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09.09.2016

09.01.16  | Nachrichten

Lustige Märchen zur Krise in China

Wildes Spekulantentum an Chinas Börsen? Keineswegs! Die Kursstürze in China zeigen, dass der nächste Krisenschub schon in vollem Gange ist.

An der größten chinesischen Börse in Shanghai kam es in dieser Woche erneut zu einem Kurseinbruch von knapp sieben Prozent. Der Sturz der Aktienpreise wurde dabei nur aufgehalten von einem gesetzlich verfügten Automatismus, der den Börsenhandel aussetzt, wenn er in diesem Maße zusammenzubrechen droht. Dieser Mechanismus dürfte die Panik noch verstärkt haben, da jeder Aktienbesitzer befürchten musste, seine Anteile nicht vor dieser Hürde losschlagen zu können. Wie wird in der bürgerlichen Öffentlichkeit der Börseneinbruch erklärt?

Erklärungen 1

Da kommen zunächst die „Wirtschaftsexperten“ auf z.B. Deutschlandfunk zu Wort, die ihrer „Profession“ alle Ehre machen und erklären, dass es keine Erklärungen für den Einbruch geben könne, da die Abkühlung der chinesischen Konjunktur in der Wertpapierentwicklung schon längst eingepreist wäre. Folglich singen sie das alte Lied vom guten deutschen schaffenden und bösen ausländischen raffenden Kapital: Bei den Aktienmärkten in China handele es sich, im Gegensatz zu den deutschen, die viel mehr an die „reale Wirtschaft“ gekoppelt seien, um Zockerbuden für Spekulanten, welche wiederum für solche plötzlichen Kursausschläge verantwortlich seien.

In Ausgabe 20/2015 haben wir erläutert, dass es sich bei den Aktienpreisen um die „kapitalisierte“ Form der Erwartung auf die Ausschüttung der Dividende an die Aktienbesitzer, letztlich um eine „Anweisung auf künftige Anteile am Mehrwert“ handelt, auf die die Preise dieser Anweisungen berechnet sind. Die Dividende ist also ein Anteil am Profit des Unternehmens, dessen Umfang sich an dem des Aktienbesitzes berechnet und den es auf deutsch, wie auf chinesisch erst einmal in der „Realwirtschaft“ – wir lehnen diesen Begriff ab, da er die Existenz von so etwas, wie einer „fiktiven Wirtschaft“ nahelegt –, durch wirkliche Verwertung des Kapitals, zu produzieren gilt. Dass die deutschen Börsen die Funktion der realen Verwertung besser widerspiegeln würden als die chinesischen, ist also blanke Ideologie. Was ihre Apologeten sicher nicht davon abhalten wird, in dieselbe Bresche zu springen, wenn es zu Kursstürzen am DAX kommen wird.

Erklärungen 2

Im recht gut informierten, nichtsdestotrotz ideologisch ebenso bürgerlich verblendeten, Handelsblatt kommt ein „Kapitalmarkt-Stratege der Deutsche Bank-Anlagesparte [zu Wort und] erklärt den Kurssturz“. Dies tut er dann mit folgenden Worten:

„Wir messen China generell ein hohes Gewicht für die Wachstumsaussichten 2016 bei. Dabei haben wir unsere Erwartungen für das Chinesische (!) Wachstum bereits Ende 2015 auf 6 Prozent reduziert. An diesem bereits konservativen Ausblick halten wir fest. Allerdings sind die Volatilität und Stärke der Ausschläge wie bereits im Juli und August 2015 mehr als bemerkenswert. Das „China-Risiko“ in der Wahrnehmung und Reaktion des Marktes steigt anscheinend an. Jedoch sollten diese Ausschläge nicht eins-zu-eins in allgemein höhere Risiken umgedeutet werden. (…)

Kurzfristig erwarten wir, dass die chinesische Börse volatil und sehr stark von der Politik der Chinesischen Regierung abhängig bleiben wird.“

Wer die „Erklärung für den Kurssturz“ findet, bekommt ein Jahresabo der Kritischen Perspektive geschenkt. Der Erklärbär von der Deutschen Bank in seinem verkehrten Bewusstsein, was überhaupt Subjekt und was Folge der ökonomischen Entwicklung ist, hätte auch sagen können: „Ich habe keine Ahnung, mal sehen, wo die Reise hingeht.“ Doch bei ihm nehmen Märkte lieber irgend etwas wahr und gibt es ein Risiko namens China, dass steigen kann.

Erklärungen 3

Auf der Seite der Tagesschau findet sich dann die dritte Variante aus der Palette bürgerlicher Kaffeesatzstocherei: das Aufzählen irgendwelcher, zumeist rein äußerlicher, politischer oder auch wirtschaftlicher Ereignisse der letzten Zeit, die auf irgendeine Art und Weise etwas mit dem Preis der Aktien an der chinesischen Börse zu tun haben sollen, ob wohl doch Analysten etwas anderes analysiert hätten:

Grund für den Kurseinbruch sind unter anderem schlechte Konjunkturdaten. So deuteten Umfragen im Dezember auf einen starken Rückgang der Industrieaktivität hin. Analysten hatten eigentlich mit einer Beruhigung der Lage gerechnet.

Als weiteren Grund für den Börsenabsturz werden die zunehmenden Spannungen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran genannt. Nachdem sich der Konflikt zwischen den beiden Öl-Exportländer am Wochenende verschärft hatte, zog der Preis für Erdöl zu Wochenbeginn vorübergehend an. Mittlerweile gab er aber wieder nach, was Analysten wiederum als Folge der konjukturellen Situation Chinas sehen.“ (tagesschau.de)

Nun also doch die „Realwirtschaft“! Mal abgesehen von dem Öl-Argument – der Ölpreis ist so niedrig wie seit Jahrzehnten nicht und selbst nur ein Ausdruck der stockenden Verwertung – rechneten die Analysten der Kritischen Perspektive schon letzten Sommer mit einem massiven Einbruch der chinesischen Wirtschaft, da die Zeichen dafür mehr als deutlich standen. Doch auf uns hört ja keiner. Die Erklärung für den unmittelbaren Kurssturz in dieser Woche – auch wenn der Einbruch der Verwertung die allgemeine Ursache dafür ist – liefert die Erkenntnis, dass sie die stockende Verwertung zur allgemeinen Ursache hat, aber immer noch nicht.

Erklärungen 4

Seit Juli letzten Jahres hatten wir darauf aufmerksam gemacht, dass die Kurseinbrüche zu jener Zeit selbst bereits Anzeichen für die sich abzeichnende, Krise in China und anderen „Schwellenländern“ gewesen sind (u.a. Ausgabe 13/2015). Die chinesische Regierung reagierte damals, neben milliardenschweren, kreditgestützten Konjunkturprogrammen, mit zahlreichen restriktiven Maßnahmen bezüglich des Börsenhandels. So wurden unter anderem sog. Leerverkäufe, also die Spekulation mit fallenden Kursen, verboten sowie – und das scheint uns der ausschlaggebende Punkt für den derzeitigen Aktienpreissturz zu sein – ein sechsmonatiges Verbot von Aktienverkäufen gegenüber Großinvestoren verhängt, die mehr als 5% der Aktien an einem der Börsennotierten Unternehmen halten. Die sechs Monate sind genau in dieser Woche abgelaufen. Der Börseneinbruch in dieser Woche ist also aus massiven Verkäufen von Aktien dieser Großinvestoren zu erklären, die bis dato eben verboten waren. Die Hoffnung der chinesischen Regierung auf „Beruhigung“ der Turbulenzen – als ob es sich bei den Aktienmärkten tatsächlich um die Naturgewalten handeln würde, als die sie sich darstellen! – war vergebens. Die Verbote konnten nur eines erreichen: Einen Aufschub des Krisenausbruchs bei gleichzeitiger Steigerung seines zu erwartenden Ausmaßes.

Es zeigt sich, dass die Kapitalisten, sofern nicht von irgendeiner Regierung künstlich in ihren Handlungen als Agenten der Bewegung des Kapitals behindert, längst begonnen haben in den Krisenmodus umzuschalten: Während sie bei gelingender Verwertung um ihren Anteil am Profit ringen, versuchen sie sich nun in der Krise die Verluste gegenseitig in die Schuhe zu schieben. Jede und jeder verkauft Aktien, solange sie noch etwas wert sind und flüchtet aus der Sphäre des fiktiven Kapitals, die, wie oben erwähnt, in Form der Wertpapiere nur „kapitalisierte“ Form realer Verwertung, die längst ins Stocken geraten ist. Nebenbei erzählen die Pressesprecher des Kapitals irgendetwas von Volatilität, die nicht eins-zu-eins in höhere Risiken umgedeutet werden dürfe. Ein Schelm, wer böses (z.B. die eigene Vorteilsergatterung) dabei ahnt. Wie es weiter geht, verrät uns der Meister der Krisentheorie selbst:

Die Hauptzerstörung mit dem akutesten Charakter, fände statt mit Bezug auf das Kapital, soweit es Werteigenschaft besitzt, mit Bezug auf die Kapitalwerte. Der Teil des Kapitalwerts, der bloß in Form von Anweisungen auf künftige Anteile am Mehrwert, am Profit steht, in der Tat lauter Schuldscheine auf die Produktion unter verschiednen Formen, wird sofort entwertet mit dem Fall der Einnahmen, auf die er berechnet ist [heute z.B. Aktiendividenden; Anm. Red.]. Ein Teil des [baren Geldes] liegt brach, fungiert nicht als Kapital. Ein Teil der auf dem Markt befindlichen Waren kann seinen Zirkulations- und Reproduktionsprozess nur vollziehn durch ungeheure Kontraktion seiner Preise, also durch Entwertung des Kapitals, das er darstellt. Ebenso werden die Elemente des fixen Kapitals mehr oder minder entwertet.”

Und weiter:

“Es kommt hinzu, dass bestimmte, vorausgesetzte Preisverhältnisse den Reproduktionsprozess bedingen [z.B. Preise, die für die Produktionsmittel bezahlt werden müssen, Anm. Red.], dieser daher durch den allgemeinen Preisfall in Stockung und Verwirrung gerät. Diese Störung und Stockung paralysiert die mit der Entwicklung des Kapitals gleichzeitig gegebne, auf jenen vorausgesetzten Preisverhältnissen beruhende Funktion des Geldes als Zahlungsmittel [z.B. gegenseitige Verrechnung von Schulden zwischen den Unternehmen; Anm. Red.], unterbricht an hundert Stellen die Kette der [Zahlungsverpflichtungen] an bestimmten Terminen, wird noch verschärft durch das damit gegebne Zusammenbrechen des gleichzeitig mit dem Kapital entwickelten Kreditsystems und führt so zu heftigen akuten Krisen, plötzlichen gewaltsamen Entwertungen und wirklicher Stockung und Störung des Reproduktionsprozesses, und damit zu wirklicher Abnahme der Reproduktion.“ (K. Marx, Das Kapital, Bd. 3, S. 264.)

Der in China stattfindende Börsensturz ist also keineswegs das Werk finsterer Spekulanten und genausowenig ein chinesisches Phänomen. Es ist vielmehr ein Zeichen dafür, dass sich der globale Kapitalismus schon längst in seiner nächsten Krise befindet und nur eine Frage der Zeit, bis diese sich wirklich auf die Reproduktion niederschlägt, also massenweise Arbeiter*innen aufs Pflaster wirft und z.B. zu weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den um Verlustbegrenzung bemühten Staaten führt.

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