihren Reizen und machen die erwachsenen Männer völlig hilflos, klagt es aus Zeitungen und Polittalks. Nymphomaninnen, seien das, die ihre frisch erblühte und doch unhaltbare Sexualität über diese Kontakte auslebten und den wehrlosen Männern dabei nur das Geld aus der Tasche zögen.
Denn am Ende sind Frauen wie Mädchen immer selbst schuld – sie sind Schlampen, sie wollen es doch auch, immerhin haben sie Geld bekommen, um die armen Männergefühle scheren sie sich gar nicht.
Ich erinnere mich an eine Unterhaltung in Rom, vor ein paar Jahren mit einem Fahrradverkäufer auf dem Markt Porta Portese, wo Sonntags von Haushaltswaren, über Textilien bis hin zu seltenen Tieren wirklich alles käuflich ist. Ich war dort mit einer Freundin und einem Bekannten aus Deutschland, der sich ein Fahrrad für die Dauer seines Erasmus-Aufenthaltes kaufen wollte. Während er auf der überfüllten Straße versuchte das Rad auszuprobieren, ließ der Händler – ein verschwitzter, halbnackter Mann Ende fünfzig – es sich nicht nehmen uns junge Frauen zu unserem guten Aussehen zu beglückwünschen, „complimenti..!”. Neben der unerwünschten Avancen ließ er auch fallen, dass wir nicht nur hübsch sondern auch standhaft seien (nicht, dass er uns persönlich kannte), „nicht so wie diese Rumäninnen“.
„Alle Rumäninnen sind Nutten.“ betonte er mehrmals.
Ich war schon lange auf 180. „Ach was, alle?“, meine Freundin zog mich schon am Ärmel.
„Ja alle! Alle Rumäninnen sind Nutten. Die sind dafür gemacht um Sex zu machen. Wollen nur Geld und sind tabulos. Alle. Das haben die im Blut“, erklärte er.
„Achso, ist klar – die werden so geboren, dann sind kleine rumänische Mädchen wohl auch schon Nutten bei der Geburt oder was ist deine Logik?“, das Romanaccio, der römische Vugärdialekt, ging schon mit mir durch.
„Eccerto, natürlich“ bestätigte dieser heimliche Völkerkundeexperte, der geklaute Fahrräder nicht einmal umlackiert, ehe er sie in einer ranzigen Ecke zwischen Gemüse-Spiralschneider und Rotwangen-Schmuckschildkröte weiterverscherbelt. „Die sind von klein auf sexgeil und wollen nur Geld. Sono tutte puttane, alles Schlampen.“
Während mich meine Freundin wohlweislich aus der Affäre zog, bevor ich zum stereotypen Cliché der keifenden Italienerin mutierte, zahlte unser Bekannter den absurden Touristen-Preis für das ausgewählte Klappergestell und wir zogen davon.
Nun ist Italien so rassistisch, sexistisch und xenophob, dass ich bei aller Liebe für meine Heimat – und diese Liebe ist groß – nicht mehr dort leben könnte, ohne mich tagtäglich in bis zur Gewalt ausschreitenden Streitereien mit ungebildeten, frauenfeindlichen, gönnerhaft-daherlabernden, ständig körperlich grenzüberschreitenden Italienern zu verstricken. Damit musste ich mich lange schon abfinden. Doch um diese spezielle Diskussion scheine ich nicht umhinzukommen und sie hängt mir zum Halse raus.
Dabei ist völlig austauschbar, welche Gruppe von Frauen da als geldgeile Schlampen ohne Herz und Anstand bezeichnet wird. Aktuell benennt Mann besonders gern Afrikanerinnen, die nicht etwa vor Elend, Krieg und Verfolgung aus ihrer Heimat fliehen und den lebensgefährlichen Seeweg nach Sizilien auf sich nehmen, wo bereits die Menschenhändler auf sie warten – diese Frauen kämen in Wirklichkeit nach Italien um Geld zu machen, Männer auszunehmen, ihren Gelüsten freien Lauf zu lassen. Alles geborene Nutten. Schon praktisch als Argument, wenn die Menschlichkeit von Frauen wegdiskutiert werden soll, um diese weiter zu unterdrücken. Eine Frau, die durch und durch eine wertlose Schlampe ist, kann man auch nicht vergewaltigen – sie will ja Sex. Man kann sie gar nicht schlecht behandeln – sie hat keine Würde. Man müsste das notgeile Luder nicht einmal bezahlen – sie sollte froh sein, wenn der Mann ihr ein paar Euro hinspuckt.
So seien sie eben insgeheim alle, die Frauen. Egal ob Rumäninnen, Afrikanerinnen oder manchmal eben auch junge italienische Mädchen. Kaum im Teenie-Alter, schon ginge die programmierte Promiskuität und die Raffgier mit ihnen durch, vermutlich haben sie es von ihrer Mutter, die muss insgeheim auch eine Nutte sein, auch wenn sie so adrett tut – daher auch die Epidemie der Baby Squillo. Männer könnten dafür rein gar nichts!
Keine Beachtung finden in dieser Tatsachenverdrehung Fakten wie die unvorstellbar hohe Quote von häuslicher Gewalt und sexueller Übergriffe innerhalb des Familien- oder Bekanntenkreises, oder die Armut und die Prostitution durch männliche Familienmitglieder, die die jungen Mädchen an Pädophile verkaufen. Viel verdaulicher ist die Vorstellung der ohnehin schon reichen Kinder, die aus Geldgier und Sexsucht älteren Männern den Kopf verdrehen.
Die Wahrheit verkennend stimmt Netflix mit „Baby“ in die euphemistische Opferbeschuldigung ein.
„Wenn du 16 bist und im schönsten Viertel Roms lebst, dann hast du echt Glück“, führt Protagonistin Chiara im offiziellen Trailer die Zuschauenden in die Handlung ein. „Unsere Welt ist die bestmögliche von allen und obwohl, oder gerade weil alles so perfekt zu sein scheint, brauchen wir ein Geheimnis. Ein Doppelleben.“
“Ich sehe es schon vor mir”, freut sich ihre Freundin Ludovica, “Abends ausgehen, ein schickes Kleid…”
Und dann sehe ich Benedetta Porcarolis Charakter im Bett mit einem gutaussehenden, gepflegten Mann ligen – ihrem Freier; sie weist einen Briefumschlag zurück und betont “Ich brauche kein Geld”. All das zu einer unerträglich langsamen Version von “Girls just wanna have fun”.
Weiterhin keine Erwägung findet die Tatsache, dass Prostitution mit dem 18. Geburtstag eines Mädchens, das Jahre von Gewalterfahrungen und sexueller Ausbeutung erlebt hat, nicht zur selbstgewählten, erfüllenden Karriereentscheidung wird. Aus missbrauchten Mädchen werden traumatisierte Frauen. Die Fähigkeit zu dissoziieren stellt – wie wissenschaftliche Untersuchungen und Berichte von Überlebenden zeigen – eine Grundvoraussetzung für die Arbeit im Sexgewerbe dar. Warum sollte eine 20- oder auch 50-jährige Frau weniger Recht auf Schutz und Würde haben als ein junges Mädchen unter 18 Jahren, wenn doch sie alle in der unterdrückenden Realität des Patriarchats überleben müssen und ohne Ausnahme von männlicher Gewalt betroffen sind? Gerade da, wo sie von einer Unterdrückungsform in die nächste stolpern müssen, weil der Staat davon profitiert sie in der Sexindustrie zu halten, wie das in Deutschland seit der Legalisierung von Prostitution in 2002 der Fall ist.
Es darf aus Altersgründen kein Unterschied zwischen Menschenrechten gemacht werden. Frauen jeden Alters und jeder Herkunft haben ein Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit. Männer hingegen müssen dafür bestraft werden, wenn sie sich Zugang zum Körper von Frauen wie Mädchen erkaufen.
Ist es verwunderlich, dass Kinderpornographie und Mädchenprostitution ein salonfähiges Thema ist? Wer ernstlich schockiert ist hat in den vergangenen Jahrzehnten nicht aufgepasst.
Als Feministinnen der 60er Jahre die Brücke zwischen Prostitution und Frauenhass schlugen.
Als Frauenrechtlerinnen die Vermarktung von nackten Mädchen in Playboy und Hustler anprangerten.
Als Überlebende von Prostitution und Pornographie von den Zusammenhängen zu Menschenhandel und Pädophilie berichteten.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Softpornos Teil der auf Teenager zugeschnittene TV-Shows wie „Pretty Little Liars“ oder „Vampire Diaries“ sind. Hardcore Pornos sowie Videos zu Fetischen aller Art stehen kostenlos und über wenige Klicks von Jungs und Männern zum Konsumieren bereit.
Es ist eine Welt, in der das Objektifizieren und Sexualisieren von Mädchen und Frauen an der Tagesordnung ist. In der die Hemmschwelle für den Gebrauch von immer jüngeren Mädchen als Wichsvorlage immer weiter sinkt. In der Betroffene nur über Introjektion – indem man sich selbst mit den Zuschreibungen durch die Täter identifiziert – überleben können.
Wo Frauenhass derart normal wie legal ist, kann die Glorifizierung von Kinderprostitution im Rahmen einer Netflix-Serie, die wie „nebenbei“ über die jugendliche und dümmliche, notgeile und doch raffgierige Entscheidung junger italienischer Mädels sich zu prostituieren kein Grund zur Überraschung sein.
Die Zusammenfassung von Netflix’ „Baby” auf IMDb verspricht: „Story of Roman teenagers on their journey of self-discovery” – die Geschichte von rumänischen Teenagern auf ihrem Weg zur Selbstfindung. Wie zynisch, wie abgebrüht, wie frauenfeindlich muss eine Gesellschaft sein, um das Thema Kinderprostitution auf diese Weise zu verkennen, zu verdrehen und nicht zuletzt zu vermarkten?
Wer sich passiv von pädophil-pornographischer Propaganda berieseln lässt, die wie eine schlechte Serie im Hintergrund läuft, tut Unrecht. Es gilt, sich aktiv für Menschenrechte stark zu machen. Wollen wir wirklich behaupten, dass uns als Gesellschaft etwas daran liegt, dass alle Menschen in Würde leben können, müssen wir die nicht länger aufschiebbare Notwendigkeit der Bestrafung von Männern verlangen, die Frauen und Mädchen in Not ausnutzen, indem sie sie kidnappen, kaufen und konsumieren.
Die internationale Kritik am Netflix-Konzern, der sich an der sexistischen Narrative bereichert, kann durch diesen Tweet unterstützt werden: