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Der Freier

09.09.2016

20.04.18

#Metoo und das Männerhirn

Im aktuellen „Spiegel“ gibt ein Psychiater Auskunft und Einblicke

Im aktuellen Spiegel (Nr. 15 vom 7.4.2018) wird der Psychiater Peer Briken über „männliches Selbstwertgefühl, die Liberalisierung der Bundesrepublik und die #Metoo-Debatte“ befragt. Briken sagt einige gute Dinge, zum Beispiel, dass das Triebargument Quatsch ist, weil „viel Trieb“ zu haben nicht gleichzeitig bedeutet, sich nicht unter Kontrolle zu haben. Aber er bedient sich auch einiger Topoi, die in der #Metoo-Debatte ständig vor allem von den Herren der Schöpfung wiedergekäut werden. Diese möchte ich mit diesem Text benennen, ich konnte derer 6 Stück ausmachen.

Punkt 1: Die Frage, ob Männer, die übergriffig sind, „krank“ sind oder nicht.

Briken beschreibt, dass es in den USA viel eher die Diagnose „Sexsucht“ gibt als hierzulande. Seine Meinung dazu steht fest:

„Ein privater Therapiesektor, der meines Erachtens nicht ausreichend kontrolliert wird, verdient an einer bemerkenswerten Mischung aus Puritanismus, Sexualfeindlichkeit, Pornografiefeindlichkeit und Religiosität. In Europa erleben wir geradezu das Gegenteil, wir sind hier zurückhaltend mit Krankheitszuschreibungen. In manchen Fällen kann man sicher auch von Verharmlosung sprechen. (…) Mir fiel nur auf, dass bei uns öffentlich niemand [bei den Belästigungsvorwürfen gegen den Regisseur Dieter Wedel] von krankhaftem Verhalten sprach. Das war übrigens auch beim damaligen IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn so. Teile der französischen Gesellschaft sprangen ihm sogar zur Seite, als herauskam, dass er mehrere Frauen genötigt haben soll.“

Briken behauptet also erstens, alles, womit man Sexsucht therapiere, sei sexualfeindlichen, puritanischen Ursprungs. Damit rückt er das, was in den USA Sexsucht genannt wird, in die Ecke der Normalität. Fakt ist aber, dass die Männer, die sich dort wegen Sexsucht behandeln lassen, nicht einfach nur gerne viel vögeln, sondern ihre Pornosucht nicht mehr im Griff haben, mehr als 10 Stunden am Tag Pornovideos schauen, ihre Finanzen nicht mehr hinkriegen, weil sie ihr Geld in die Prostitution stecken, ungeschützten Verkehr massenweise haben, ihre Gedanken nicht vom Thema Sex losreißen können. Und, natürlich, sie haben ein Problem mit Frauen, sie haben ein abwertendes Frauenbild, Probleme, reale Frauen anzusprechen und mit ihnen zu kommunizieren. Sicherlich sind viele Therapiestellen christlich geprägt und damit manchmal vielleicht gar nicht weniger abwertend Frauen gegenüber als die, die sich dort in Behandlung begeben. Aber das Problem dieser Männer ist eben nicht, dass sie gern viel Sex haben.

Das zweite, was Briken hier reichlich verunfallt ist, ist die Gleichsetzung von „der Mann ist krank“ mit „die Tat muss schlimm gewesen sein“. Es ist für die Bewertung dessen, was ein Gewalttäter seinem Opfer angetan hat, nicht relevant, ob er „krank“ ist. Wenn “Teile der französischen Gesellschaft“ es nicht auf die Kette gekriegt haben, Strauss-Kahns Taten eindeutig moralisch zu verurteilen, dann liegt das nicht daran, dass sie ihn für geistig gesund hielten, sondern daran, dass sie Vergewaltigung, Nötigung, Missbrauch an Frauen für nicht so schlimm befinden – „rape culture“ nennt sich das. Heißt das, was Briken hier äußert, dass Taten, die von „gesunden“ Männern ausgehen, augenscheinlich nicht so schlimm sein können? Ja, denn:

„Man muss immer genau unterscheiden zwischen Prozessen, die störungs- und krankheitswertig sind und Prozessen, die der menschlichen Sexualität eingeschrieben sind – Aggressivität und Grenzerfahrungen sind durchaus Teil der Sexualität.“

Alles im grünen Bereich also, ein paar Übergriffen, ein paar „Grenzerfahrungen“, ein bisschen zu aggressiv gewesen – das muss so, keine Sorge. Dass mehr Frauen als Männer Opfer sexueller Gewalt werden, dass mehr Männer als Frauen sexuelle Gewalt ausüben – das muss dann wahrscheinlich auch so, alles in die „menschliche Sexualität“ eingeschrieben. Merke: Männer die Übergriffe begehen sind nicht krank, also sind ihre Taten auch nicht so schlimm. Und sind sie doch krank, dann können sie für ihre schlimmen Taten nichts.

Und damit kommen wir zu drittens: Diese Taten allein mit der menschlichen, Verzeihung, männlichen Psyche zu erklären, greift ein bisschen zu kurz. Wenn man das Problem der Übergriffe individualisiert, entpolitisiert man es und blendet sein Umfeld , seinen Kontext aus. Was hier völlig hintenrunter fällt, ist das „male entitlement“, die gesellschaftliche Stimmung, die Männer dazu ermuntert, sexuelle Übergriffe zu begehen, die ihnen einflüstert, das stehe ihnen zu. Ist ein Mann, der in einer derartig von rape-culture geprägten Umgebung Übergriffe begeht, krank? Und ist das wirklich die Frage, die wir uns stellen sollten? Ist das nicht völlig Wurst, ob Wedel und Strauss-Kahn krank sind (wo ihre „Krankheit“ doch eh nur als Entschuldigung für sie hergenommen würde, und ihre „Gesundheit“ als „die Taten können nicht so schlimm gewesen sein“)? Ist nicht die Gesellschaft krank, die Männern wie Strauss-Kahn zur Seite springt, selbst wenn rauskommt, was er getan hat?

Punkt 2. Männer als Opfer.

Denn wo wir bei #Metoo eigentlich mal davon reden wollten, dass Frauen eigentlich ständig Opfer von verschiedenengrads schwerwiegenden Übergriffen werden, da muss schnellstens derailt – vom Thema abgelenkt – werden. Wo kämen wir hin, wenn Männer mal nicht die wahren Opfer von, mh, allem wären, selbst die wahren Opfer ihrer eigens begangenen Übergriffe?

Briken dazu:

„Wir haben alle das Bedürfnis nach Kontrolle. Und jemand, der in früheren Phasen seines Lebens immer wieder die Erfahrung gemacht hat, eine Situation nicht kontrollieren zu können, kann in der Sexualität besonders gut eine Situation herstellen, die ihm das Gefühl gibt: Hier bestimme ich. Auch deshalb gehen manche Männer zu einer Domina. (…) Denn die Kontrolle behält ja der Mann, weil er zahlt.“

Das völlige Fehlen gesellschaftlicher Analyse hier ist beachtlich. Denn jetzt ist es ja so, dass Frauen in frühen Phasen ihres Lebens durchaus auch Erfahrungen des Kontrollverlusts gemacht haben, und das mehr als Männer, denn Mädchen werden weitaus häufiger missbraucht als Jungen. Wo aber sind all die vorgeschädigten Frauen, die in ihrem Bedürfnis nach Wiedererlangung der Kontrolle Übergriffe begehen oder Männer dafür bezahlen, dass sie an ihnen ihre sexuelle Kontrolle (auf Kosten des Gegenübers) wiedererlangen können? Es ist spannend, wie das so völlig hintenrunterfällt. Jedenfalls haben wir jetzt gelernt: ein Mann, der Übergriffe begeht, das ist ein ganz ein armes Drops, denn ihm ist mal was furchtbares getan worden. Davon, dass nicht jeder Mensch zum Gewalttäter wird, weil ihm mal was getan wurde, davon, dass die andere Hälfte der Menschheit trotz permanenter Unterdrückung und sexuellen Gewalterlebens auch nicht zu Gewalttäterinnen wird kein Wort. Lasst uns über die Männer reden, die armen, armen Männer. Sie können ja nicht anders!

Punkt 3: Der verunsicherte Mann.

Briken dazu:

„Auf der einen Seite gibt es Männer, die so tun, als wären sie unheimlich selbstbewusst, dahinter verbirgt sich oft eine narzisstische Abwehr von Angst und Unsicherheit. Auf der anderen Seite gibt es Männer, die extrem unsicher sind und das auch von sich wissen. Beide Extreme können sexuell übergriffiges oder gewalttätiges Verhalten begünstigen.“

Wir halten fest: Männer sind verunsichert, und sie wissen das über sich selbst oder auch nicht. Der Spiegel fragt nach:

„Der verunsicherte Mann ist mittlerweile ein Topos geworden. Die aktuelle Ausgabe der Zeit bringt einen Wutausbruch als Titelgeschichte: Männer insgesamt würden seit #Metoo diffamiert, es siege ein totalitärer Feminismus.“

Briken darauf:

„Ich erlebe viele Männer, die von der aktuellen Debatte überfordert sind. Sie fragen sich, was sie jetzt überhaupt noch sagen und tun dürfen. Ist es schon übergriffig, einer Frau in den Mantel zu helfen?“

Davon mal abgesehen, dass es bei #Metoo nicht um die Frage geht, einer Frau in den Mantel zu helfen: Was Briken sagt, ist genau das, was bei Diskussionen um alltägliche Übergriffigkeiten immer wieder zum Vorschein kommt. Die Losung lautet: unsichere Männer begehen Übergriffe. Und dem lässt sich nun hinzufügen: Wenn ihr Frauen die Übergriffe ansprecht, verunsichert uns das noch mehr, und wir müssen noch mehr Übergriffe begehen – und ihr Frauen seid schuld.

Damit kommen wir zum nächsten Topos der Debatte:

Punkt 4: der „Graubereich“.

Briken:

„Ich glaube auch, dass die extreme Polarisierung der Debatte in genau diesem Graubereich liegt, der sich eben nicht so einfach klären lässt. Wenn wir es mit einer schweren Vergewaltigung zu tun haben, braucht man nicht lange darüber zu debattieren. Jetzt handeln wir aber den Graubereich neu aus.“

Auch das ein immer wiederkehrendes Argument in der Debatte um Übergriffigkeiten: solange es Bereiche gibt, die nicht genau zu klären sind, braucht man über die ganze Sache an sich überhaupt nicht reden. #Metoo ist völlig sinnlos, das Hervorholen und Sichtbarmachen sexueller Übergriffige ist völlig wirkungslos, wozu diskutieren wir bitte über sexuelle Gewalt, wenn es doch „Graubereiche“ gibt, die man nicht klären kann? Besser der ganzen Debatte sofort ein Ende setzen. Wegen der Graubereiche. – Spannend wird es, wenn man sich die „Graubereiche“ anschaut. Denn dann wird klar, „Graubereich“ sind diese Fälle nicht, zumindest nicht für die, die sie als schafhaft und übergriffig erlebt haben. „Graubereich“ ist Tätersprache, ein Wort, das verschleiern soll, das ein bestimmtes Verhalten nicht okay war. „Graubereich“ ist die Nebelmaschine übergriffiger Männer, die „nicht sicher“ sind, ob ihr Verhalten „ok oder nicht ok war“ weil „alles so kompliziert ist“.

Bestimmte Phänomene werden nicht einmal in den Graubereich eingeordnet. Auch für Briken ist völlig klar: Pornographie hat nicht angetastet zu werden. Selbst wenn Pornographie daraus besteht, dass Bilder dominierender Männer und submissiver Frauen gezeichnet werden, dass Frauen geschlagen, gewürgt, getreten, vergewaltigt, beschimpft werden:

„Nach allem, was wir wissen, können zwar nicht alle, aber doch die meisten Jugendlichen zwischen dem, was dort zu sehen ist und dem, was man im Leben darf und was man nicht darf, unterscheiden. Außerdem werden die meisten gewalttätigen Pornos von den meisten schnell weggeklickt.“

Erstens die Frage, wie erklärt sich Briken dann die zunehmende Brutalisierung von Sex unter Teenagern, der Pornogeneration, wenn nicht mit der Nachahmung jener Bilder, wie erklärt er sich, dass potentiell demütigende, schmerzhafte, erniedrigende Sexualpraktiken wie brutaler Analverkehr, Cum Shot, Gangbang usw. mittlerweile Standard sind? Wo kommt das her, wenn nicht vom Porno? Wie war das noch gleich mit dem „unterscheiden was Film ist und was Realität“? JedeR weiß, dass Sexualität auch aus Konditionierung besteht. Wenn ich mir hundert Mal auf Bilder gedemütigter Frauen einen runtergeholt habe, kriege ich eben nur noch einen hoch, wenn ich im Bett meine Freundin demütige, weil Standardsex mir nichts mehr gibt. Briken als Psychiater sollte das wissen. Aber Porno ist halt die heilige Kuh:

„Ich will das nicht verharmlosen. Meine Doktorarbeit habe ich über Männer geschrieben, die Frauen oder Kinder im Zusammenhang mit sexuellen Handlungen getötet haben. Es kursieren im Internet Szenen von solchen Filmen – die wirken bis hin zu den Leichenflecken so realistisch, dass sie auf gefährdete Menschen natürlich einen malignen Sog ausüben können. Man darf nur nicht so naiv sein zu glauben, dass jeder, der so etwas sieht, das dann auch imitiert.“

Also alles halb so schlimm. Auch wenn wir es natürlich nicht verharmlosen wollen.

Und, natürlich, sechstens uns letztens:

Punkt 6: #Metoo macht Sex fade.

Immer dieses Reden. Grenzen akzeptieren. Müssen wir jetzt auch noch Verträge aufsetzen, oder was? Das nimmt einem doch völlig die Lust. Briken:

„Lustvolle Sexualität hat auch damit zu tun, dass man nicht alles besprechen muss. Nicht alles aushandeln muss. Nicht alles therapieren und beraten muss.“

Ja, nur, wenn nichts ausgehandelt wird, verbal oder nichtverbal, wessen Sexualität ist dann noch lustvoll, wenn es zu Grenzüberschreitungen kommt? Die des Täters ja wohl. Aber hey, wir haben ja heute gelernt, dass so ein bisschen Grenzüberschreitung und Aggression eh zur Sexualität (der männlichen, wohlgemerkt) dazugehört. „Ihr verderbt uns Männern den Sex“ – noch so ein wiedergekäuter Topoi.

Das waren sie, die sechs Argumente, die immer wieder kommen in der Debatte: Der „kranke“ Täter, Männer als die wahren Opfer ihrer Taten, verunsicherte Männer, der Graubereich, die heilige Kuh Porno und „ihr macht uns den Sex madig“.

Schon hundert Mal gehört, nur jetzt halt auch mal von einem Psychiater. Seine Aufgabe wäre es gewesen, dem Mainstream entgegenzuhalten und die von diesem nicht wahrgenommene Realität aufzuzeigen, ebenso eine Erklärung des von #metoo erfolgreich in den Blickpunkt gerückten übergriffigen männlichen Verhaltens zu liefern, oder Hinweise zu geben, wie dieses Verhalten, diese „rape culture“, in Deutschland und weltweit täglich genährt – und wie sie effektiv bekämpft werden könnte. Nichts dergleichen.

Der halt anscheinend auch nur ein Mann ist, der nicht über seine eigene Sexualität reflektiert, weil er keine Lust hat, sich zu fragen, welchen Anteil er selber an dieser rape culture hat – zum Beispiel mit seiner Verteidigung und Entproblematisierung von Pornookonsum.

© Anneli Borchert, April 2018

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